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Der Turmhahn.
Von Herbert Eulenberg

Eine entsetzliche Erregung herrschte im ganzen Dorf. Etwas ganz Absonderliches, noch nie Dagewesenes war geschehen. In der zweiten Weihnachtsfestnacht war der große kupferne Turmhahn von der Spitze der Kirche gestohlen worden. Es war, als ob die ganze Gemeinde den Kopf verloren hätte. Der Küster, der am Morgen früh wie gewöhnlich mit dem Barbier zum Läuten gegangen war, hatte es zuerst entdeckt.

»Um Gottes willen,« sagte er, als er aus dem Hause heraustrat und sich wohlgefällig wie alle Morgen seine Kirche betrachtete, »da ist ja der Hahn vom Kirchturm fortgeflogen!« Der Barbier, der ein wenig schielte, blinzelte in die Höhe und bestätigte mit offenem Munde sprachlos die fürchterliche Tatsache. Sie liefen und gingen, den schwarzen Erdboden absuchend, dreimal um die Kirche herum. Dann machte sich der Barbier, weil es angesichts einer solchen Geschichte nicht aufs Läuten mehr ankam, unbemerkt von dannen, und in einer Viertelstunde wußte es das ganze Dorf. Und alle, die Großen wie die Kleinen, kamen aus den Häusern heraus und starrten in den Himmel hoch auf den Fleck, wo gestern, von niemand gesehen, der kupferne Hahn gestanden hatte. Es war verwunderlich, daß jetzt, wo er nicht mehr zu finden war, alle nach ihm sahen und mit den Augen suchten. Er war auf einmal die Hauptperson im ganzen Dorfe geworden, und alle machten, nun er verschwunden war, traurige Gesichter, als wenn der König gestorben wäre. Das Betrübteste war, daß kein Mensch eine Ahnung hatte, wo das schöne kupferne Tier hoch über allen Häusern und Häuptern geblieben war. Einige fromme Gemüter meinten, ob nicht der liebe Gott ihn, der schon sehr altersschwach gewesen und der seit Urväter Zeiten dort oben im Wind und Wetter und Sonnenschein stehen mußte, in der heiligen Christnacht zu sich berufen hätte. Andere pfiffige Seelen fragten, ob nicht heutzutage, wo die Menschen zu fliegen anfingen, einer über Nacht durch die Luft hätte ansausen und ihren schönen kupfernen Hahn von der Turmspitze wegstehlen können. Und am liebsten hätten diese einen Prozeß mit allen fliegenden Menschen um den verlorenen Hahn angefangen.

Da dies aber schlecht anging, fand das ganze Dorf bald einstimmig einen anderen Sündenbock, das war der Nachtwächter. Dieses Auge, das die Gemeinde bei Nacht wie ein Hase aufstehen hatte, war ohne Zweifel in jener schrecklichen Nacht der Untat eingeschlafen.

Er behauptete zwar, daß er um die Stunde, da der Diebstahl vor sich gegangen wäre, gerade am anderen Ende des Dorfes ein paar Landstreicher aufgestöbert hätte.

Aber eine genauere Untersuchung ergab, daß er seit seiner Amtsführung keine Nacht außer dem Wirtshause zugebracht hatte, in dem er in der Regel bis zwei Uhr trank und von da an bis zum Morgen ebenso regelmäßig auf dem Strohsack neben dem Bernhardinerhund seinen Rausch ausschlief. Er ward darum infam seines Amtes entsetzt, und die kleinsten Kinder sahen ihn seitdem, wenn nicht von oben herab, so doch von unten herauf mit Verachtung an.

Nur zwei wußten im ganzen Dorfe, wer den Hahn in jener fürchterlichen Nacht hoch oben vom Kirchturm gestohlen hatte: das war der Mond und der Schneider Proll, der Täter in eigener Person. Der Mond, der sich in dieser entsetzlichen Nacht erst spät erhoben hatte, weil er sein abnehmendes, schiefes Gesicht nicht gerne vor den Leuten sehen lassen mochte, war ganz erstaunt, als er auf einmal den winzigen Schneider schon hoch an dem Turme zur Spitze hinaufklettern sah. Der Kerl mußte die Kirchtür hinaufgeklommen sein und das Mauerwerk an den Kirchfenstern hoch, auf deren Stabwerk er sich stützte, bis zu der Feuerleiter, die zu dem Turme führte. Nun kletterte er emsig, in Schweiß gebadet, die Rinne entlang, mit den Füßen auf den Sparren und Haken, die die Dachdecker für ihr Gewerbe benutzen, das Schieferdach des Turmes in die Höhe, wobei er sich mit den Händen an dem Draht des Blitzableiters festhielt und hinaufzog. Der Mond wurde fast schwindlig, als er den kleinen klapperdürren Mann, der über sein Nachthemd nur eine karierte Hose mit grün gestickten Trägern angezogen hatte, auf grauen wollenen Socken so wie eine Fliege am Fenster den breiten hohen Turm heraufklettern sah. »Wenn er sich nur nicht den Hals bricht!« dachte er, als der Schneider mit auseinandergespreizten Spinnebeinen sich immer höher mühte. »Dort der Haken sitzt morsch in der Verschalung! Ich will dem leichtsinnigen Wagehals ein wenig leuchten, da ich nun einmal der Schutzpatron der Diebe bin. Halt dich fest, Langfinger! Jetzt gilt es einen letzten großen Satz!«

