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Das Menuett.
Novelle von Hedda v. Schmid

Frau Egla von Selling wurde an das Telephon gebeten, vom Nachbargut aus hatte man in Tolsberg angeklingelt.

»Hier Frau von Selling!«

»Egmont Wölfert, gnädige Frau, ergebensten Gruß! Bin wieder mal bei meinen Verwandten in Groß-Ellern gestrandet. Darf ich Ihnen heute abend meine Aufwartung machen?« vernahm die bereits am Ende der Vierzig stehende, aber noch immer schöne Frau Egla eine ihr wohlbekannte Stimme.

»Gewiß dürfen Sie, Herr von Wölfert, herzlich willkommen! Und was bringen Sie mir diesmal?«

Frau Egla lächelte, als die Antwort ein wenig zaghaft laut wurde: »Eine Skizze, gnädige Frau, und eine alte Melodie.«

»Also auf Wiedersehen heute abend zum Tee!« Frau Egla hing, noch immer lächelnd, das Hörrohr an den Haken. Welch ein lieber Junge dieser Egmont Wölfert doch war! Würde der Himmel ihr einen Sohn beschert haben, so hätte er nach Frau Eglas Wunsch so aussehen müssen, wie Egmont, und auch so voller jugendlicher, himmelstürmender Begeisterung sein müssen, wie dieser angehende Diplomat, dem man eine glänzende Zukunft prophezeite. Nur Frau Egla fand, daß er seinen Beruf schlecht gewählt habe. Er besaß aber vieles, was nötig war, um auf der diplomatischen Laufbahn sein Glück zu machen: er war reich, trug einen alten Namen, war musikalisch, eine Zierde jedes Salons, zeichnete nicht übel und dichtete in drei Sprachen. Er hielt sich für einen Dilettanten und erstrebte dabei nichts sehnlicher, als ein echter schaffender Künstler zu werden. Seine ehrgeizige Mutter hatte ihn auf die diplomatische Laufbahn gedrängt. Er trat nur ungern mit seinen künstlerischen Talenten hervor, versteckte ängstlich seine Versuche auf literarischem Gebiet vor jedem fremden Auge – nur Frau Egla, der Gutsnachbarin, seiner Verwandten, las er seine Schöpfungen vor. Diese Frau, für die er eine schwärmerische Verehrung besaß, verstand ihn; ja, bisweilen bildete er sich ein, sie, die seine Mutter hätte sein können, zu lieben. Sie hatten einander hier und da geschrieben in den anderthalb Jahren, in welchen er der Gegend hier fern geblieben war. Nun zog es ihn nach seiner Ankunft hier sofort zu ihr. Seine Cousine in Groß-Ellern, deren Hochzeit nach zwei Wochen stattfinden sollte, neckte ihn damit, daß er, kaum angelangt, schon nach Tolsberg strebte.

»Aber bei Eva-Marie von Selling wirst du kein Glück machen,« sprach Herta von Ellern lachend, »die liebt Pferde mehr als Menschen – und Dichter, wie du einer bist, erst recht nicht.«

»Eva-Marie von Selling?« erwiderte Egmont unangenehm berührt. »Wer ist denn das? Ich höre den Namen zum erstenmal. Frau von Sellings Ehe war doch kinderlos – ist etwa plötzlich eine erwachsene Stieftochter aufgetaucht?«

»Eva-Marie ist die Schwägerin Frau Eglas, die seit dem vor einem Jahre erfolgten Tode ihres Vaters ganz in Tolsberg lebt,« belehrte nun Frau von Ellern ihren Neffen. »Sie ist meinem Geschmack nach ein zu großer Wildling, aber viele finden sie trotzdem entzückend.«

»Was ihr aber vollkommen gleichgültig ist,« warf Herta ein. »Ich nenne sie scherzhaft die ›Distel‹,weil sie oft so stachelig ist in ihren Reden. Ich weiß nicht – wir sind gleich alt, aber ich kann nicht recht warm werden mit ihr.«

»Ja, ihr seid eben zu verschieden,« versetzte Frau von Ellern und warf einen Blick mütterlichen Stolzes auf ihre hübsche, blonde, stattliche Tochter, die das Ideal einer vortrefflichen Hausfrau zu werden versprach. Dann wandte sie sich wieder an ihren Neffen: »Egmont, du könntest Hertas Polterabendüberraschungen ein wenig in die Hand nehmen, du machst doch Verse.«

Egmont errötete bis unter die Haarwurzeln. Das war nun das Ungelegenste, was ihm passieren konnte, wenn man sich mit der Bitte um Gelegenheitspoesien an ihn wandte. Diesen Zweig der Dichtkunst haßte er geradezu.

»Du könntest dich vielleicht mit Frau Egla in Verbindung setzen, sie hat immer solch hübsche, nette Einfälle,« fuhr Frau von Ellern, die schon halb mit ihren Gedanken bei der Ausstattungswäsche ihrer Herta war, leichthin und zerstreut fort.

»Jawohl, liebe Tante,« versicherte Egmont ergeben. Innerlich ärgerte er sich: »hübsche, nette Einfälle,« wie das nur klang! Als ob man einem talentvollen Backfisch ein billiges Lob spendete. Egmont wußte ja, daß die praktisch veranlagten Leute auf Groß-Ellern Frau Eglas künstlerischen Sinn weder verstanden, noch schätzten, aber durch den Ausspruch der Tante fühlte er sich doch im Namen der angebeteten Frau gekränkt.

Ein paar Stunden später saß er in der Bibliothek in Tolsberg Frau Egla gegenüber. O, wie es ihm wohltat, hier sein zu dürfen! Drüben in Groß-Ellern regierte immer die Prosa – außerdem machten sich jetzt dort die Vorbereitungen zur großartigen Hochzeitsfeier, welche alle Nachbarn und die gesamte Verwandtschaft des Brautpaares von nah und fern vereinigen sollte, durch die Unruhe, die solch einem Fest auf dem Lande ganz besonders vorherzugehen pflegt, schon mehr oder weniger unliebsam bemerkbar. Hier in Tolsberg aber atmete alles harmonische Ruhe.

