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Die geraubte Blume.
Novelle von Victor Blüthgen

O Liebe, du Macht aller Mächte!

Ich will keinen Hymnus singen – im Gegenteil. In meiner Perspektive liegt eine Untat, und die zauberische Göttin hat sie zu verantworten. Eine – nun, eine Untat wie eine Nippsache von Meißner Porzellan, mit zartem Farbenreiz. Aber das Strafgesetzbuch kennt keine ästhetischen Gesichtspunkte.

O, du blutjunge Untat! Wie sie dasteht mit den Erosflügeln im Rücken und das Schürzchen hält und an dem Näschen hinuntersieht! Aber auf ihrem Antlitz ist zu lesen: Schuldig. Das ist über allem Zweifel erhaben.

Ich kann sie nicht freisprechen, aber kann ihr sagen: »Du bist verjährt. Du hast keine Polizei, keinen Steckbrief, keinen Richter zu befürchten. Du hast aufgehört, du zu sein. Du bist nunmehr nichts als eine anmutig verlegene Erinnerung.«

Ich will den Leuten sagen, was du bist.

* * *

Sie gingen am Berge hin, Er und Sie. Er ein blonder, junger Mensch, ein Stück von einem künftigen Gelehrten, verliebt, ernsthaft und innig und heilig, mit einer Liebe, welche immer einzig ist, auch wenn sie durchaus nicht die letzte ist.

Und Sie – sie ist ein blasses, bleichsüchtiges Kind, welches lispelt, wenn es spricht, Haar von einem unansehnlichen Blond und überdies sehr einfach geordnet trägt – ein stilles, ahnungsvolles Geschöpf, welches, wenn eine Blutwelle ihm zu Kopfe dringt, ein Zartrosa auflegt und Kirschenlippen und stahlblaue Augen bekommt. Sie träumt vielleicht den Traum der ersten Liebe, vielleicht der zweiten – was weiß ich!

Die beiden verstehen einander, aber sie sprechen nicht darüber, und sie haben noch nie davon gesprochen.

Ein altes Paar, welches dahinter geht, ist bei der Untat gänzlich unbeteiligt. Sie haben dem künftigen Gelehrten eine möblierte Stube überlassen und sorgen, daß sein Frühstück und sein Abendbrot bereit ist, sobald er es wünscht. Dafür werden sie zuweilen länger, als ihnen angenehm ist, nicht bezahlt.

Der Sommerabend ist unvergleichlich, der Himmel rosenfingerig, die Erde mit einem feurigen Orange überhaucht. Die Vögel zwitschern noch, das Grün glüht, die Gartenmauer, über welche das Laub träge herüberhängt, blendet förmlich. Jetzt taucht zwischen den Bergwellen der Fluß auf, und er spiegelt den Himmel und seine Rosenstreifen. Zuweilen fliegt in dem Tableau ein weißer oder brauner Schmetterling empor.

»Wie wundervoll!« sagte Er. »Ein Abend wie ein Gedicht.«

»Machen Sie mir so eins zu morgen,« lächelte Sie.

»Warum zu morgen?«

»Morgen ist mein Geburtstag.«

Ihr Geburtstag – diese Tatsache ist über alles wichtig. Der morgende Tag ist geweiht wie der Frühlingstag, an welchem die erste Nachtigall schlägt, die erste Rose aufbricht. An diesem Tage müßte die Welt feiern und Gottesdienst halten.

Man wird sie beschenken – er natürlich vorweg, ganz außerordentlich! Und wenn das letzte Stundenhonorar draufgeht – in der Tat, es ist leider anzunehmen, daß dies geschieht.

»Ich bin kein Dichter,« spinnt er plötzlich den Faden weiter.

»Ah, das trau' ich Ihnen denn doch zu, daß Sie dichten können.«

Wie reizend naiv sie ist!

»Für Sie – nun, ich will sehen!«

Aber hier ist das Gartentor. Beide wenden sich um, und sie schwenkt winkend ihr Strohhütchen mit dem künstlichen Hafer und den wehenden gelben Bändern. Dann wandern sie beide ein.

