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Trudchens Abenteuer.
Karnevalsgeschichte von Anna Plothow

In Essenhausen sollte am Fastnachtsdienstag der alljährliche Maskenball in der großen Ressource sein. Das machte die Herzen aller Essenhauserinnen, die zur Gesellschaft zählten, höher schlagen; denn da kamen die Herren vom Amtsgericht hin, die Offiziere von den Jägern, die Lehrer vom Seminar und der Handelsschule und sämtliche Honoratioren der Stadt, zu denen auch die Fabrik- und Gutsbesitzerssöhne der Umgegend gehörten. Manche Essenhausenerin schrieb heimlich um ein Kostüm nach Leipzig oder Frankfurt, und die übrige Damenwelt bemühte sich, hinter dreimal verschlossenen Türen mit Hilfe der einheimischen Schneiderinnen und ausländischer Modejournale wahre Wunder der Phantasie aus Tüll, Sammet und Seidenstoff zuwege zu bringen. Die Aufregung wuchs, als man hörte, daß an dem Ball auch eine Anzahl Jenenser Studenten teilnehmen werde, und sie erreichte den Siedepunkt, als – doch dazu müssen wir weiter ausholen.

In einem vornehmen Hause der Lichtenstein-Allee in Berlin saß an einem Februarmorgen der Konsul Wenckstern beim Frühstück. Die Aufmerksamkeit des freundlichen, jovialen Herrn, der, in den besten Jahren, zwischen fünfzig und siebzig, stehend, sehr wohl konserviert aussah, teilte sich zwischen Tee und Toast und einigen in- und ausländischen Zeitungen. Zuweilen fand er aber daneben noch Zeit, einen freundlichen Blick auf seine gegenübersitzende Nichte zu werfen und ihr mit einem »Hör' mal, Trude!« irgendeine Neuigkeit aus der Gesellschaft mitzuteilen.

Trude hörte und lächelte so freundlich, daß Onkel Harry sich gewöhnlich veranlaßt sah, ihr bald wieder eine Neuigkeit mitzuteilen; es war so hübsch, sich von ihr anlächeln zu lassen. Er betrachtete sie zuweilen verstohlen, mit der zärtlichen Verliebtheit eines alten Junggesellen und Schatzhüters und zugleich mit der rührenden Besorgtheit eines guten Vaters. Trude war aber auch wirklich ein reizendes Geschöpfchen in der ersten Jugendblüte, kaum neunzehn Jahre alt. Aus dem lieblichen runden Gesichtchen strahlten ein Paar dunkle Guckaugen so voll Lebenslust und Schelmerei, daß man immer noch einmal hineinsehen mußte, welcher von den freundlichen Geistern jetzt daraus hervorlache. An der Stirn und im Nacken kräuselte sich übermütig weiches, dunkles Gelock, und wenn der volle rote Mund lachte, so war es wie das klingende Murmeln des Waldbachs.

»Wie sie ihrer Mutter gleicht, meiner lieben, früh verstorbenen Schwester!« dachte der Konsul in zärtlicher Rührung. »Wenn ich sie mal so recht glücklich machen könnte!« Er seufzte tief aus allerlei gemischten Gefühlen heraus.

»Onkelchen,« sagte Trude in dem Augenblick, »du könntest mir einen Gefallen tun!«

»Gern, mein Herzchen!« sagte Onkel Harry aufmerksam und legte galant die Zeitung weg.

»Lore Lingen schreibt mir, in Essenhausen sei am Fastnachtsdienstag ein Maskenball, der über alles schön werde; ich müsse dazu unbedingt hinkommen. Du weißt doch, Lore Lingen, meine liebste Freundin aus der Schweizerpension, die, deren Bild auf meinem Schreibtisch steht, und mit deren Eltern und Bruder ich im Herbst die schöne Tour durchs Chamonixtal machte. Du hast mir immer versprochen, daß ich sie mal besuchen dürfe. Und siehst du, jetzt wäre eine schöne Gelegenheit; ich möchte so gern einmal einen richtigen Maskenball mitmachen. Die Kostümbälle bei unseren Bekannten, das ist ja doch nur mattes Surrogat. Eine Maske möchte ich vorbinden und allerlei Scherz treiben, wie – ja, wie das zum Beispiel in Aubers Oper ›Der schwarze Domino‹ so hübsch geschildert ist.«

»Na, Trude, wenn's weiter nichts ist, das können wir ja machen,« sagte Onkel Harry gut gelaunt.