Die Tür, welche vom Bibliothekzimmer, mit seinen gediegenen Möbeln aus der Biedermeierzeit, seinen kostbaren Stahlstichen und dem Reichtum an Büchern, die in Schränken und auf Regalen in Reih und Glied standen und gleichsam Zeugnis ablegten von der Geistes- und Geschmacksrichtung der Herrin des Hauses, auf die Gartenterrasse führte, stand offen. Die Treppe aus grauem Stein, die sich zum Blumenparterre hin abstufte, war von blühendem Rhododendrongebüsch umgeben. Man genoß eine weite Fernsicht bis über die niedrige Parkmauer hinweg, wo goldenes Getreide auf reifem Felde dem Schnitt entgegenwogte.

Lauschig und traulich war es im dunkelgetäfelten Gemach, und das siedende Wasser im silbernen Teekessel auf dem zierlichen Tischchen, das zwischen Frau Egla und ihrem Gast stand, sang und brodelte so anheimelnd, daß sich Egmont immer behaglicher in seinen Sessel zurücklehnte und sich ganz dem Zauber der Lage dieser entzückenden Zweisamkeit mit der Frau, der auch das schon leicht ergraute Haar nichts von ihrer, wie es schien, unvergänglichen Jugendlichkeit nahm. Egla von Selling würde wohl niemals alt werden; wer so voll feuriger Begeisterung ist für alles Schöne und Gute, für alle Kunst, welche Reichtum in das Leben solcher, die sie lieben, trägt, der kann und wird nie gleich andern früh ein Raub der Jahre werden.

Frau Egla schenkte ihrem Gegenüber die zweite Tasse Tee ein. Ein silbergraues Gewand fiel in losen Falten an ihrer Gestalt hernieder – jede ihrer Bewegungen war von einer vollendeten Grazie.

Sie hatte Egmonts Mutter gekannt und fragte sich: Wie hatte jene Frau, die nur der Welt und ihrer Eitelkeit gelebt, diesen Sohn haben können? Ein warmes, mütterliches Empfinden lag in dem Blick, mit dem sie ihn streifte; sie ahnte nicht, daß er, wie so manche in seinem Alter, auf dem Punkt war, sich in die viel Ältere zu verlieben.

»Nun bitte ich um Ihre Skizze,« sagte Frau Egla und zündete sich eine Zigarette an. Das Rauchen war, wie sie scherzend zu bemerken pflegte, eine ihrer größten Untugenden. Er las gut und erwärmte sich bei seinem Vortrag mehr und mehr. Als er geendet hatte, blickte er die Frau, die ihn mit keiner Silbe unterbrochen hatte, fragend an.

»Sehr, sehr hübsch,« sprach Frau Egla langsam – »aber –«

»Also doch ein Aber ...?«

»Das vielleicht nicht alle einwenden werden, lieber Freund. Veröffentlichen Sie die kleine Sache getrost; sie ist, wie gesagt, allerliebst erdacht.«

»Ihr Lob ist eigentlich ein versteckter Tadel, gnädige Frau,« entgegnete Egmont, »ich kann jedoch sehr gut die Wahrheit vertragen – ich weiß, daß mir das Zeug zu einem echten Künstler fehlt.«

»Ihnen fehlt bloß noch das richtige, tiefinnerliche Erleben,« sagte Frau Egla langsam, »Ihnen fehlen das Leid, das Bangen, ja die Verzweiflung des Schmerzes. Sie lassen die Gestalten in Ihrer Phantasie leiden und glücklich sein, aber man merkt, daß Sie gleichsam an fremden Empfindungen herumtasten. Geben Sie Ihren geistigen Kindern mehr von Ihrem eigenen Ich, und »Ihren Schöpfungen wird es weder an Tiefe noch an Lebenswahrheit fehlen. Man merkt, daß das Schicksal es mit Ihnen bisher gut gemeint hat, und daß Sie noch niemals geliebt haben; ich meine, echt – geliebt, ja vielleicht ohne Gegenliebe zu finden. Dann würden Sie die Herzensregungen anderer auch sicherer zu schildern wissen. Aber – ich bleibe dabei – Ihre Skizze ist trotzdem reizend, und es steckt doch ein Dichter in Ihnen. Sie müssen es nur auch selber glauben. Und nun – die alte Melodie – Sie wissen, ich mag es ebenso gern, wenn Sie in Tönen reden als in Worten.«

»Ich bin hier nur das Echo,« antwortete Egmont. Er war blaß geworden. Lieben sollte er, sagte die Frau da vor ihm, deren Nähe ihn heute mehr denn je berückte. Im selben Augenblick glaubte er sie zu lieben. Was machten die zwanzig Jahre, die sie vor ihm voraushatte?! Wenn er unermüdlich um sie werben würde, zart und freudig dabei, dann würde doch noch eines Tages das mütterliche Lächeln um ihren noch immer hübschen Mund verschwinden.

Er setzte sich an den Flügel und begann zu spielen: eine anmutige, langsame Tanzweise schwebte durch das Gemach. Zaghaft klangen die ersten Töne, dann schwollen sie zu einer seltenen Melodie an – etwas unsagbar Bestrickendes lag in der an sich so einfachen Melodie.

»Wunderbar,« rief Frau Egla, als Egmont geendet hatte, sich erhob und vom Flügel forttrat.

»Es ist nicht mein Verdienst, gnädige Frau, ich deutete es bereits an. Ich fand kürzlich ein sehr altes Notenblatt zwischen Papieren, die das Eigentum meiner Mutter gewesen; ganz zu unterst am Boden der mit verschiedenen Hölzern eingelegten Kassette lag das vergilbte Blatt. Hier, gnädige Frau, ich habe den interessanten Fund mitgebracht.«

Egmont ließ sich wieder auf den Sessel am Teetisch nieder und überreichte Frau Egla ein graues Notenblatt, dessen Schrift altmodisch und stellenweise schon verwischt war. Unten rechts stand in geschnörkelter Handschrift: »Odette, Marquise de Livron.«

»Sehr, sehr interessant,« sagte Frau Egla und beugte sich über das Papier. »Sehen Sie doch, Herr von Wölfert, die Schriftzeichen unter dem Namen sind leider nicht mehr zu entziffern.«

Sein junger schwarzer Kopf und der ergraute der Frau beugten sich eben zu gleicher Zeit über das pergamentartige Papier – da erscholl eine helle Stimme in erstauntem Tonfall: »Ah – Egla – ich wußte nicht, daß du Besuch hast.«

Im Rahmen der Tür stand eine schlanke Gestalt im Reitkleid. Egmont wandte sich jäh um. Ein schmales, schönes, hochmütiges Gesicht schaute ihm entgegen, ein Gesicht, das so wunderbar fesselnd war, obgleich es eben jedes liebenswürdigen Ausdrucks entbehrte, daß Egmont es wie gebannt anstarrte und ganz mechanisch seine Verbeugung machte, als die Hausherrin ihn ihrer Schwägerin vorstellte.