Dies ist ein Privatgarten; allein die Spaziergänger, welche zu dem Badeörtchen hinüberziehen, dürfen ihn passieren. Der Grund des Gartens liegt bereits in bläulichen Schatten; nur auf den Wipfeln der Obstbäume brennt die Abendglut. Es gibt allerlei zu sehen auf den Rabatten: Nelken und Verbenen und Phlox, brennende Liebe und Skabiosen – aber die Rosen, die Rosen! – Und da –

Was ist das?

Etwas einzig Schönes. Etwas Lilienhaftes und doch keine Lilie. Sechs fremdartige Blütenstengel nebeneinander, zart-pfirsichblüten, von der Tiefe des Kelches aus mit Scharlachflecken bespritzt. Zauberhafte Geschöpfe! Eine Tropenwildnis muß sie erzeugt haben. Man kann stehen – stehen und sich an ihnen berauschen.

Sie atmet auf. »Wenn ich solch eine Blume im Topfe hätte! Ach Gott, ich habe nie früher eine solche gesehen. Wissen Sie, was es ist? Sie wissen das sicher.«

»Nein. Dort ist ein Mann; es wird der Gärtner sein. Wir müssen erfahren, was das ist.«

Er schreitet im Zickzack hinüber zu ihm.

» Amaryllis punctata,« spricht aufblickend der Mann, welcher im Knien pflanzt.

»Kann man eine solche Blume bekommen?« fragt er halblaut, aber dringend; er flammt dabei von einem Entschlusse. »Was kostet sie?«

»Ich darf keine Blume abgeben, der Herr Kommerzienrat hat's strenge verboten.«

»Unter keiner Bedingung – – hm?«

Der Gärtner versteht ihn, aber er zuckt die Achseln. »Diese nicht: sie sind gezählt.«

Er beißt die Lippen zusammen – aber sie kommt, sie darf nichts merken.

» Amaryllis punctata,« sagt er und zieht sie, welche seinen dargebotenen Arm angenommen, rasch hinweg. »Es wird keine abgegeben.«

»Ach schade – wie schade!«

Es ist Nacht, und er liegt im Bette. Aber er liegt wie in einem Ameisenhaufen und von Zeit zu Zeit macht er eine Viertelswendung um seine Achse.

Sie hat Geburtstag morgen – nein, heute schon; und sie muß eine Amaryllis punctata haben! Das wäre des Tages würdig, eine Überraschung, wie sie imposanter nicht zu denken ist. Aber wie zu dieser so bestimmt verweigerten Blume gelangen?

Es gibt nur eine Möglichkeit: man muß sie stehlen.

Er ist Gottesgelehrter, und er denkt daran, zu stehlen! Er hat einst eine Stecknadel, welche er in einem fremden Hause ohne Erlaubnis aus einem Kissen gezogen, wieder hingetragen, und er denkt daran, zu stehlen!

Dann und wann jagt der Gedanke wie ein Wirbelwind einen Flammensturm in seinem Hirn auf, und danach läuft es brennend durch seinen Körper, und er muß sich bewegen. Ein paarmal richtet er sich halben Leibes auf, so unerträglich ist es ihm, zu liegen.

Der Sturm besänftigt sich. Vor den verschlossenen, brennenden Augen stehen sechs Blütenstengel wie leibhaftig. Ihre Farben leuchten mit einem versucherischen Glanze, dem der Blick nicht ausweichen kann. Das sind die Farben der alten Schlange, das ist der Farbenzauber der Früchte am Baume der Erkenntnis. Eva stahl auch, und sie kam um das Paradies dafür. Er hatte sein Paradies noch in sich, hatte sich's mühsam erhalten, wahrhaftig!

Amaryllis punctata – warum konnte er den abscheulichen Wortklang nicht los werden aus dem Ohre! Wer flüsterte so hartnäckig deutlich, bald in Pausen, bald ein dutzendmal hintereinander diesen Namen? Es war jemand außerhalb des Ohres. Der Versucher – wer sonst?