»Aber, Onkelchen, eine Bitte habe ich noch: ich möchte heimlich den Ball besuchen, ohne daß Lore vorher davon weiß. Die Überraschung bei der Demaskierung denke ich mir großartig. Nicht wahr, du lässest mir auf deinen Namen ein Billett kommen? Denn die Kontrolle in der Essenhausener Ressource ist sehr scharf; es darf durchaus nicht jeder hinein!«

»Ich soll dich allein reisen lassen?« fragte Onkel Harry mit leichtem Widerstand.

»Warum nicht?« rief Trude eifrig. »So ein alter Reiseonkel wie ich, der schon zweimal allein die Reise nach der Schweiz gemacht hat, braucht doch eine siebenstündige Eisenbahnfahrt nicht zu fürchten. Und dann, Onkel,« fuhr sie schmeichelnd fort, kam um den Tisch und schlang bittend die Arme um seinen Hals, »dann mußt du mir dazu das Kleid der indischen Königstochter leihen!«

»Hm!« brummte Onkel Harry, denn das Kleid war ein Hauptstück seiner Sammlung.

»Bitte, bitte!« sagte sie und blitzte ihn ganz nahe aus ihren Schelmenaugen an. Da konnte er nicht widerstehen.

»Meinetwegen!« lächelte er gewährend.

»Hurra!« rief Trude und küßte ihn mitten auf die Glatze.

Am Morgen des Faschingstages stieg Trude schon früh ins Coupé eines D-Zuges. Ibrahim, des Onkels brauner Diener, schob das zierliche Reisegepäck in den Wagen, und Onkel Harry erlaubte sich beim Abschied einen regelrechten Kuß.

»Mach' aber keine Dummheiten, Trude!« rief er ihr noch nach, als sich der Zug bereits in Bewegung setzte.

»I bewahre, Onkel!« schallte es lustig zurück, »höchstens ein paar ganz kleine!«

Die festliche Aufregung Essenhausens hatte indessen ihren Höhepunkt erreicht. Vor ein paar Tagen hatte die vom Festkomitee unter der Hand verbreitete Nachricht, selbst ein überseeischer Konsul habe aus Berlin um Ballkarten geschrieben, Staunen hervorgerufen. Heute war man an das Außerordentliche schon so gewöhnt, daß die Neuigkeit, eine fremde, tiefverschleierte Dame sei im Hotel zum Kronprinzen abgestiegen, um dem Ball beizuwohnen, keinen besonderen Eindruck mehr machte.

Die ganze Stadt war für das Fest in Bewegung, das heißt, einige der Hauptaktricen waren eigentlich ganz unbeweglich; denn der einzige Friseur des Ortes war seit morgens 8 Uhr unterwegs, um allen Damen die Frisuren zu brennen und zu toupieren, und die, welche bereits in früher Morgenstunde das Opfer von Frisierkamm und Brennschere geworden waren, mußten nun den ganzen Tag steif und unbeweglich sitzen.

Bald nach 8 Uhr begab sich die fremde Dame aus dem Hotel zum Kronprinzen auf den Ball. Das Stubenmädchen, das ihr beim Ankleiden geholfen hatte, teilte dem Zimmerkellner ihre Betrachtungen über die Fremde mit. »Sie sah wunderschön aus, Fritze, ganz in rosenrote Schleier verpackt und eine Lilie vorn so auf dem Kopf,« und bezeichnend legte sie ihre dicke rote Faust mitten auf die Stirn. Fritz war von dieser Beschreibung nicht so orientiert; aber er erzählte doch dem Weinreisenden, der unten im Gastzimmer gelangweilt hinter seinem Beefsteak saß, daß die fremde Dame, die heute mit dem D-Zuge angereist gekommen, als Rosenfee auf den Maskenball gehe. An der Table d'hote habe man gemunkelt, es sei die neue Hofschauspielerin aus W.