Eva-Marie sah eigentlich wie ein wunderhübscher Bube aus. Sie nahm ihre Reitkappe aus schwarzem Samt von dem kurzen, dunklen Gelock und ließ sich in einen Sessel fallen. Gleichgültig glitt ihr Blick über Egmont hin.

Frau Egla kannte ihren jungen Freund zu gut, um nicht zu ahnen, was eben in ihm vorging: sie hatte oft mit angesehen, daß Eva-Maries Erscheinung einen starken Eindruck hervorrief, sich aber dabei keine Sorgen gemacht – sie kannte die herbe Natur ihrer jungen Schwägerin, die jedem Flirt abhold war, so daß die Herrenwelt, durch ihr oft unliebenswürdiges Wesen abgestoßen, sie schließlich langweilig fand. Aber diesmal stieg doch ein leises Bangen in Frau Egla auf – zu unverhohlen las sie in Egmonts Augen die grenzenlose Bewunderung, die in ihm für das junge, schöne Menschenkind bereits bei dieser ersten Begegnung aufflammte. Vielleicht aber war es ein gütiges Geschick, das Egmont ein ›Erleben‹ bescherte, das die schlummernden Stimmen in ihm, durch die er zum echten Dichter werden konnte, wachrief, sagte sich Frau Egla und wandte sich dann mit der Frage an das junge Mädchen: »Du warst allein ausgeritten?«

»Ich traf Robert von Hellwig am Kreuzwege bei den Linden,« erwiderte Eva-Marie nachlässig und spielte mit ihrer Reitgerte.

Plötzlich, um einen Gesprächsstoff verlegen, fiel Egmont, als er den Namen des Verlobten seiner Cousine Herta vernahm, ein, daß seine Tante von ihm eine Unterstützung bei den Polterabendaufführungen erwartete. Es mußte entzückend sein, mit Eva-Marie zusammen mitzuwirken – ja, die Gelegenheitsverse dünkten ihm bei dieser Aussicht nicht mehr als unüberwindlich unsympathisch. Allein Eva-Marie erklärte schroff, sie stehe grundsätzlich in keinem lebenden Bild und spiele ebensowenig Liebhabertheater.

Frau Egla meinte: »Ich hatte gedacht, daß du Herta Ellern den Myrtenkranz überreichen würdest.«

Da lachte Eva-Marie beinahe schrill auf: »Nein, Egla, das kannst du mir nicht zumuten; oh, ich hasse dergleichen Sentimentalitäten.« Sie stand auf, trat an den Flügel und begann nach den alten, vergilbten Noten zu spielen, die Egmont wieder auf den Notenständer gestellt hatte.

Die beiden anderen am Teetisch sagten kein Wort; ja Egmont hielt unwillkürlich den Atem an, aus Furcht, Eva-Marie könnte plötzlich mit ebensolch einem schrillen Mißton, wie sie eben gelacht, ihr Spiel abbrechen. Zuerst sang nur die einfache Menuettmelodie, dann fing Eva-Marie an, über das Thema zu phantasieren: die schmeichelnde Tanzweise schwebte voll und rauschend durch das Gemach, und dazwischen glaubte man das Rascheln der Seidenschleppen, die über das Parkett eines Schlosses glitten, in dem Ball war, zu vernehmen. Man meinte die zierlichen Verbeugungen der Herren in ihren gepuderten Perücken zu sehen, das Lächeln auf den Lippen schöner Frauen, das Glühen der Blicke, die einander suchten und fanden.

Ein Schauer rann durch Egmonts Seele. – Das war freie, war göttliche Kunst, so gleichsam tändelnd – Gestalten, ganze Gemälde in Tönen aufzubauen – wo man weiter nichts dazu besaß als ein armseliges Notenblatt mit halbverwischten Schriftzeichen.

Als Eva-Marie ihr Spiel mit einem leise verklingenden Akkord abbrach, sprang Egmont stürmisch auf: »Gnädiges Fräulein,« rief er, »wollen Sie das Wundervolle, das Sie uns soeben gespendet haben, nicht auf Notenblättern festhalten?«

»Nein« – gab Eva-Marie verwundert zurück und abweisend, »wie käme ich dazu. Ich spiele bloß für mich und denke nicht an andere, ich habe auch schon jetzt vergessen, was ich eben gespielt habe – es waren nur Eingebungen des Augenblicks. – Du entschuldigst mich wohl, Egla,« wandte sie sich dann an ihre Schwägerin, »ich bin müde vom Ritt.« Ein kurzes Kopfnicken galt Egmont, dann schloß sich die Tür hinter der schlanken Erscheinung im knappen, dunklen Reitgewand.

»Sie ist unter der Obhut eines sehr nachsichtigen Vaters aufgewachsen,« sprach Frau Egla gleichsam entschuldigend, »und ich fürchte, ich bin nicht geeignet, die Neunzehnjährige zu erziehen; ich studiere meine kleine Schwägerin, aber ich rüge nicht ihre Fehler. Es würde bei ihrem Charakter auch nur Widerspruch hervorrufen. Das Leben selber muß sie erziehen.«

* * *

Eine seltsam schwüle Luft lag über Groß-Ellern. Herta, die sonst so strahlende Braut, hatte ein paar Tage vor ihrer Hochzeit verweinte Augen: zweimal bereits hatte ihr Verlobter sein Nichterscheinen durch ein eiliges Briefchen entschuldigt. Aber als Frau von Ellern eine unzufriedene Bemerkung über ihren Schwiegersohn machte, da wurde die gelassene Herta heftig: »Robert habe eben kurz vor der Hochzeit viel zu tun, und Mama brauche doch nicht gleich alles so aufzubauschen, und sie ließe überhaupt kein Wort über Robert sagen.«

Am Tage vor dem Polterabend kam Egmont nach Tolsberg, um mit Frau Egla noch einiges über die Aufführungen zu besprechen.

