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Cécile.
Novelle von Hermine Villinger

Ich bin im Elsaß geboren, am 6. September 1860; mein Vater ist Besitzer einer Baumwollspinnerei; meine Mutter starb als ich auf die Welt kam.

Jeden Morgen um sechs ging die Großmutter mit ihrem Schlüsselkorb durch das Haus und dann über die Wiese in die Arbeiterwohnungen; da standen schon die Weiber und warteten auf sie, und die kleinen Kinder sprangen ihr entgegen, denn sie hatte immer etwas in der Tasche. Des Nachmittags saß sie in ihrem Erker, die große Brille auf der Nase, strickte Strümpfe für die Fabrikkinder und las die Zeitung; alles was in der Welt vorging, wußte die Großmutter und redete bei Tisch darüber mit dem Vater; ich sah es wohl an seinen Mundwinkeln wie er sich zusammen nahm, denn er ist ein Deutscher, und Großmutter schalt fortwährend über Bismarck; sogar Coco, Großmutters Papagei, schrie zu jeder Tageszeit: » à bas Bismarck

Von allen Festen, die es im Jahr gab, war mein Geburtstag das schönste, weil dazu sämtliche in der Fabrik beschäftigten Kinder eingeladen wurden, und Großmutter ungeheuer viel backen und schlachten ließ, und wir schon lang vorher an nichts anderes mehr dachten. Aber erst die Kinder! denn dieses Fest war ihre einzige Freude im Jahr. Nicht früh genug konnten sie den großen Schuppen hinter der Wiese ausräumen und schön blank putzen; dann wurde der ganze Raum mit Tannenreisern geschmückt bis hinauf. Des Nachmittags, am 5. September, Punkt 2 Uhr, kamen sie angerückt, Knaben und Mädchen, 30 an der Zahl, meist Findelkinder, die für ihre Pflegeeltern Geld verdienen mußten. Die Mädchen trugen Sträuße in der Hand, die Knaben Blumen an den Mützen. Wir bewillkommneten sie, und Großmutter ließ es sich nicht nehmen, ihnen selbst den Kaffee einzuschenken. Wenn der Wein kam, wurde es einen Augenblick still, jeder hielt sein Glas in der Hand, hierauf ließ der Älteste erst die Großmutter, dann den Vater, dann mich leben. Ein Drehorgelmann mit einem Bein spielte zum Tanz auf bis abends um 9 Uhr.

Der erste Kummer meines Lebens war Mademoiselle, meine Gouvernante; sie war Pariserin und verachtete Großmutter wegen ihrer Aussprache und nannte sie, ihrer hohen Hauben wegen, nie anders als Madame Pompadour.

Mich nannte sie monstre und warf mir bei jeder Gelegenheit vor: » Il n' y a pas une goutte de sang français dans vos veines

Ich mußte jedoch alles stillschweigend hinnehmen, denn so seelengut die Großmutter in allen Dingen und allen Leuten gegenüber war, in der Politik, und wenn es sich um die Aussprache handelte, war sie hart.

Zum Beispiel hatte ich des Sonntags nachmittags beim Vater Unterricht in der deutschen Sprache, wo ich die herrlichsten Gedichte lernte, und wir so glücklich hätten sein können, wenn uns Großmutter nicht immerfort gestört hätte, da diese deutschen Stunden ihr der größte Dorn im Auge waren.

Oft speiste der alte Doktor bei uns, und es geschah einstmals, daß er erzählte, er habe einen kleinen Patienten, der ihm Kummer mache, nämlich der Jaquesle; so oft er ihn besuche, finde er ihn kraftloser, aber es sei nichts aus dem Kind herauszubringen.

Großmutter schickte gleich kräftige Suppe hin, und ich besuchte Jaquesle; er lag auf einem Strohsack; seine Decke war ein alter Rock; Jaquesles Pflegemutter, die viele eigene Kinder hatte, lamentierte laut und tat wie verzweifelt.

Ich fragte, ob ihm die Suppe, die Großmutter schickte, schmecke.

»Frilich, frilich,« sagte die Frau, »alles ißt er, nit emol e Löffel voll loßt er iwer.«

Der Jaquesle sagte aber kein Wort und schwieg, nur wurde sein Gesichtchen noch ein wenig bleicher.