Eine Gartenmauer – man konnte sie übersteigen, ohne Zweifel. Man mußte es früh tun, ganz früh – nein, in der Nacht noch. Es konnte ein Hund dasein – nun, das war nichts Schlimmes, das war bald genug zu konstatieren. Ließ sich nur mit offenbarer Gefahr über die Mauer steigen, so tat man's eben nicht.

Aber es war gestohlen! Nun ja. Aber was stahl man? Eine Amaryllis punctata. Man erbrach keinen Schrank, man leerte keine Speisekammer, man zog keine fremden Überzieher an. Es geschah unter freiem Himmel, wie man eine gelbe Rübe aus dem Felde zieht oder eine appetitliche Kirsche im Vorübergehen vom Baume pflückt.

Stehlen und stehlen ist ein Unterschied.

Dies hier war mehr »entführen« – wie man ein Mädchen entführt, das einem verweigert wird. Man will ja bezahlen, wie man das Mädchen heiraten will. Es ist eine Marotte, daß der Besitzer von sechs Amaryllis punctata nicht eine einzige herausgeben will – in solch einem Ausnahmefalle, wo »sie« Geburtstag hat und leidenschaftlich gern eine Amaryllis punctata besäße!

Er hätte den Besitzer vielleicht um eine der Blumen bitten können; am Ende würde er sie gar nicht einmal verweigert haben. Allein dazu war die Zeit zu kurz. Halt – man konnte nachträglich zu dem Besitzer gehen. »Versteht sich,« flüsterte eindringlich die Stimme, welche sonst immer nur » Amaryllis punctata« gerufen. Man braucht noch nicht einmal zu sagen, daß man sich den Gegenstand bereits angeeignet hat. Stimmt der Kommerzienrat zu, so ist der Diebstahl legitimiert. Es ist unglaublich, daß der Herr Kommerzienrat nein sagen könnte; man kann dreist annehmen, daß man die Erlaubnis hat. »Ganz unglaublich! Ganz dreist!« sagt die Stimme.

Er richtet sich wieder empor, mit weit offenen Augen. Der leise Schein des Nachthimmels graut in das Stübchen – alles still. Schwach hörbar arbeitet nur das Herz der Taschenuhr da auf dem Tische.

Oder ist es sein Herz?

Plötzlich ist er draußen am Tische; er hat die Taschenuhr in der Hand und bückt sich auf das Zifferblatt nieder: »Zwei Uhr.«

* * *

Der Berg mit dem Garten liegt mehr denn eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Die Sterne am östlichen Himmel erbleichen, ein weißlicher Schein liegt dort am Horizont, und ein kühles Wehen kommt von ihm herüber. Über die Gartenmauer hängt an einer Stelle das Astwerk eines Akazienbaumes, und in dem Astwerk erhebt ein Vogel seine Stimme. »Tirrr-ih!«

Eine dämmerige Feldsteinmauer. Sie dehnt sich lang hin; dort steigt sie an, der Form des Berges angeschmiegt, und bei der Höhe biegt sie um, bei dem Teile des Gartens, welcher so dunkel, weil er voller Baum- und Strauchwerk ist. Diese Mauer ist hoch!

Unter dem Akazienbaum hebt sich ein Arm, eine Hand patscht leise auf den schlüpfrigen Stein – sie langt höher – höher – keine Möglichkeit.

Die dunkle Gestalt schleicht an der Mauer hin und prüft – prüft, bleibt stehen und geht weiter. Hier – wahrhaftig, an dieser Bergwelle reicht die Hand bis zum Rande. Die zweite Hand kommt zum Vorschein. Es raschelt – ein Sprung. Nun liegt ein Arm oben, nun der zweite. Ein leises Schnaufen und Ächzen.

Auf der Mauer sitzt er, ein gelähmter Mann.

Vor seinen Augen spielt es wie in einem Kaleidoskop, welches beständig bewegt wird. Vor allem das Herz! Es ist unglaublich, daß ein Herz so schlagen kann – nicht schlagen: hämmern wie auf Eisen so hart, aber im Takte von Mühlen-Hämmern, wenn der Sturm um die Flügel saust. Und wahrhaftig – es hört nicht auf. Es nutzt zu gar nichts, daß er hier noch lange sitzt.