So oft er dort gewesen war, keinmal hatte er Eva-Marie getroffen; seine Blicke fragten nach ihr, ohne daß er es selber ahnte – aber seine Lippen schwiegen. Dann warf jedoch Frau Elga eine beiläufige Bemerkung über das junge Mädchen hin und redete wohl noch einiges Weitere über Eva-Marie, so daß Egmont sie aus diesen Schilderungen seiner Gönnerin fast ebensogut zu kennen meinte, als hätte er sie wochenlang täglich gesehen und gesprochen. Und ohne daß er sich selbst darüber klar wurde, litt er um Eva-Marie und sehnte sich nach ihr – warum kam sie niemals zum Vorschein, wenn er sich einstellte? Voller Ungeduld erwartete er den Polterabend – in Groß-Ellern inmitten des Festes würde er Gelegenheit finden, sich ihr zu nähern. Vor kurzer Zeit noch hatte er wie ein Knabe unsicher in seinen Empfindungen geschwankt, seine Seele hatte nach einem Wesen gesucht, das liebenswert war, mit dem er sein reiches, ideales Fühlen vereinigen konnte; auf dem Punkt war er gewesen, für die reifere Frau, die er so hoch schätzte, mehr als bloße Verehrung zu empfinden – da, in einem entscheidenden Augenblick seines Schicksals, war Eva-Marie in ihrer reizvollen, herben Jugendschönheit in sein Leben getreten. Würde sie aus letzterem scheiden – ebenso entschlüpfen, wie das Menuett, das sie vergessen, nachdem sie es in zauberisch schmeichelnder Klangfülle den Tasten entlockt? Unzählige Male hatte Egmont die einfache Melodie gespielt, die Variationen, die Eva-Marie so leicht gefunden, sangen und klangen wundersam in seiner Seele nach – aber er vermochte sie nicht festzuhalten, nicht wiederzugeben.

Als er nun heute in Tolsberg eintraf, wurde gerade Eva-Maries schweißbedeckter Rappe um den Rasenplatz geführt, und als er ins Hans trat, meldete ihm der Diener, daß die gnädige Frau auf einem Spaziergange sei, aber gleich zurückkehren müsse – sie habe Herrn von Wölfert bitten lassen, sie in der Bibliothek zu erwarten.

Egmont schritt den ihm wohlbekannten Weg durch die Zimmerflucht des großen Hauses. Plötzlich stockte sein Fuß: die Klänge des Menuetts drangen an sein Ohr – so gespielt wie damals, als er Eva-Marie zum ersten und letzten Male gesehen, so und doch anders – ein Unterton heißer, verzweiflungsvoller Leidenschaft lag in den Klängen, so als wüßten jene, welche die zierlichen Touren und Verschlingungen des Tanzes ausführten, daß es das letzte Fest sei, das sie feiern dürften, als müßten alle hellen, festlichen Kerzen im nächsten Augenblick verlöschen, als käme ein jähes Ende voller Todesgrauen und Todesnacht, wie es so manchen frohlebigen Tänzern und Tänzerinnen in Frankreich zur Zeit der Königin Marie-Antoinette beschieden gewesen.

Genau so wie Egmont es vorausgeahnt hatte, brach das Spiel ab – mit einem hohlen Akkord, so als zersplittere ein Gefäß, und wie das Rollen und Klirren der Splitter lief es noch einmal über die Tasten. Dann vernahm Egmont, daß der Klaviersessel heftig zur Seite gerückt wurde: im nächsten Moment hatte der unfreiwillige Lauscher die dunkle Samtportiere zurückgeschlagen und stand vor Eva-Marie, die blaß und sichtlich erschrocken durch sein plötzliches Erscheinen ihm gegenübertrat.

»Sie sind es also, Herr von Wölfert, im ersten Augenblick erkannte ich Sie nicht,« sprach sie; ihm schien, als läge gleichsam ein erleichtertes Aufatmen im Ton ihrer Stimme. Hatte sie geglaubt, jemand anders so unerwartet vor sich zu sehen? Ihr Gesicht war wie in Glut getaucht.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz,« fuhr sie verwirrt fort. Ihr Wesen war heute vollkommen anders wie damals, als er sie zuerst in genau derselben Umgebung erblickt. Doch auch heute trug sie das schwarze, knappe Reitkleid; ihr Haar war vom Ritt verweht, ein kleiner Tannenzweig steckte zwischen zwei Knöpfen ihres Jaketts. Sie zerpflückte ihn in nervösem Spiel, während sie, tief in einen der großen, lederüberzogenen Bibliotheksessel geschmiegt, Egmont gegenübersaß.

»Meine Schwägerin hat mir viel von Ihnen erzählt, Herr von Wölfert, vor allem, daß Sie ein Dichter sind,« begann sie.

»Meine Cousine Herta behauptet, daß diese Eigenschaft an mir Ihr Mißfallen erregen dürfte, gnädiges Fräulein,« bemerkte er lächelnd und dabei ganz versunken in ihren so lange entbehrten Anblick.

»Ich meine,« erwiderte sie, »das Leben, wie es in Wirklichkeit ist, könne auch kein noch so begnadeter Dichter annähernd wahrheitsgetreu schildern, es bleibt doch nur anempfunden – ich aber höre am liebsten wahre Geschichten. Was ist alles Ersonnene, und sei es auch noch so tief erdacht und durchdacht, gegen das, was man selber erlebt! Wenn man nur vieles ebenso schnell vergessen könnte wie die Märchen, die uns ein Buch erzählt!«

»Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen, gnädiges Fräulein? Nehmen Sie an, daß es eine wahre ist.«

»Bitte, aber es darf nichts Lustiges sein. Ich mag heute keine fröhlichen Geschichten hören.«

Sie sprach mit einer so seltsamen Betonung, daß Egmont befremdet war. Frau Egla hatte recht, dieses junge, entzückende Geschöpf gab seiner Umgebung beständig Rätsel auf. Aber in dem Sprunghaften ihres Wesens lag trotzdem ein bestrickender Reiz.