»Also 'n Maskenball habt Ihr heute in Eurem Nest?« näselte der Weinreisende. »Kann man sich die Geschichte nicht mal ansehen?«

»Nee,« meinte Fritze, »Karten sind keene nich mehr. Und denn lassen sie auch nich all und jeden 'nein.«

Der Weinreisende lächelte von oben herab, zog sein Portemonnaie und legte ein blankes Dreimarkstück auf den Tisch.

Fritz lächelte verständnisinnig: »Na, es müßte denn sein, weil unser Jean heute mit in der Ressource bedient; vielleicht bringt er Sie hinten herum 'nein. Aber das sage ich Sie gleich: ohne Kostüm kommen Sie nich 'nein!«

»Wo gibt's denn bei Euch eine Menschenhaut zu leihen?«

»Gar nichts gibt's mehr, Herr! Für den Herrn auf Nummer 5, der mit dem Siebenuhrzug kam, hab' ich gerade noch 'n Nachtwächter aufgetrieben. Das war das Allerletzte. Aber wenn Sie vielleicht von meinem Bruder, der Postillon ist, die Sonntagsmontur haben wollen, die leiht er Ihnen. Passen tut sie Ihnen schon, denn er ist akkurat so klein und dick wie Sie. Ein paar Stulpstiefeln leih' ich Ihnen vom Schuster Bommer.«

Der Weinreisende nahm Fritzens Vorschläge an, und eine Stunde später kam er von hinten herum in den Ballsaal.

Trude, als indische Königstochter, hatte inzwischen auf legalem Wege ihren sieghaften Einzug gehalten. In den spinnwebfeinen, golddurchwirkten Gewändern aus rosenroter Seidengaze, eine Lotosblume in dem offenen Haar und den jugendlichen Hals mit einer Schnur schimmernder Perlen geschmückt, glich sie an diesem Abend einer Erscheinung aus einem Märchenlande.

In der bunten, zusammengewürfelten Pracht des Saales war viel Widersinniges, Unharmonisches und Groteskes, das den unbefangenen Beschauer zum Lachen reizte. Es schien, als hätten viele Masken mit Fleiß eine Tracht gewählt, die alle Mängel ihrer Person grausam bloßstellte. Die große, imposante Frau Bürgermeisterin sah als Rokoko-Dame noch röter und derber als sonst aus, und das kurze Kleid verriet mehr als nötig, auf wie großem Fuße sie lebte. Ihre Tochter nun wieder war für eine Elsa von Brabant viel zu klein und dick. Der Seminardirektor hatte die Maske Kants gewählt, aber seine dürren Beine waren nicht für Wadenstrümpfe gewachsen, und obwohl die fürsorgliche Gattin ihm über den Mangel der Natur mit einigen Pfund Watte abgeholfen hatte, so hatte doch ein lustiger Gesell die Täuschung wieder zuschanden gemacht, indem er Sr. Ehrwürden einige Schmetterlinge an langen Nadeln auf die Beinpolster stach. Der Geschichtslehrer, ein Schwärmer für das alte Germanentum, kam als Cheruskerfürst; aber leider – es muß gesagt sein – verdeckte das Bärenfell die krummen Beine nicht, was den Eindruck bedenklich störte.

Der Apotheker, der am Stammtisch den Beinamen Napoleon hatte, wollte auch einmal wirklich ein solcher sein. Natürlich wurde er sofort erkannt. Seine Freunde umdrängten ihn, und – war es Bosheit oder Zufall? – er ging aus ihrer Umarmung mit einer aufgetrennten Kreuznaht des Rockes hervor. Statt nun befehlshaberisch und stolz unter ihnen einherzuschreiten, mußte er eiligst das Trinkstübchen aufsuchen und, mit dem Rücken an die Wand gedrückt, im roten Aßmannshäuser Rache für Waterloo nehmen. Sein Busenfreund, der Katasterbeamte und lyrische Dichter des Wochenblattes, hatte sich verschworen, daß ihn niemand erkennen solle. Keiner hätte auch den friedliebenden Mann in der Kriegsrüstung eines Apachenhäuptlings gesucht, wenn er sich nicht selber durch das ihm eigentümliche Kopfnicken verraten hätte.