Er späht hinab: der Sprung ist nicht unmöglich; aber dort, dort liegt ein dunkler Haufen an der Mauer; Schutt, oder ähnliches. Dort ist der Sprung leichter, und von dort kann man wieder aufsteigen.

Er liegt auf allen Vieren, wie eine Katze, und bewegt sich langsam auf der Mauer hin bis zu der Stelle. Ein kurzer Sprung – jetzt steht er regungslos. Es ist wahr, der Schall war nicht laut, aber er könnte doch irgendwelchen Effekt haben.

Nein. Das Herz lärmt zwar sehr laut, das Ohr dröhnt davon wie ein Resonanzboden – allein man würde ein fremdes Geräusch wohl trotzdem hören. Man kann es wagen. Man muß es wagen, wenn man eine Amaryllis punctata haben will, und je rascher es geschieht, desto geringer ist die Gefahr.

Er prüft noch einmal die Stelle an der Mauer – die Rückzugslinie. Jetzt mutig vorwärts. O dieses Herz! Es wird zerspringen –

Er kniet bei den Amaryllis punctata. Wie die Farben sich mit geheimnisvollem Schimmer aus der Morgendämmerung ringen! Diese da, mit den drei Blüten – es ist die schönste.

Er kratzt, kratzt, die Erde knirscht. Er sieht plötzlich nichts, hört nichts, er hat den Kopf gleichsam in den Sand gesteckt, wie der Vogel Strauß in der Sage. Diesen Augenblick gibt er blind dem Schicksal preis: es mag ihn verderben. Er hastet, wühlt.

Das ist die Zwiebel – es ist geschehen.

Nein. Man muß die Spuren beseitigen. Er behält die Kraft, die Erde sorgfältig zu glätten, sorgfältig, aber doch zitternd, fieberhaft.

Nichts rührt sich; die Fensterläden des Gärtnerhauses sind geschlossen. Er fühlt, wie seine Hand naß vom Tau, sein Gesicht damit besprengt ist. Die Erde duftet so wunderbar, so kräftig ...

Fort – nun fort!

Er steht bei der Mauer, auf dem Müllhaufen. Das Herz ist ruhiger. Er legt die .Pflanze sorgfältig auf die Mauer; jetzt sitzt er selber oben. Und plötzlich faßt ihn jene Todesangst, wie sie den Furchtsamen im Dunklen zuweilen hart bei der Tür ergreift: jetzt noch kann es kommen, ihn sehen, schreien, und rufen: »Dieb, Dieb!« Rasch hinunter.

Er steht lauschend, in der Hand die Amaryllis punctata. »Tirrr–ih!« ruft der Vogel, welcher ein paar Bäume weitergeflogen ist.

Die Sterne im Osten sind noch bleicher; der weiße Schein ist viel breiter geworden, höher gestiegen. Man sieht den Tau in dem kurzen Berggrase geheimnisvoll blinken. Die Glockenblumen hängen voll davon. »Dieb!« »Dieb!« schreit es noch halb schläfrig in den alten Linden dort hinter der Mauer. Und »Dieb, Dieb!« schreien ein halb Dutzend andere Stimmen. Spatzen natürlich – was sonst?

Er stelzt mit langen Schritten den Berg hinab. Am Flusse befindet sich eine kleine Gebüschanlage und ein Steg, der in das Wasser läuft, und zu dessen Seiten Kähne an Pflöcken schaukeln. Aus einem Hainbuchenbusch langt er mit unsicherer Hand einen irdenen Blumentopf, schüttet die Erde daraus auf den Rasen und beginnt die Zwiebel einzusetzen. Er drückt mit dem Daumen – so vorsichtig, so sorgsam! Noch mehr Erde, immer mehr – so!

Er geht auf den Steg hinaus und schöpft Wasser mit der hohlen Hand, um die Erde im Topfe zu durchfeuchten. Dann zieht er eine Zeitung aus der Tasche, formt eine Riesendüte und läßt den Topf hineingleiten.

* * *

Gegen sechs Uhr schellt er auf seinem Zimmer. Er hat noch nicht geschlafen. Man muß sich diese Blume aus den Augen schaffen.