Indessen war der Schneider Proll, auf dem äußersten höchsten Haken stehend, hoch oben angelangt. Sein Herz klopfte ihm wie ein Hammer auf dem Amboß, seine Haare klebten schweißnaß an seinem Kopfe, als sei er aus dem Bade gekommen. Herunterzusehen in die finstere Tiefe wagte er nicht, sonst wäre er mitsamt seinem Schatten übereinander vor Grausen hinuntergepurzelt. So klammerte er sich mit dem linken Arm ängstlich um die Turmspitze und hielt sich wie an eine Geliebte zitternd an ihr fest, während er mit der rechten Hand eine Feile aus der Hosentasche zog und sich ächzend daran machte, den stummen kupfernen Hahn, der auf zwei Krallen oben auf dem Turme festgeschmiedet war, herunterzuholen. Ein Stück Schiefer löste sich bei dieser mühsamen, langsamen Arbeit unter dem Schneider aus seinem Nagel und schlug schleifend das Dach hinunter in die Tiefe. Fast wäre Proll vor Schrecken mithinuntergesaust, wenn, nicht im gleichen Augenblick der Hahn unter seiner Feile abgebrochen wäre und ihm wie tot, den Kopf nach unten, in der linken Hand, die ihn schnell aufgriff, gehangen hätte.

»Gottlob!« sagte der Mond fast laut, der diesem sonderbaren Diebesstreich mit ungeheurer Spannung zugeschaut hatte, und leuchtete nun dem zitternden Schneiderlein, als es keuchend mit seiner Beute den gleichen Weg herunterstieg. Ein leichter warmer Westwind hatte sich erhoben und stieß ruckweise, wie ein Schnarchender, um den Turm. Proll sah im Mondlicht jeden Schiefer, jeden Haken und Nagel ganz genau, während sein Schatten bald über ihm, bald unter ihm ihn lang oder kurz nachäffte. Behutsam stieg er herunter, mit der heißen Linken sich fest an den Draht des Blitzableiters haltend und die Haut sich wund scheuernd, während die Rechte stolz den schweren gestohlenen Gockelhahn trug. Ganz goldig sah der graue Schieferturm der Kirche im Schein des Mondes aus. Der Wind blies leise die Halme der im Winter verlassenen Vogelnester an dem Turme wie die fahlen Haare eines Toten spielerisch hin und her. Den First entlang, wo Sonne und Wind nicht hindringen konnten, lag noch ein Streifen Schnee vom letzten Schneefall wie Zucker dünn auf das Dach gestreut, an dem das halb schwitzende, halb fröstelnde Schneiderlein Haken nach Haken hinunterkletterte.

Als er endlich unten angekommen war und die breite, feste Erde unter seinen vor Erschöpfung bebenden Beinen fühlte, blickte er noch einmal voll Bewunderung vor sich an der hohen Masse empor, die er um ihren Kopf gebracht hatte, wie einer, der eine siegreiche Schlacht geschlagen hat. Dann rannte er, den riesigen kupfernen Hahn, der wehmütig seinen Kopf und Kamm hängen ließ, fest unter den Arm gekrampft, spornstreichs durch die leeren hallenden Gassen nach Hause in sein Bett. Er verbarg das große alte Tier unter dem breiten Strohsack, auf dem er lag, streckte sich selbst, so. angezogen wie er war, vor Erregung fast zerbrochen, aus, und kein Held ist nach einem Siege in seinem Lager über seiner Beute glückseliger eingeschlafen, als der Schneider Proll über dem kupfernen Kirchturmhahn, den er erobert hatte.