Da wurde mir unaussprechlich bang zumut, und ich mußte den ganzen Tag zu mir selbst sagen:

Am End' kriegt der Jaquesle doch nicht alle Suppe zu essen. –

Es war an einem Sonntag nachmittag, Vater und Großmutter politisierten, Mademoiselle hatte sich mit ihrem Buch ins Gartenhäuschen gesetzt, da stahl ich mich fort und kroch in den Hühnerstall hinter Jaquesles Kammer, denn da sah mich niemand, ich aber lag mit dem Kopf unter dem Türchen und konnte alles sehen, was in der Kammer vorging. Es war freilich furchtbar eng im Hühnerstall und ein schrecklicher Geruch, aber endlich kamen die Fabrikleute von ihrem Spaziergang nach Haus, und unsere Kathrine brachte die Suppe; sie stellte sie neben Jaquesle hin und ging; kaum war sie fort, fiel die Frau über die Suppenschüssel her und aß sie mit ihren Kindern völlig aus, dem Jaquesle warf sie nur ein kleines Stück Brot hin.

Da kroch ich aus dem Hühnerstall und lief nach Haus und zitterte an allen Gliedern und weinte, und als der Vater mir entgegen kam, warf ich mich an seinen Hals und rief:

»Der Jaquesle kriegt nichts zu essen, der Jaquesle muß verhungern!«

Mademoiselle schrie laut auf und hielt sich die Nase zu bei meinem Anblick.

Der Vater fragte: »Wo in aller Welt hast du gesteckt, Cécile?«

Ich sagte: »Im Hühnerstall, von dort konnte ich alles sehen.«

Großmutter ging noch an demselben Abend zu jener bösen Frau und ließ Jaquesle in eine ledige Stube bringen im Krankenhaus, und schon nach ein paar Tagen war er viel besser, und der Arzt sagte, das ganze Leiden sei Hunger gewesen. Darüber war Großmutter untröstlich und gönnte sich von diesem Augenblick an keine Ruhe mehr wegen der Findelkinder.

Ich aber ging zu Ostern mit all meinen bunten Eiern und großen und kleinen Hasen zum Jaquesle und legte ihm alles aufs Bett. Da hat er erst kein Wort hervorgebracht vor lauter großmächtigem Erstaunen, und dann nach einer Weile, als ich ging, rief er mir nach:

»Gal, de mach'sch d' Tür güet zö, dann jetz, wo i rich wore bin, kennt eine kumma un mer mi Sach stelle.« –

Und ich saß viel an Jaquesles Bett und las ihm vor aus Schillers Gedichten, und es dauerte gar nicht lang, konnte er ganz ordentlich deutsch lesen, so daß ich ihm einen Schillerband lieh.

Als der Jaquesle wieder gesund und kräftig war, wurde er in einer Familie untergebracht, in der kurz vorher ein Bub gestorben war; die Frau hatte geweint und geschluchzt, und das Kind war gehegt und gepflegt worden wie ein Prinzle; nach seinem Tod stellte es sich auf einmal heraus, es war ein Findelkind gewesen, und niemand hatte es gewußt, nicht einmal die Großmutter.

Da kam der Jaquesle hin und lebte glücklich und zufrieden.

Um jene Zeit war es, als es mit der Politik immer schrecklicher aussah, und als eines Tages Coco bei Tisch: » à bas Bismarck« – schrie, wurde der Vater plötzlich totenblaß und sagte:

»Das kann ich nicht mehr hören – der Vogel muß fort.« –

Mademoiselle, die nie bemerkte, wenn jemand traurig oder ernst war, nahm den Käfig in ihre Arme, sang: » Malborough s'en va-t-en guerre« – und trug ihn in ihre Stube, denn sie liebte Coco mehr als uns alle.