Ein Mädchen öffnet.

»Nehmen Sie das hinunter und setzen Sie es in die Wohnstube, auf den Geburtstagstisch von Fräulein Bertha.«

»Ei,« ruft das Mädchen und sieht ihn entzückt an, »so eine schöne Blume!« Er sagt nichts dazu. Er ist todmüde und legt sich im Schlafrock auf das Sofa. Er schläft tief, wie zwischen Tod und Auferstehung. »Um zehn gratuliere ich; um elf gehe ich zum Kommerzienrat,« das war der letzte Gedanke, den er vor dem Einschlafen gedacht. –

Plötzlich springt er auf, sieht nach der Uhr – es ist zwölf. Himmel, welch ein Schlaf!

Gratulieren kann er jetzt wohl noch – zum Kommerzienrat zu gehen, ist erst am Nachmittag wieder Zeit.

Er gratuliert einer Überglücklichen. Man denke doch, sie hat eine Amaryllis punctata bekommen, die herrlichste Blume, welche sie je gesehen! Minutenlang ist sie rosig über das weiche Gesichtchen; sie hat einen Kirschenmund und stahlblaue Augen – o, sie kann lebendig sein – sogar anspruchsvoll und eigensinnig.

»Aber wie haben Sie die Blume bekommen?«

»Er ist zu übernächtig, um die Frage als eine peinliche zu empfinden. Sein Gewissen schläft noch; nur das Nötigste an ihm ist aufgewacht.

»Das ist mein Geheimnis.«

»Und mein Gedicht, das Sie mir machen wollten?«

Dies dumme Gedicht! Er hat nicht wieder daran gedacht, auch nicht an das Geschenk, welches er noch hatte kaufen wollen. Daran ist die Amaryllis punctata schuld.

Er zeigt auf die Blume. »Hier – das ist es. Ein schöneres kann ich nicht machen.«

»Ach!« – Sie schmollt. Ja, sie schmollt ganz regelrecht!

Wie? Ist das möglich? Man hat für sie eine Blume gestohlen und ein Gewissen besudelt – was für ein Gewissen! – und sie schmollt um ein Gedicht, das noch fehlt!

Er ist sehr ernst, mehr noch, ist erbittert auf sie und greift mit leisem Pfeifen zum Hut.

»Wollen Sie nicht heute mit uns zu Mittag essen?« fragt die kleine, brave Mama. »Ach ja – Berta, du hast dich lange nicht genug bedankt!«

»Nein,« sagte er kurz. »Adieu, bis auf den Abend.«

Und er geht. Wie ist ihm nur zumute? Wo ist seine Liebe, die stille, heilige mit dem wonnigen Wellenschlag? Er ist so nüchtern, so jämmerlich nüchtern. Wahrhaftig, dieses Mädchen ist von einer grenzenlosen Selbstsucht. Man muß ärgerlich auf sie sein – ohne sie hätte man noch ein reines Gewissen.

Er kommt in den »Walfisch«, um zu essen. Bei jedem bekannten Gesicht, das ihm zunickt, wendet sich sein Herz um und kehrt gleichsam diesem Gesicht den Rücken. Nach der Suppe schlägt das Gewissen die Augen auf. Entsetzte Augen! Er denkt einen Gedanken zum Verzweifeln, nämlich: es wäre ja möglich, daß ihn heute früh doch einer gesehen hätte! Mit einem Male hämmert das Herz, wie im Morgengrauen auf der Mauer.

Nach Tische geht er an den Fluß, mietet einen Kahn und fährt spazieren. Da ist er allein. Um fünf Uhr geht er zum Kommerzienrat. Er weiß, wo derselbe wohnt: in der Villa dort, nicht etwa draußen – in dem gewissen Garten – –

Er schreitet gesenkten Hauptes vor der Villa auf und nieder.

Ein fataler Gang. Man setzt sich Grobheiten aus, macht sich lächerlich. Wenn es herauskäme, wäre es noch immer Zeit, den Mann um Nachsicht zu bitten. Jawohl, vielleicht ist es doch besser, man unterläßt jetzt diesen Besuch.