Wie in aller Welt war nur diese arme, schwache Schneiderseele auf diesen gewaltigen großen Gedanken gekommen, die Gemeinde, in der er seit seiner Geburt über sechzig Jahre lang als ehrsames, friedfertiges Mitglied lebte, um ihre stumme Spitze, den Turmhahn, zu bringen? Er war freilich zeitlebens ein nicht ganz gewöhnliches Menschenkind gewesen, weil er sich, seitdem er lesen gelernt hatte, sehr viel mit Politik befaßte. So geschah es wohl, daß man ihn manchmal an einer Straßenecke stehen sah und laut vor sich hinsagen hörte: »Es ist nicht ganz sicher, ob Bismarck die Sache ganz richtig gemacht hat!« oder »Man kann die afrikanischen Verhältnisse von hier aus nur schwer übersehen!«

Vollends seit seine Frau, die für ihn, was das Parlament für einen Minister ist, gewesen war und stundenlang seine politischen Reden und Offenbarungen ohne Widerspruch angehört hatte, im vorigen Jahr gestorben war, war er ganz hinterköpfig geworden. Stundenlang konnte er nach der Arbeit bei seiner Lampe und seiner Pfeife über den Zeitungen brüten, die er nur erwischen konnte. An Sonntag-Nachmittagen, wenn er zum Kegeln ging, konnte man jetzt wohl Äußerungen von ihm vernehmen wie: »Man wäre auch etwas Höheres geworden, wenn man nicht in diesem Dorfe zur Welt gekrochen wäre!« oder »Wenn man so liest, was in den großen Städten alles vorkommt, kann einem sein Leben verloren vorkommen!« Dies Gefühl wurde immer größer in ihm, daß er nichts Rechtes erlebt hätte in den mehr als sechzig Jahren, die er auf der Erde herumschneiderte. Schere, Nadel und Bügeleisen, viel mehr hatte er kaum von der Welt gesehen, so schien es ihm oft. Da draußen um ihn gingen Taten vor sich, schöne und schauerliche, die er tagtäglich in den Zeitungen las. Dort wurden Menschen ermordet, hier stürzten Bergwerke ein, da erstickte Vieh. Heute verbrannten Häuser, gestern gingen Schiffe unter, vorgestern stießen Eisenbahnzüge zusammen. Morgen würde irgendwo ein Erdbeben sein, und übermorgen vielleicht wieder irgendein großer Diebstahl oder eine Wechselfälschung geschehen und in der Zeitung stehen. Nur mit ihm ging gar nichts vor. Er lebte still und brav an den Ereignissen vorüber, sein Name würde nur als Todesanzeige in die Zeitung kommen. Von ihm gab es nichts zu erzählen, als daß er eine ehrliche Haut gewesen war, von der Schule bis zum Tode, und das war bekanntlich nicht wert, gedruckt zu werden.

Wenn sein Leben nur eine einzige Tat aufwiese, die nicht langweilig wäre, von der man sprechen und schreiben könnte! –

Wenn es ein Abenteuer in seinem Schneiderdasein gäbe, mit dem man prahlen könnte! Wenn er einmal nur etwas Großes, Außergewöhnliches ausführen könnte, von dem man in Berlin und Paris reden würde! Wenn er sich durch eine Heldentat über Nacht zum ersten Mann in der Gemeinde über den dummen Bürgermeister, den er längst überschaute, über den hochwürdigen Herrn Pfarrer selbst hinaufschwingen könnte!

So kam es, daß der Schneider Proll in der heiligen zweiten Christnacht sich den schönen kupfernen, schweren Gockelhahn herunterholte, der oben auf der Kirchturmspitze mit seinem Glänzen zuerst und zuletzt im Dorf den Tag erschaute, und an dessen Kamm sich Abendrot und Morgenrot verblutet hatten. – – Die ersten Stunden und Tage nach diesem fürchterlichen Ereignis hielt sich Proll so still, als es für ihn, einen anerkannten Politiker, nur eben anging. Eine unsägliche Angst ergriff ihn, als er überall, wohin er kam, mit Entsetzen und Abscheu von diesem gotteslästerlichen Kirchenraube reden hörte. So schlimm und gewaltig hatte er sich seine Tat gar nicht vorgestellt, wie die Leute sie machten. In ihrem Munde wurde die Sache etwas ganz anderes, viel weniger Herrliches, Großes und Kühnes, als welches sie dort oben im Mondschein zwischen Leben und Tod hängend gewesen war. Sie schienen die Größe seiner Handlung ganz über dem Verbotenen, was sie so nebenbei an sich hatte, zu übersehen.

Erst als die Entrüstung sich allgemach legte, fingen schönere Tage an für Proll. Man begann den Fall nicht mehr ganz so traurig zu nehmen und eine kurze Weile sich mehr um das Absonderliche der Sache voller Neugierde zu bekümmern.