Als aber eines Tages Kathrine mit großer Bestürzung erzählte, Coco sei fast gar gestorben, Mademoiselle habe vergessen, ihn zu füttern, kam er wieder in die Eßstube und Großmutter nickte ihm zu und sagte: » bon jour, Coco, bon jour, Coco!«

Da lachte er grell auf und rief:

» Oh la vieille Pompadour avec son Baragonin

Es war ein entsetzlicher Augenblick: Großmutter richtete sich hoch auf, Mademoiselle sank fast mit dem Gesicht in den Teller, es war eine Pause, wie ich nie in meinem Leben eine erlebt, dann sagte die Großmutter:

» Bravo Coco, tu as en effet mieux profité de l'accent de Mademoiselle que nous autres.« –

Und Mademoiselle, die sonst für alles in der Welt eine Entschuldigung wußte, blieb zum erstenmal im Leben stumm.

Nach Tisch stürzte sie wie eine Furie auf den Käfig los und schwor, Coco zu vergiften; ich hatte jedoch keine Angst, da Mademoiselle schon in der nächsten Stunde nie mehr wußte, was sie sich in der vorigen vorgenommen.

Im Juli 1870 trat der Vater mit der Nachricht in die Stube: »Der Krieg ist erklärt!«

Da wurde Großmutters Gesicht starr wie ein Stein, und sie nahm die Brille ab und faltete die Hände.

» Mais qu'avez-vous donc, Madame,« rief Mademoiselle, » nous irons à Berlin!«

» Oui, oui, si n'était pas Monsieur de Bismarck,« sagte die Großmutter.

Von dieser Zeit an sah man die Großmutter den ganzen Tag mit dem Schlüsselkorb treppauf, treppab gehen; das ganze Hinterhaus wurde als Lazarett eingerichtet; im Saal saßen eine Menge Frauen und Mädchen und nähten.

Am dritten August kam die Nachricht von einem glänzenden Sieg der Franzosen bei Saarbrücken; die Freude war unbeschreiblich; die Leute strömten aus der Fabrik, Großmutter versprach ihnen ein Fest für den kommenden Tag. Als der Vater dies hörte, erklärte er, es sei ein verfrühtes Beginnen, worauf Großmutter die bösen Worte zu ihm sagte: » Gardez-vous bien, Monsieur, de nous gâter nos victoires

Am folgenden Abend kamen unsere Fabrikarbeiter mit Gesang und Lampions auf der Wiese hinter unserem Garten zusammen; große Krüge Wein wurden aus dem Keller geholt, und Großmutter schenkte die Gläser voll; dann hob sie das ihre in die Höhe und rief: » Vive la France! vive l'empereur!«

Alles war wie von Sinnen, als der Vater mit einer Depesche kam.

»Zu früh, zu früh,« rief er, »die Deutschen haben gesiegt bei Weißenburg!« Niemand wollte es glauben, und ich sah, wie all' die Männer, die meinen Vater bisher über alles geliebt, ihm böse, feindliche Blicke zuwarfen; er zeigte ihnen die Depesche, aber sie wollten es trotzdem nicht glauben und tranken und schrien fort, und zogen mit ihren Lampions durch die Stadt bis tief in die Nacht.

Wenige Tage darauf hieß es, die Franzosen hätten eine Schlacht bei Wörth gewonnen. Und jetzt fing für mich jener größte und unaussprechlichste Kummer meines Lebens an, denn als die Großmutter abermals die Leute auf der Wiese bewirten wollte, machte ihr der Vater bittere Vorwürfe, und zum erstenmal, daß er rauh und heftig zu ihr sprach – und ihr sagte, er sei der Herr, und sie habe hinter seinem Rücken nicht mit den Leuten zu verhandeln, und sie von der Arbeit zu locken, noch dazu, wenn ihre Nachrichten so unzuverlässiger Art seien.

Von dieser Zeit an gingen sich die Großmutter und der Vater aus dem Weg; nie, daß sie mehr ein Wort miteinander sprachen, aber bei jedem Sieg der Deutschen fiel die Großmutter mehr zusammen, und ihre Augen schauten wie aus Höhlen. Ich kann nicht beschreiben, wie weh mir das Herz tat, ich wußte nicht, um was ich den lieben Gott bitten sollte, denn als ich einmal den Vater in seiner Stube aufsuchte, saß er still an seinem Schreibtisch, und die Tränen liefen ihm über die Wangen:

»Oh, lieber Vater,« rief ich aus, »was ist dir?«

Da nahm er mich auf den Schoß und sagte mir ins Ohr:

»Kind, ich freue mich im stillen der Siege der Deutschen.«

»Also, wie hätte ich können den lieben Gott um Sieg für die Franzosen bitten?