»Wie heißt Ihre Geschichte, Herr von Wölfert?«

»Das Menuett. Sie erinnern sich doch des Notenblatts mit dem nur noch schwer leserlichen Namenszug in einer Ecke, gnädiges Fräulein? Odette, Marquise de Livron, hieß die Besitzerin jenes Blattes; sie war die Urgroßmutter meiner Mutter, deren Familie noch heute in Frankreich begütert ist. In der Bretagne erhebt sich noch jetzt Schloß Livron am Ufer eines kleinen, munteren Flüßchens, der Livronne, das an dem alten, wundervoll romantischen schattigen Park vorüberströmt. Kurz vor dem Ausbruch der französischen Revolution bewohnte dieses Schloß eine junge Witwe, Odette, Marquise de Livron. Auf einem Fest in der Nachbarschaft lernte sie den jungen Grafen Belfort kennen. Es war ein Gartenfest, bei dem die Wasserkünste im Park spielten, die Grotten dort in magischer Beleuchtung schimmerten. Im Schäferkostüm tanzte man anfangs auf dem Rasen, dann auf dem Parkett des Gartensaals, bis das Morgenrot emporstieg und die Hähne ihren Schrei mit den Klängen der Tanzweisen vermischten. Da war vor allem ein Menuett, das ein alter, blinder Musiker geschrieben hatte – er geigte mit im Orchester, das der Schloßherr zum Tanz aufspielen ließ. Da trat die schöne Marquise de Livron an den Alten heran und bat ihn, ihr die Melodie des Menuettes in die Feder zu diktieren, sie wolle das Notenblatt haben zum Andenken an das heutige Fest. Zu Hause versuchte sie, auf ihrem Spinett und auf ihrer Laute die Melodie nachzuspielen, und wenn sie einsam und verträumt durch die Laubgänge ihres Parkes schritt, dann sang sie mit kosender, sehnsüchtiger Stimme die Tanzweise, und ihr ganzes Herz strebte dann zu Etienne Belfort, dem jungen Kavalier vom Hofe Ludwigs XVI., der die ganze Ballnacht hindurch mit ihr getanzt hatte. Und sie wartete von Tag zu Tage ungeduldiger auf sein Erscheinen in Schloß Livron. Er kam, aber nicht, wie sie gehofft, als Bewerber um ihre Hand, sondern als Flüchtling ... Man sei ihm auf der Spur, und er bäte um Schutz und Hilfe zur weiteren Flucht. – O, ihr Leben hätte Odette Livron für den Mann, den sie liebte, ohne sich auch nur eine Sekunde zu besinnen, dahingegeben. Sie zauderte auch dann nicht, ihn zu retten, als sie aus seinem Munde erfuhr, daß er in England eine Braut habe; dorthin wollte er flüchten. Sie, Odette Livron, ähnele der Dame seines Herzens wie eine Zwillingsschwester der anderen, darum sei er zu ihr gekommen, um Hilfe zu erbitten. Wer so aussähe wie seine holde Braut, der könne letzterer auch nicht an Edelsinn und Hochherzigkeit nachstehen. Um ihn herum aber lauere, auch unter seinen Freunden, Verrat. Da bewies die junge blonde Marquise die Stärke ihrer Liebe: mit Verachtung ihrer persönlichen Sicherheit verhalf sie dem Grafen zur Flucht. In den Kleidern eines Bretagner Bauern fuhr er auf schnellem Kahn auf der Livronne dahin und gelangte auf sicheres Gebiet und entwich glücklich nach England. Nun aber nahten sich alsbald die Schergen, um die Marquise zu verhaften. Durch Schwatzhaftigkeit ihrer Dienerschaft war es ruchbar geworden, daß sie dem königstreuen Grafen zur Flucht verholfen hatte. Da zog die junge Frau sich in ihr Lieblingsgemach im Schloß, ein Erkerzimmer, zurück, befahl, Bretter und Latten herbeizubringen und eine Wand, die das Zimmer teilen sollte, aufzurichten. Die würde dann mit dem gleichen Stoff, der die übrigen Zimmerwände verkleidete, bespannt werden. Selber griff die Marquise zum Hammer, um mit Beihilfe von ein paar getreuen Dienern das seltsame Werk, das ihr doch keinen genügenden Schutz vor ihren Häschern bieten konnte, zu fördern. Doch noch bevor das Versteck fertig war, erschienen die Verfolger des Grafen Belfort bereits im Schloß, nahmen sich nicht die Zeit, die halb errichtete Wand niederzureißen, hinter der sich die unglückliche Frau verborgen hielt, sondern zogen ihr Opfer einfach über die Bretter hinüber. Man sagt, Odette Livron habe auf dem Wege zur Guillotine immer nur eine alte Menuettmelodie lächelnd vor sich hin gesummt. Sie spürte die Schrecken des Todes nicht, ihr Geist war durch die Verzweiflung ihrer Seele umnachtet, sie wandelte aber trotzdem geistig in heiteren Gefilden und glaubte, daß Graf Etienne sie zum Tanz führe, als sie das Schafott beschritt. Jene Bretterwand in Livron, dem Schloß meiner Ahnen mütterlicherseits, steht noch heute, und durch einen Zufall hat sich die Menuettmelodie des blinden Musikers ebenfalls bis heute erhalten, nun –«

Egmont hielt erschrocken inne ... Was war denn das? Eva-Marie hatte ihre linke Hand an ihre Augen gepreßt und weinte ...

Mit zwei Schritten war Egmont neben ihr: »Gnädiges Fräulein! Um Gottes willen, was ist Ihnen –?«

»Bitte, fragen Sie mich nicht, es ist nichts; bitte, bitte, lassen Sie mich,« stieß sie, aufspringend, fassungslos hervor. Als Egmont sie in ihrer hilflosen Haltung erblickte, kam es plötzlich wie ein Rausch der Kühnheit über ihn: er schlang seinen Arm um die Weinende, die Miene machte, das Zimmer zu verlassen, und flüsterte ihr, selber halb besinnungslos vor Erregung, zu, wie grenzenlos lieb er sie habe, von jenem Tage an, wo er sie zum erstenmal hier erblickt, daß er sie auf Händen tragen würde ihr lebelang; ob sie ihm denn nicht ein wenig vertrauen, ihn lieben lernen könne? Ob sie seine Frau werden wolle?

»Ja,« kam es kaum hörbar von ihren Lippen. Sie schluchzte heftig. Er war so selig, daß er nur das leise Ja vernahm, ihr die Tränen von den Augen küßte und weiter nicht nach der Ursache ihres plötzlichen Weinens forschte. Im selben Augenblick kehrte auch Frau Egla, über die Gartenterrasse kommend, von ihrem Spaziergang zurück. Es war eine sehr merkwürdige Verlobung: die Braut weinte noch immer leise, erklärte aber ihrer Schwägerin, die ungläubig und mehr oder weniger erschrocken mit dem Kopf schüttelte, daß sie entschlossen sei, Egmonts Gattin zu werden.