Das waren die seligsten Tage im Leben Prolls, da ihn einer oder der andere gelegentlich auf der Straße anhielt und, mit dem Finger auf die leere Kirchturmspitze hinweisend, ihm sagte: »Es muß doch ein verteufelter Kerl gewesen sein, der so etwas um Mitternacht zu tun gewagt hat! Ich käme bei hellem Tage nicht lebendig hinauf und herunter!« Dann kicherte der Schneider vor Wonne in sich hinein und erklärte:

»Was, Meister! Das ist doch noch einmal etwas!« Und wenn er nachts über dem gestohlenen Tier sich ausstreckte, das unter dem Strohsack vor Schmerz allen Glanz verlor und wie ein Gefangener im Finstern immer mehr erblindete, kam er sich mit Recht als der erste Mann in der Gemeinde vor, von dem alle Welt mit Bewunderung sprach, und schlief glückstrahlend wie ein Kaiser mit seiner Krone ein.

Aber auch diese schöne, kurze Frist in seinem Leben verlief ebenso schnell, wie die langen, leeren Jahre vorher. Allmählich gewöhnten sich die Leute im Dorfe an die neue Kirchturmspitze. Der kupferne Hahn war nur ein hübscher, aber entbehrlicher Zierat dort oben gewesen. Ja, wenn er noch gekräht oder sonst einen nützlichen Wert gehabt hätte! Aber er war doch nur ein Stück Kunst gewesen, das man ebenso gut vermissen konnte. Der Blitzableiter war noch oben; das genügte für die Lüfte. Und die Menschen brauchten nicht in den Himmel zu starren. Es gab genug auf Erden für sie zu tun. Der Schneider Proll wurde ganz unglücklich über diese Wandlung in der Volksstimmung. Er hätte jeden verklagen mögen, der nicht mehr von dem verschwundenen Turmhahn redete. Jetzt war er es, der die Leute auf der Straße anhielt und mit beiden Händen auf die kahle Kirchturmspitze wies und so laut als möglich schrie, daß alle, die vorbeikamen, es hören sollten: »Wo mag nur der Hahn dort hingeflogen sein? Es muß doch ein Tausendsasa gewesen sein, der ihm den Hals umgedreht hat, wenn es nicht der Teufel selber war! Hat man noch immer keine Spur von dem Täter?« fragte er weiter, trotz des Steckbriefes? Großer Gott! Was heutzutage für Dinge geschehen in der Welt!«

Dies letztere sagte er gewöhnlich für sich allein. Denn kein Mensch hatte mehr Lust, an den alten, toten, zwecklosen Turmhahn zu denken, und machte sich achselzuckend von dem ewig über ihn redenden Schneider Proll an seine Arbeit fort. Man nahm es als eine Alterskrankheit hin, daß der ehrsame biedere Schneidermeister, dessen Großvater schon im Orte ansässig gewesen war, nichts anderes mehr als von dem gestohlenen Hahn, den der Pfarrer selbst vergessen hatte, erzählen konnte. Wie man alte Invaliden noch respektvoll von Sedan erzählen läßt, so gewöhnte man sich daran, ihn teilnahmlos anzuhören, wenn er von dem wunderbaren Vogel redete, der wie Gold hoch am Himmel über dem ganzen Dorf gestrahlt hätte und die tollsten Vermutungen darüber anstellte, von wem dieses ungeheuerliche Teufelswerk wohl ausgeführt worden wäre.

Nur der Nachtwächter, der seit seiner Entlassung nicht mehr viel Geld zum Trinken hatte und darum tückisch geworden war, wurde mißtrauisch ob dieses ewigen Geredes über den verhexten Hahn, dessen Verlust keiner außer ihm noch verspürte.

Und eines Sonntags nachmittags, als Schneider Proll wie regelmäßig zum Kegeln gegangen war, wo er nur mehr zusah, um ausschließlich von dem verzauberten Hahn sprechen zu können, brach der Wachtmeister heimlich Prolls Türe mit einem Dietrich auf und kam nach wenigen Minuten triumphierend heraus, den Hahn, der vor Grünspan entstellt wie ein Kadaver aussah, in der Hand schwenkend.

Am anderen Morgen, als Schneider Proll ins Gefängnis abgeführt wurde, ward der Hahn, der indessen wieder blank geputzt worden war, daß die Sonne sich in ihm spiegeln konnte, unter dem Jubel des Dorfes vom Dachdecker auf die Turmspitze zurückgebracht und der Nachtwächter in aller Stille vom Bürgermeister in sein altes Amt zurückgeführt.

Nun prangt der kupferne Hahn, während Proll seine Strafe abbüßt, wieder seit Wochen in den Lüften hoch über der ganzen Gemeinde. Und schon sieht keiner mehr nach ihm in die Höhe! Sonderbare Geschichten, Ernst Rowohlt, Verlag, Leipzig.


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