Doch einen Trost hatte ich, das war des Abends, da kamen die Kinder aus der Fabrik auf dem Bergle, wo unsere Reben sind, zusammen, denn Vater erlaubte nicht, daß sie länger als bis sechs Uhr arbeiteten.

Da lagen die Rebberge so still und friedlich in der Welt, daß wir alles Traurige vergaßen, und ich wie früher »Den Gang nach dem Eisenhammer« deklamierte, oder »Die Worte des Glaubens«, oder »Die Kindsmörderin«, was wir am meisten liebten.

An einem solchen Abend brachte mir der Jaquesle meinen Schillerband zurück – aber wie! Schwarz – innen und außen rabenschwarz! Bei diesem Anblick war ich sehr betroffen, aber Susanne, die schon ein wenig groß war, meinte, es ließe sich vielleicht abwaschen. Wir gingen alle zum Brunnen, aber das Buch wurde vom Reiben nicht schöner, sondern immer unkenntlicher. Dem Jaquesle liefen die Tränen über die Wangen.

»I will äu ebbis sage,« rief er, »wann mi ebbis so racht kränkt, tu i immer singe – mer wann singe!«

Da fingen wir alle an aus Leibeskräften zu singen, und es wurde immer stärker und toller und lustiger, als auf einmal ein Bub gelaufen kam.

»Horcht, horcht,« schrie er, »mien nimme singe, b' Preiße sin im Land!«

In demselben Augenblick hörten wir einen dumpfen Knall, ein Pfeifen in der Luft, und der Boden zitterte unter unseren Füßen.

Da sind wir alle niedergekniet und haben ein Ave gebetet, worauf die Großen die Kleinen bei der Hand nahmen und den Berg hinuntereilten.

Ich aber mußte denken: wie wird's jetzt zu Haus sein? und darum weinte ich bitterlich, als plötzlich der Jaquesle vor mir stand und sagte:

»Worum griensch, Maidele?«

»O Jaquesle,« rief ich aus, »siegen die Deutschen, ist die Großmutter unglücklich, und siegen die Franzosen, ist der Vater unglücklich – was soll ich denn Beten, was tät'st du an meiner Stell'?«

»I,« sagte er, »i wott froh si, wann i so e Vadder hatt.«

Darauf fiel es mir plötzlich wie viele Zentner vom Herzen, und als wir miteinander 's Bergle hinuntergingen, kam uns der Vater entgegen. Jaquesle streckte ihm gleich das Buch hin und sagte:

»I ha's verdrackt, Herr, awer i ka se alli üswandig.«

»Das ist noch ein Trost,« sagte der Vater und versprach Jaquesle eine Menge andere Bücher, sobald er sich angewöhne mit sauberen Händen zu lesen.

Plötzlich kam französische Einquartierung in die Stadt und Mademoiselle plünderte alle Rosenstöcke für die Offiziers, und sie waren sehr fröhlich und zuversichtlich und sagten, es ginge alles à merveille. Der Vater ließ sich kaum sehen, Großmutter wurde plötzlich wie um zehn Jahre jünger, und da Mademoiselle sehr viel für die Offiziere zu tun hatte, konnte ich den ganzen Tag treiben, was ich wollte, welches darin bestand, daß ich jeden Abend das reife Obst in einen Korb sammelte, und diesen auf die niedrige Gartenmauer stellte, wo ich und die Fabrikkinder uns darum herumsetzten. Dabei knatterte es immerfort, und wir unterhielten uns, was wir täten, wenn erst die Kugeln in die Stadt fielen.

Jaquesle meinte: »Z'erscht vergraw i mi Seif –« denn ich hatte ihm ein Stückchen Seife für seine Hände geschenkt.