»Kinder, nichts Lieberes hätte ich mir wünschen können,« sagte Frau Egla, »aber es ist so überraschend, so, so ...« Sie stockte und schwieg ... So beängstigend plötzlich, und dazu diese Tränen bei Eva-Marie, die sonst fast nie weint ... hatte sie sagen wollen.

Egmont küßte ihr die Hand und versicherte, das Glück käme doch meist überraschend, und gerade dann sei es am herrlichsten ...

Als glücklicher Bräutigam ritt Egmont nach Groß-Ellern zurück. Dort saß man gerade bei Tische. Hertas Verlobter, eine rassige Reitergestalt, ein Gutsbesitzer aus der nahen Umgegend, wechselte die Farbe, als er Egmont gratulierte. Herta fiel dem Vetter um den Hals. Frau von Ellern aber konnte sich erst nach einer ganzen Weile von ihrem Erstaunen über diese Verlobung, die »wie ein Blitz aus heiterem Himmel« erfolgt sei, erholen.

»Wie Feuer und Wasser passen die beiden zusammen,« sagte sie nachher ihrem Gatten, und als an Hertas Hochzeitstage Eva-Marie blaß und mit einem eigentümlich verschlossenen Gesichtsausdruck die Glückwünsche der Hochzeitsgesellschaft entgegennahm, da wurde es auch bei Frau Egla zur festen Überzeugung, daß bei diesem unerwarteten Entschluß ihrer Schwägerin zwingende Momente, von denen sie keine Kenntnis besaß, ja, die sie nicht einmal zu ahnen imstande war, mitgespielt haben mußten.

»Eva-Marie wird mich lieben, ich werde unermüdlich um ihre Neigung werben,« sagte sich Egmont immer wieder zum Trost, wenn er, den sein Beruf längst wieder der ländlichen Umgebung entführt hatte, die knappen, kühlen Briefchen seiner Braut empfing. Kein Wort von Liebe stand zwischen den Zeilen.

Und als Egmont sich endlich einmal ein Herz faßte und Frau Egla seine Zweifel, seine Seelennot darlegte, da schrieb sie ihm in ihrer gütigen, mild verstehenden Weise, sie habe geahnt, daß es so oder ähnlich habe kommen müssen; man dürfe aber mit Eva-Marie nicht reden, das hieße die Sache noch verschlimmern – sie müsse sich erst auf sich selber besinnen.

Trotz dieser wenig tröstlichen Nachricht hoffte Egmont noch immer, daß seine Braut mit der Zeit wärmer für ihn empfinden würde. Er glaubte doch in ihr eine gleichgesinnte Seele, was seine künstlerischen Interessen anbetraf, gefunden zu haben; wer so musikalisch veranlagt war wie Eva-Marie, mußte doch auch alles andere Schöne und Begeisternde in der Kunst lieben. Allein es war, als umpanzere sie ihr Herz; keinen einzigen tieferen Einblick in ihr Seelenleben gestattete sie ihrem Verlobten, keine Taste rührte sie an, seit sie Egmonts Braut war.

Dieser war zu gerecht, um ihr Heuchelei vorzuwerfen; sie hatte ihm ja nur gesagt, daß sie seine Frau werden wolle, Nicht aber, daß sie ihn liebe, und er, im Übermaß seines Glückes, hatte der Überzeugung gelebt, daß die Liebe sich bei ihr einstellen müßte, sobald er sie mit zartester Rücksicht umwerben würde. Es kamen nun Stunden für ihn, in welchen er ganz mutlos war; er litt unter diesem unerträglichen Zwiespalt.

An einem trüben Wintertag war es, da er zum ersten Male einen längeren Brief von Eva-Marie bekam; als er ihn öffnete, sagte er sich sogleich, daß er jetzt die Entscheidung in Händen hielt. Sein Verlobungsring fiel ihm leise klirrend wie eine gesprengte Fessel aus dem Umschlag des Briefes entgegen ...

Sie könne nicht mit einer Lüge eine Ehe eingehen, schrieb Eva-Marie. Sie habe unter dem Zwang verhängnisvoller Augenblicke gehandelt, als sie ihm so schnell ihr Jawort gegeben. Nun, wo der Tag der Hochzeit immer näher rücke, müsse sie ihm Offenheit schenken, das sei sie ihm und auch sich selber schuldig; sie täte es, auch auf die Gefahr hin, seine Verachtung zu ernten. Damals, als er in der Bibliothek in Tolsberg sie allein vorgefunden, habe sie kurz vorher Robert Hellwig im Walde getroffen, und was sie während der letzten Zeit schon dumpf geahnt, sei ihr bei jenem gemeinschaftlichen Ritt zur Gewißheit geworden, daß Hertas Verlobter sie liebe ... Und sie selber hatte gefühlt daß der Mann, der am Vorabende seiner Hochzeit stand, ihr nicht gleichgültig sei. Jetzt könne sie allerdings jenes Gefühl nicht mehr verstehen, aber damals sei es so übermächtig in ihr gewesen, daß es sie wie eine Verzweiflung überkommen sei. Gequält, von unklaren Vorstellungen gepeinigt, wäre sie damals heimgekehrt, zum Glück hatte sie noch einem offenen Liebesgeständnis Hellwigs vorzubeugen verstanden. Und dann, als widerstreitende Empfindungen an ihrer Seele gerüttelt und gezerrt, habe er, Egmont, ihr die Geschichte der Marquise de Livron erzählt, und dann gleich darauf bei seiner unerwarteten, stürmischen Liebeswerbung wäre in ihr der Entschluß aufgeblitzt, eine Wand zwischen sich und Hertas Verlobten aufzurichten – sie selber mußte für Hellwig verloren sein, dann würde er am ehesten zur Besinnung kommen. Sie habe geglaubt, durch ihren raschen Schritt ihr Schicksal in eine ruhige Bahn zu lenken, aber sie könne ihn nicht betrügen, sie liebe ihn nicht, sie wolle überhaupt nicht heiraten, sie würde ihn jedenfalls nur tief unglücklich machen. Aus diesem Grunde löse sie ihre Verlobung mit ihm und bäte ihn, ihr nicht zu zürnen. Sie achte ihn so hoch wie keinen Zweiten, er möge ihr ein Zeichen senden, daß er sie nicht verachte, weil sie mit der Ruhe seines Herzens gespielt. – Damit schloß der Brief.