Seltsam: diese Nacht, und heute morgen nach der Tat noch, war ihm der Gedanke, zu dem Kommerzienrat zu gehen, so etwas Leichtes! Er hatte jedes Wort der Ansprache bereits überlegt: gestockt würde er nicht haben; im Gegenteil, ganz gewandt hätte er gesprochen, einigermaßen humoristisch.

Ah – richtig: heute morgen liebte er sie noch, das heißt: empfand er volle Wärme, Begeisterung. Wie war es nur möglich, daß davon jede Spur verflogen war? Ja so: sie war schuld, daß er kein reines Gewissen mehr hatte. Eigentlich nicht – aber doch! Nun sie den ungeheuren Wert des Gegenstandes nicht empfand und noch schmollen konnte, weil er ihr kein Gedicht gemacht – nun erst hatte er wirklich »gestohlen«, ganz nackt und nüchtern: gestohlen.

Es schoß ihm siedend vom Herzen zum Kopf; eine schwüle Empfindung! Sein Auf und Nieder entfernte sich immer mehr von der Villa – er ging zu einem Freunde.

Am Abend war er doch in der Geburtstagsstube. Seine Gutmütigkeit hatte den Sieg davongetragen. Im Fenster stand die Amaryllis punctata. Einmal hatte er hingesehen, dann nicht wieder. Er hatte ein Gefühl, als müsse seinem Blicke dort etwas Fürchterliches begegnen: ein Gespenst, eine Meduse. Er wehrte jedem Gespräche, welches sich mit der Blume beschäftigen wollte.

Einmal ging sie aus der Stube, und als sie zurückkehrte, schritt sie bis zum Fenster, wo die Blume blühte. »Ach!« sagte sie plötzlich betrübt: »Was mit ihr ist! Ich glaube, sie verwelkt bald. Sehen Sie nur!«

Ihm wurde schwarz vor den Augen, und in seinem Kopfe dröhnt es. O, dies hatte noch gefehlt: ihm fiel ein, irgendwo und irgendwann gehört zu haben, daß blühende Blumen sich nicht verpflanzen lassen, in kürzester Frist unbarmherzig eingehen!

Sicherlich, der Alte da wußte das. Er wird kombinieren – oder sie wird es tun – man rät ... Ein Kübel Eiswasser schüttet sich über ihm aus.

»Der Gärtner wird sie wohl aus dem Erdreich genommen und eingesetzt haben, um sie zu verkaufen. Da halten sich die Blumen nicht. Die Art Leute betrügt gern so,« sagt der Papa. »Wenn sie morgen verwelkt ist, gehen Sie nur hin und sagen Sie ihm gründlich die Wahrheit.«

Er – die Wahrheit sagen!

Und wenn diese Blume morgen verwelkt ist, was dann? Dann hat er nichts zum Geburtstag gespendet, als diese Erbärmlichkeit. Gräßlicher Gedanke – bei Gott, um sich krank zu schämen! Und kein Zweifel; sie wird morgen verwelkt sein.

* * *

Es ist früh, das Mädchen kommt mit dem Frühstück.

»Apropos: wie steht es mit der Blume? Ist sie noch frisch?«

»Ach Gott, nein, sie hängt ganz und gar. Sie ist rein zum Wegwerfen. Es ist zu schade.«

Natürlich, wie konnte es anders sein! Er besitzt ein noch gut erhaltenes Exemplar von Rückerts Liebesfrühling, schreibt eine Widmung hinein: »Zum Geburtstage«, und schickt es ihr. So viel weiß er: die Scham, welche er fühlt, erstickt den letzten Rest seiner Liebe.

Nach den großen Ferien kehrt er nicht zurück; er will seine Studien anderwärts vollenden und läßt sich mit »schönsten Grüßen und vielem Dank für die genossene treue Pflege« seine Sachen schicken.

Eingepackt hat er sie schon – wie merkwürdig! – bei der Abreise. Er verliert ein Stipendium durch die Übersiedelung ... O, diese schreckliche Amaryllis punctata!

Aus »Amoretten«, Hermann Wolter Verlag, Anklam.


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