So kämpften überall Schein und Wahrheit gegeneinander. Trude dagegen war ein Bild vollendeter Anmut, Harmonie und Natürlichkeit. Um sie her war ein Raunen und Flüstern. Hinter ihr folgten Blicke voll bewundernder Glut und tastender Neugier. Unbefangen und ahnungslos schritt sie durch das Gewühl, eifrig nach ihren Freunden spähend. Bald entdeckte sie auch die Eltern ihrer Freundin in den würdigen Gestalten eines altdeutschen Ratsherrn und seiner Gattin. Auch den Sohn des Hauses erspähte sie bald; wie ihr die Freundin geschrieben, schritt er stattlich in der Rüstung des Ritters Wetter vom Strahl herein und führte ein zierliches Käthchen von Heilbronn am Arm. Nur ihre Herzensfreundin Lore vermochte sie nirgend zu entdecken. Vielleicht hatte die Schalkhafte ihr doch die Unwahrheit geschrieben, als sie ihr mitteilte, daß sie eine reizende Postillonsmaske tragen würde. Vielleicht hatte sie aber auch in letzter Stunde noch ein anderes Kostüm gewählt; denn es war Truden gleich unwahrscheinlich, daß die etwas strenge Mama ihr die Durchführung einer Hosenrolle gestatten würde. So spähte sie eifrig unter den weiblichen Masken umher, wurde aber immer wieder enttäuscht. Wenn Gestalt und Bewegung paßte, so stimmte wieder die Haarfarbe nicht, und Lores Goldblond wollte sie leicht aus Hunderten herausfinden.

Inzwischen hatte der Tanz begonnen. Bald drängte sich ein dichter Schwarm von Masken um die holde Fremde. Trude flog aus einem Arm in den anderen, und manch bewunderndes und zärtliches Wort wurde ihr zugeflüstert. Wurde aber das Gedränge um sie zu dicht, so tauchte plötzlich in ihrer Nähe ein Nachtwächter auf, der mit seinem Spieße die Anstürmenden auseinandertrieb. Nur einer blieb fern, auf dessen Nahen sie mit Herzklopfen wartete: der Ritter Wetter vom Strahl. Er schien nur Auge und Ohr für sein Käthchen zu haben. Endlich bot sich ihr bei einer Damentour Gelegenheit, ihn zum Tanze aufzufordern. Er folgte ihrem Winke höflich, aber ohne sonderliche Freude. Aber als er dann mit ihr im Walzer dahinglitt – man spielte gerade die »Rosen aus dem Süden« –, und sie sich halb unbewußt weicher in seinen Arm schmiegte, da fühlte er ein leises heißes Schauern von der holden Gestalt zu sich herübergleiten.

»Wer bist du, schöne Maske?« flüsterte er zärtlich und beugte sich tief zu ihr hinab.

Sie schwieg; aber sie schmiegte sich inniger an ihn, und als letztes Paar tanzten sie noch einmal allein durch den ganzen Saal. Aller Blicke waren auf sie gerichtet; ein Flüstern und Raunen erhob sich. Plötzlich gewahrte es der Mann, er errötete unter der Maske, und rasch den Tanz beendend, führte er sie zu ihrem Platz zurück. Sie blickte ihm sehnsüchtig nach und gewahrte, wie sein Käthchen ihn mit heftiger Rede empfing und mit sich zog in das nebenanliegende Trinkstübchen. Jetzt endlich erblickte sie auch die Freundin. Himmel, wie klein und dick sah die doch in Männerkleidung aus! Trude hatte immer gehört, daß solche die Frauen entstelle; so schlimm hatte sie es sich nicht gedacht. Sie war aber herzlich froh, ihre Freundin gefunden zu haben, denn es war ihr plötzlich einsam und schwül in dem festlichen Treiben. Als sie den Postillon in ein Nebenzimmer treten sah, schlüpfte sie ihm hastig nach, schlang ihren Arm um seinen Hals und flüsterte: »Herzliebe Lore, kannst du raten, wer ich bin?« Und ihr Antlitz dem des Postillons nähernd, nahm sie rasch die Maske ab.

Ehe sie sich's versah, nutzte der Kecke die Situation aus und küßte die Vertrauende dreist auf den Mund. Mit einem Schrei taumelte Trude zurück – sie hatte einen Schnurrbart gefühlt. Der freche Bursche versuchte, sie festzuhalten. Sie entwand sich ihm, ein Stück ihres Schleiers in seiner Hand zurücklassend.