Egmont lächelte bitter. Freundschaft, Achtung – die alten Schlagworte bei solchen Anlässen. Nun, wo Eva-Marie aus seinem Leben schied, fühlte er so recht, was sie ihm hätte sein können. Da war nun also das Leid, das Frau Egla für ihn gefürchtet hatte. Vielleicht hatte sie von Anfang an diesen Abschluß seiner Verlobung vorausgeahnt.

Und ein Zeichen seiner Verzeihung erbat sich Eva-Marie von ihm ... Wie grausam doch Frauen sind, in der Voraussetzung, man dürfe ihnen gar nicht zürnen! Wie viel leichter ist völliges Schweigen in solch einem Fall ... Aber gleichviel, er wollte ihre letzte Bitte erfüllen. Er öffnete die Kassette, worin er Eva-Maries spärliche Zuschriften aufbewahrte, legte den letzten Brief zu oberst und entnahm dann dem Boden des Kästchens das alte, vergilbte Notenblatt. Mit festen Schriftzügen, denen man die Aufregung, die in seiner Seele tobte, nicht anmerkte, setzte er einen im Fluge improvisierten Text zu der Menuettmelodie unter die Notenzeilen:

»Wie auf einer Melodienleiter
Steigt und fällt des Menschen Glück,
Doch ein leises Schwingen webt stets weiter,
Auch im Schmerze bleibt ein Glanz zurück.«

Die Worte dünkten ihm schal, aber er fand eben nichts anderes; er sandte das Notenblatt und den Ring, der ihn an Eva-Marie nur eine so kurze Spanne Zeit gebunden, nach Tolsberg und stand voller Gram hinter einem Abschnitt seines Lebens, der ihm, so wenig er ihm an Glück geboten, eben doch als ein unwiederbringlich verlorener Born der höchsten irdischen. Glückseligkeit erschien.

* * *

Egmont Wölfert hatte seine Diplomatenlaufbahn aufgegeben und war auf unbestimmte Zeit auf Reisen gegangen. Aus einem fernen Weltteil gelangte ab und zu eine Nachricht von ihm zu seinen Verwandten nach Groß-Ellern und auch – noch seltener aber – zu Frau Egla nach Tolsberg.

Eva-Marie war noch immer unvermählt. Drei Jahre waren seit ihrer Entlobung mit Egmont verstrichen. Sie hatte einen Johanniterkursus durchgemacht und äußerte zum unverhohlenen Entsetzen Frau von Ellers neuerdings die Absicht, in die deutschen Kolonien nach Südwestafrika als Krankenpflegerin zu gehen.

»Wenn sie dem armen Jungen, dem Egmont, nicht aus Laune einen Korb gegeben hätte, so könnte sie jetzt auch schon solch ein Prachtkindchen haben wie meine Herta. Sieht man das Glück in solch einer jungen Ehe, dann lacht einem förmlich das Herz,« sagte Frau von Ellern.

Ja, auch Eva-Marie hatte Gelegenheit gehabt, sich davon zu überzeugen, daß Robert Hellwig ein glücklicher Gatte und Vater war. Hatte es denn überhaupt jenes übereilten Schrittes ihrerseits bedurft, um ihn von dem flackernden Strohfeuer der vorübergehenden Leidenschaft für sie zu heilen? Hatte sie nicht damals zu sehr Gespenster gesehen?! So viel Leid hatte sie über Egmont gebracht! Hatte ihn aus der Heimat vertrieben.

Kurz vor dem Weihnachtsfest erschien Egmonts erstes Buch. »Lebensmärchen« hieß es. Auf Groß-Ellern bezeichnete man das Werk als »krauses Zeug«, Frau Egla aber legte den Band ihrer Schwägerin auf den Weihnachtstisch.

Eva-Marie verlor kein Wort über den Inhalt, jedoch sie ging in dieser Weihnachtszeit seltsam verträumt umher, und eines Abends vernahm Frau Egla zu ihrer freudigen Überraschung die alte Menuettmelodie. Tastend suchte Eva-Marie die Töne zusammen, so als fürchte sie, vor jedem Griff eine falsche Note anzuschlagen. Es war, als wandere sie auf der Suche nach einem alten Wege, den man, weil er zu sehr in Vergessenheit geraten, nicht alsogleich wiederfindet; auch steht er so sehr voller Unkraut und Gestrüpp, das erst hinweggeschafft werden muß ... Allmählich erkennt man dann seine eigenen, vom Winde halb verwehten Fußtapfen – und dann jubeln die Klänge jedesmal in wehmütig leiser Freude ...

»Aus Egmont Wölfert ist doch ein echter Dichter geworden, ich habe es ihm immer prophezeit,« wagte Frau Egla am nächsten Tage zu bemerken. Eva-Marie widersprach nicht, und damit war der Bann endlich gebrochen; bisher hatte sie sich gescheut, seinen Namen zu nennen.

Immer häufiger erklang nun in der Tolsberger Bibliothek die alte Weise, nach der die schöne Odette de Livron sich im Tanz gewiegt.

Frühling und Sommer gingen dahin – im Herbst siedelte Frau v. Ellern eine Zeitlang zu ihren Kindern über, bei Hellwigs wurde das zweite Kleine erwartet. Herr von Ellern war es sehr recht, während seiner Strohwitwerschaft einen Logiergast begrüßen zu können.

Und eines Tages wurde Frau Egla von Selling an das Telephon gerufen, aus Groß-Ellern war angeklingelt worden.

»Ich bin heute abend bei Ihnen, gnädige Frau, wenn es Ihnen so recht ist,« vernahm Frau Egla eine lange nicht gehörte, aber wohlbekannte Stimme.

»Herzlich willkommen!« rief sie erfreut zurück. – –

Durch die ihm altvertraute Zimmerflucht schritt ein paar Stunden später Egmont Wölfert in die Bibliothek, in der Frau Egla am liebsten ihre Gäste empfing.