»Was geht hier vor?!« donnerte in diesem Augenblick Wetter vom Strahl, der mit seinem Käthchen in der Türnische erschien. »Ihre Eintrittskarte, mein Herr! Wer sind Sie, daß Sie eine Dame zu belästigen wagen?«

Auch das Käthchen nahm eine herausfordernde Haltung an.

Während der verlegene Postillon etwas von »Karte vergessen haben« und draußen im »Paletot stecken haben« murmelte, benutzte Trude den Moment, um unbeachtet zu entschlüpfen.

Der Wortwechsel im kleinen Kabinett ward inzwischen lauter, der Nachtwächter kam mit seinem Spieß, andere drängten herzu, und bald sah sich der Weinreisende von kräftigen Fäusten ins Freie befördert.

Trude hatte unterdessen in der Garderobe in aller Eile ihre Kleider zusammengerafft und lief wie gehetzt auf die Straße. Hastig um die nächste Ecke biegend, rannte sie gegen ein paar dunkle Gestalten an. Erschreckt taumelte sie zurück; denn im matten Schein einer Laterne starrte sie das federgeschmückte Haupt des Apachenhäuptlings an, der den kleinen krummbeinigen Napoleon, der nun genug Rache für Waterloo genommen hatte, seiner Behausung zuschleppte. Trotz ihres Schreckens mußte Trude lachen, als sie ihre Ballgenossen erkannte, und wohlbehalten erreichte sie bald ihr nahegelegenes Hotel. Kaum war sie aber in ihrem Zimmer angelangt, als sie ganz erschöpft auf einen Stuhl sank und in Tränen ausbrach. All ihr fröhliches Selbstvertrauen war von ihr gewichen. Nun hatte sie sich für alle Zeit vor den Lingens blamiert. Was würde wohl Onkel Harry dazu sagen? Schlimmer aber als alles erkannte sie Wolf Lingens Untreue. Wie schön war es doch an jenem unvergeßlichen Abend am Genfer See gewesen, wo er sie um die Rose an ihrer Brust gebeten und ihr geschworen hatte, die Blume als sein teuerstes Kleinod zu bewahren, bis er einst um sie selber werben dürfe! Und nun hatte er wohl alles vergessen.

Sie hatte es ja mit eigenen Augen gesehen, wie er seinem häßlichen handfesten Käthchen die Cour schnitt. Und die hing wie angewachsen an seinem Arm – eine nette Kokette das!

O, wie sie sie haßte! Sie löste die Lotosblume aus ihrem Haar und schleuderte sie in einen Winkel des Zimmers, als sei dies die gefürchtete Gegnerin. Dann begann sie wieder zu weinen. In ihrem Kummer achtete sie nicht darauf, daß nebenan eine Tür aufgeschlossen und Tritte hörbar wurden. Nun hörte sie plötzlich eine Stimme: Weinen Sie doch nicht, kleines Fräulein! Das kann ja einen Stein jammern! Darf ich rüber kommen und Sie trösten?«

Trude richtete sich kerzengerade auf und schaute sich entsetzt um. Woher kam die Stimme? Plötzlich fiel ihr Blick auf die Tür. Sie verstand und verhielt sich ganz still. Aber die Stimme fuhr fort: »Wie schön ist dieses Haar, wie herrlich der Nacken – o, wer diese rosigen Arme küssen dürfte!«

Sie stand noch immer, ohne sich zu regen, aber sie überlegte, was zu tun sei. Sie gehörte zu den entschlossenen Naturen, denen eine Gefahr erhöhte Geistesgegenwart gibt. Sollte sie nach Hilfe klingeln? Dann kam der Hausknecht, dessen dummes, grinsendes Gesicht ihr widerwärtig war, und den sie nicht zum Vertrauten ihrer Not machen wollte. Die Tür, das wußte sie, hielt dicht; denn sie war kein Neuling im Reisen und hatte längst den Riegel vorgestoßen. So löschte sie blitzschnell das Licht. Nun wußte sie, daß sie vor Beobachtungen sicher war. Der Zudringliche verstummte bald, als er keine Antwort erhielt, aber sie wagte es dennoch nicht, sich zu entkleiden, sondern hüllte sich in ihren Pelzmantel und setzte sich in die Sofaecke. Es war eine schreckliche Nacht, die sie da zwischen fiebernder Angst und fröstelndem Schauern verbrachte. Erst im Morgengrauen wagte sie es, sich umzukleiden und bequemer zurechtzusetzen. Dabei schlief sie denn wirklich ein, und als sie endlich erwachte, schien die Morgensonne hell ins Zimmer. Hastig klingelte sie nach dem Stubenmädchen und befahl das Frühstück.

»Der Herr von Nummer 5 läßt das Fräulein bitten, doch herunterzukommen und mit ihm zu frühstücken,« sagte das Mädchen.

Wie eine gereizte Tigerin fuhr Trude auf die Ahnungslose zu. »Sie Unglückselige!« rief sie verächtlich. »Wie können Sie sich zu einer solchen Botschaft brauchen lassen!?«

Das Mädchen starrte die Fremde an, als habe diese den Verstand verloren. »Der Herr hat auch seine Karte mit raufgeschickt,« sagte sie kleinlaut.

Nein, diese Frechheit ging zu weit. Trude griff nach dem Kartenblättchen, um es vor den Augen des Mädchens zu zerreißen. Dabei las sie aber doch unwillkürlich den Namen: Harry von Wenckstern, Konsul a. D. Wie elektrisiert fuhr sie herum. »Wie sieht der Herr aus?«

»'ne Glatze hat er und solch grauen Kotelettenbart wie unser Ober. Und dann trägt er 'n Kneifer und hat drei goldene Bummelagen an der Uhrkette.«

»Stimmt!« jubelte Trude, faßte das Mädchen an der Schulter und wirbelte es im Kreise herum, bis ihr der Atem ausging. »Und da«, fragte Trude zweifelnd, auf die Tür zur Rechten deutend, »hat Herr Wenckstern gewohnt?«

»Nein,« meinte das Mädchen, »das ist ja Nummer 3; das hatte ein Weinreisender; der ist schon heute früh um Sechse fortgefahren, aus Ärger darüber, daß sie ihn auf dem Ressourcenball rausgeschmissen haben.«

Fünf Minuten später lag Trude an ihres Onkels Halse und berichtete schluchzend alle Erlebnisse und Schrecknisse der vergangenen Nacht.

»Ich weiß, mein Kind,« tröstete der Onkel, »ich war ja selbst auf dem Ball. Ich wußte ja doch, daß du Dummheiten machen würdest, Kleine, und so fuhr ich mit dem nächsten Zuge hinterher und hütete als Nachtwächter mein Schäfchen. Gestern abend entschwandest du mir so schnell, und als ich ins Hotel kam, hörte ich, du seiest schon zu Bett gegangen. Da wollte ich deinen Schlummer nicht mehr stören. Hätte ich freilich geahnt, was du noch auszustehen hattest, hätte ich's doch getan.«

»Laß uns gleich nach Hause reisen, Onkel!« bat Trudchen.

»Und die Lingens?« fragte der Onkel verwundert.

»Die besuche ich ein anderes Mal!« erklärte Trudchen und küßte Onkel Harry so zärtlich, daß er gerührt nachgab.

* * *

Eine Stunde später saßen beide im Coupé, und eben sollte der Zug abfahren, als die Tür aufgerissen wurde, und ein junger Mann eilig in den Wagen sprang. Kaum hatte er Trudchen erblickt, als er noch einmal ans Fenster eilte und einem eben davongehenden Freunde zurief: »Du, Wolf, hör' mal!«

Der Angerufene kam zurück. Der Freund beugte sich aus dem Fenster und flüsterte ihm zu: »Die schöne Indierin ist im Coupé!« Wolf sprang auf das Trittbrett, und nachdem er einen Blick in das Innere des Wagens getan, riß er die Tür auf, und trotzdem der Zug sich eben in Bewegung setzte, sprang er mit einem mächtigen Satze mitten ins Coupé, so daß Onkel Harry erschreckt seine Füße in Sicherheit brachte.

Trudchen wandte schnell das errötende Gesicht ab. Aber das nützte ihr wenig.