Alles – alles erschien ihm in Tolsberg unverändert zu sein, nur er selber war verwandelt. Die Fremde, das Leid, das er um die verlorene Braut durchlitten, hatten aus ihm einen anderen gemacht, einen fertigen, innerlich gefestigten Menschen, der in der Freude am künstlerischen Schaffen ein ruhiges Glück gefunden hatte. Er war davon überzeugt, Eva-Marie nicht hier anzutreffen, sonst wäre er schwerlich so selbstverständlich, so aus alter Gewohnheit hierher gekommen – nein, er wähnte sie fern von Tolsberg; Frau Egla hatte ihm in ihrem letzten Briefe, der den erst seit kurzem wieder in Europa Weilenden erreicht hatte, so etwas Ähnliches angedeutet, daß sie allein zu Hause sei.

Was war nun das? Genau wie damals vor jener schicksalsschweren Stunde, da er Eva-Marie die Tragödie von Schloß Livron erzählt hatte, blieb er plötzlich vor dem Eingang zur Bibliothek stehen, denn drinnen erklang weich, süß, sehnsuchtsvoll klagend, die alte Menuettmelodie. – Egmont war es, als streckten sich zwei Arme ihm entgegen, als blickte ein Augenpaar ihn bittend an: Vergib, vergib, ich wußte nicht, was ich tat! Ich war ein törichtes Kind, das meinte, nach Gefallen mit seinem eigenen Schicksal und einem fremden spielen zu dürfen.

Eine heftige innere Bewegung erfaßte Egmont – so spielte nur eine Einzige, sie, die noch immer nicht Verschmerzte.

Wie die Töne bettelten: Komm, laß alles vergessen sein, laß die trennende Wand zwischen uns sinken ... mit einem jubelnden Ton brach das Spiel ab – im Rahmen der Tür stand Egmont, und einige Schritte von ihm entfernt war Eva-Marie. Ihre Hände glitten bei seinem unerwarteten Anblick von den Tasten, was die Töne ihm soeben verraten, das leuchtete noch deutlicher aus ihren Augen –, und nun überkam ihn die glückselige Gewißheit, daß sie ihn liebte.

Der goldige, sanfte Herbsttag blickte durch die nach dem Garten hin geöffnete Tür herein, der Duft von späten Rosen und Reseden schwebte in das Gemach, wo zwei, deren Herzen in der langen Trennung sich gestählt hatten, nun zum Bunde für das Leben vereinigt waren. – –

»Dein Buch sprach zu mir, sagte Eva-Marie, »ach, so beredt, deine reiche Seele fand ich in deinen Schriften wieder. Und als du damals so ohne jeden Vorwurf mich schweigend freigabst, da wußte ich, daß das Beste in meinem Leben deine Liebe war ... ›Doch ein leises Schwingen weht dann weiter‹ – diese Worte aus deinen letzten Zeilen an mich bewahrheiteten sich bei mir ... Und das alte vergilbte Notenblatt wurde mein größter Schatz.«

Egmont und seine junge Gattin machten auf seinen Wunsch ihre Hochzeitsreise in die Bretagne. Dort erhob sich ja noch das alte Stammschloß der Familie de Livron. Das Geschlecht war so gut wie ausgestorben; ein Pächter sah auf dem Besitztum nach dem Rechten und hielt das schöne, altertümliche Gebäude in vortrefflicher Ordnung. Auch Eva-Marie hatte gewünscht, Schloß Livron zu sehen. Nun schritt sie am Arm ihres Gatten durch die Alleen des Parkes bis zum Ufer der Livronne, die, leise murmelnd, eilig dahinfloß. Ein breiter Weg führte zur Freitreppe, auf der verwitterte Sandsteinfiguren gleichsam Wache hielten.

Die Gemächer des Schlosses zeigten eine verblichene Pracht. Die Frau des Pächters schritt auf Filzsohlen mit rasselndem Schlüsselbund den Besuchern voran.

Im Ahnensaal nannte sie die Namen derer, die hier im Bilde verewigt waren. In langer Reihe schmückten alte Porträts die Wände.

»O, welch eine entzückende Frau!« Eva-Marie vor einem der Bildnisse stehen bleibend.

»Das war die hochselige Marquise Odette de Livron; sie erreichte ein sehr hohes Alter, drüben neben der Dorfkirche liegt sie bestattet, in einer kleinen Kapelle, die sie sich bei ihren Lebzeiten hatte erbauen lassen,« erläuterte die Pächterin.

Eva-Marie warf einen erstaunten Blick auf ihren Gatten, der lächelte leise ... Da fragte sie nichts, sondern schritt erwartungsvoll weiter durch die verödeten Gemächer.

Nachdem die Pächterin den Schlüssel im Schloßportal umgedreht hatte und die Gatten sich wiederum allein im Park befanden, wo die Wege mit gelben, welken Blättern bestreut waren, fragte Eva-Marie: »Und jenes Zimmer, Egmont, in welchem man die Marquise Odette entdeckte und verhaftete? Und die Wand, hinter der sie sich vergeblich zu verbergen suchte ...? Wo sind sie? Und wie kommt die Pächterin dazu, zu erzählen, daß die Marquise in hohem Alter gestorben sei? Du selber hast mir doch gesagt, sie habe auf dem Schafott geendet, weil sie den Mann, den sie liebte, gerettet ... Und die Menuettmelodie ...?«

»Sie ist das einzige Wahre an meiner Erzählung damals,« fiel Egmont ein. »Meine Ahnfrau, die schöne Odette, liebte Musik über alles; das Notenblatt, das nun in deinem Besitz ist, hat tatsächlich ihr gehört.«

»Und all das andere, Egmont?« fragte Eva-Marie verwundert weiter, »warum hast du mir es so geschildert und warum bis heute geschwiegen, daß es sich in Wirklichkeit nicht so verhält?«

Da neigte er sich zu ihr und küßte sie im alten lauschigen Park zu Livron: »Du vergißt, daß ich ein Dichter bin, Eva-Marie. Einstmals wolltest du es nicht glauben, wie lebenswahr etwas, das doch nur in einer Dichterphantasie entstanden ist, wirken kann. Da wollte ich dich davon überzeugen. Weißt du es nun, mein Herz? Glaubst du es nun?«

Sie schmiegte sich an ihn: »Und das schönste deiner Lebensmärchen wird doch ungeschrieben bleiben, Liebster, das erleben wir zu zweien,« sprach sie innig. –

Über ihnen rauschten die Wipfel des Parkes geheimnisvoll ... Eva-Marie war es, als erklänge aus dem Blättergeflüster leise, ganz leise, wie geisterhaftes Wehen, die alte, traute, lockende und dabei wehmütig sehnsuchtsvolle Menuettmelodie ...


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