»Fräulein Trud – Fräulein von Saldern! Herzlich willkommen in meiner Heimat! Wie kommen Sie hierher?«

»Aus Indien!« entgegnete Trude schelmisch, die in des Onkels Nähe sich sicher fühlte.

»Wirklich?« Er blitzte sie aus seinen leuchtenden Blauaugen an. »So hat mich gestern beim Walzer meine Ahnung nicht getäuscht! Aber wie konnte ich glauben –«

»Darf ich Sie meinem Onkel vorstellen?« lenkte Trude ab.

»Herr Studiosus Wolf Lingen! Mein Onkel, Konsul Wenckstern!« präsentierte sie die beiden Herren.

Onkel Harry lächelte verbindlich. »Studiosus juris?«

»Seit einigen Wochen Referendar, Herr Konsul! Gestatten Sie!« Und er quetschte sich gegenüber auf die Bank neben seinen Freund, obgleich er da eigentlich überzählig war.

»Wie himmlisch wäre es gewesen, wenn ich gewußt hätte, daß Sie gestern den Ball besuchten! Daß mir Lore das verschweigen konnte –«

»Die wußte ja selber nichts. Ich freute mich so sehr darauf, sie alle zu überraschen, und es wäre alles nach Wunsch gegangen, wenn mich Lore nicht auch genasführt hätte, so daß ich sie in jenem Postillon suchte, was der Elende ausnutzte –« sie brach erregt ab.

»Fräulein von Saldern,« fuhr Wolf auf, »wir haben den Wicht, der es wagte, bei uns eine fremde Dame zu beleidigen, hinausgeworfen. Aber befehlen Sie nur, so werde ich mich mit ihm schlagen!«

»Nein, o nein!« wehrte Trudchen ab, »das würde ich nie erlauben, und,« fügte sie spöttisch hinzu, »das erlaubt auch Ihr Käthchen nicht!«

»Mein Käthchen?« Er lachte hell auf. »Erlauben Sie, daß ich's Ihnen vorstelle: Herr Studiosus camer. Franz Wilde aus Jena!«

»Sehr verbunden, gnädiges Fräulein, daß Sie mich für echt nahmen! Habe freilich selbst meine Manneszier ob der Rolle opfern müssen!« sagte der Vorgestellte.

»Allzu groß war das Opfer nicht!« meinte Wolf Lingen spöttisch. »Murre nicht, Knabe, der Bart kommt wieder, und Fasching kommt wieder; das habe ich auch Lore zum Trost gesagt!«

»Lore?« fragte Trude verwundert.

»Ja, die war gar nicht auf dem Ball,« sagte Wolf Lingen erklärend. »Sie hatte das Pech, sich gestern morgen den Fuß zu vertreten. Sie wollte als weiblicher Postillon kommen; nun mußte sie zu Hause bleiben. Wir wollten erst alle nicht gehen; aber gutmütig, wie sie ist, schickte sie uns doch fort. Sie haben sie gar nicht gesehen, Fräulein von Saldern?«

»Nein,« meinte Trudchen kleinlaut.

»Wohin reisen Sie eigentlich, Herr Lingen?« fragte Onkel Harry.

Der Referendar kam in große Verlegenheit. »Ich? Ich reise eigentlich gar nicht,« stotterte er, »ich begleite nur meinen Freund eine Station weit.«

»Aber der Schnellzug hält doch erst in anderthalb Stunden in Weißenfels?« meinte Trudchen triumphierend.

»Leider sind die schon bald herum!« seufzte Wolf Lingen.

»Aber, gnädiges Fräulein, Herr Konsul, wollen Sie denn gar nicht meine Eltern begrüßen? Und wie würde sich meine arme kleine Lore freuen, wenn Sie so gütig sein wollten, noch einmal umzukehren –«

»Ach, bitte, lieber Onkel, laß uns umkehren!« bat Trudchen.

»Aber, Kind, nur keine Dummheiten!« wehrte Onkel Harry ab.

»Weißenfels! Drei Minuten!« rief der Schaffner.

»Onkel,« versicherte Trudchen, »das soll auch meine letzte Dummheit sein!« Und sie sprang so schnell aus dem Coupé, daß ihr die beiden Herren kaum zu folgen vermochten.


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