Susanne meinte: »Am beschta hat's Monsieur le curé, wann da stirbt, kummt 'r glich in der Himmel.«

Die anderen schrien: »De Preiße kumme awer in d' Hell, die mien brote!«

Plötzlich zogen unsere Soldaten über Hals und Kopf ab, und die Kugeln flogen wirklich in die Stadt; bei uns wurde schnell alles mögliche in den Keller geschafft. Da die Arbeiterwohnungen sehr dem Kugelregen ausgesetzt waren, nahm die Großmutter alle Kinder im Keller auf. Sie kamen und hatten alle etwas gerettet; die meisten ihre Puppen, eines brachte zwei junge Kätzle, ein anderes einen Blumentopf, viele ihr Kopfkissen; Jaquesle und ich, wir trugen den ganzen Schiller in einem Korb herunter.

Es war als ob es Feuer regne, so voll war die Luft von Funken, aber die Kinder schliefen die ganze Nacht trotz des fürchterlichen Schießens. Wenn ich aufwachte, sah ich Großmutter zwischen den Schlafenden hin- und hergehen, wie sie die Kinder zurechtlegte oder zudeckte und dann wieder die Hände rang und entsetzlich stöhnte. Ich aber wußte nicht, wo der Vater war, getraute mich nicht nach ihm zu fragen und weinte darum vor Angst in mein Kissen hinein. Mademoiselle schlief neben mir und hörte mich nicht, aber Jaquesle kam über die anderen Kinder zu mir her gekrochen, und als ich ihm sagte, ich fürchte, die Preußen schießen den Vater tot, sagte er kein Wort, sondern schlich leise auf den Zehen zum Keller hinaus.

Am anderen Morgen hörte das Schießen plötzlich auf, und der Vater rief herein, wir könnten ruhig wieder ins Haus hinaufziehen.

Der Weibel schritt durch die Gassen, trommelte und verkündigte:

»D' Preiße kumme; der Herr maire loßt die Burgerslütt bitte, die Herre doch rächt freundli ufz'nemmi, daß kei größeri Unannehmlichkeite für d' Stadt entstehe; sie mien bekumme: e halb's Pfund Fleisch uf der Mann, G'müs und e Buttel Wi, Schnaps und Zigare; am Morge Kaffee mit Milch un Zucker un Wißbrod.«

Bald darauf sahen wir den ersten Deutschen; dies war ein Offizier mit einer Waffe in der Hand; er saß neben dem Bürgermeister im Wagen. Wir starrten alle den Preußen an, und jemand frug den Bürgermeister: »Fahrsch spaziere?« Er sagte: »Howi e Wahl?«

Gegen Mittag zogen die Preußen ein; auf dem großen Platz vor dem Haus stellten sie sich auf: ich sah durch die Spalten der Fensterladen; aber es waren nicht allein die Preußen, welche ich sehen wollte, sondern ich war tief bekümmert um Jaquesle, den kein Mensch gesehen hatte, seit er in der Nacht fortgegangen war.

Auf einmal kam er mitten unter den Preußen dahergeritten, mit einem Soldaten, der ihn vor sich auf dem Pferde hatte; er setzte ihn vor dem Haus ab, und ich riß die Türe auf und sprang ihm entgegen und rief:

»O Jaquesle, Jaquesle, wo bist du gewesen?«

»Bi de Preiße druß,« schrie er, »durch Kugele dueri, un g'sait han i 's ene, se solle nimme uf d' Stadt schieße, daß se unser Herr nit treffe – mai, se han mer z'asse ga un rite howi derfe – numme ditsch kenne se nit, d' Preiße, i hab se kei Brösele verstande.«

Des Abends saßen Mademoiselle und ich im kleinen Salon neben dem Eßzimmer, in dem es dunkel war. Draußen fragte ein preußischer Offizier nach dem Vater, und Kathrine führte ihn ins Eßzimmer. Plötzlich sagte Coco drinnen: » Bon jour, monsieur

»Pardon,« sagte der Offizier, ich wußte nicht, daß jemand hier ist.«

Mademoiselle wollte sich totlachen und hielt mir den Mund zu.

Mit einmal schrie Coco: » A bas Bismarck! à bas Bismarck

Der Offizier rief ganz außer sich: »Was unterstehen Sie sich,« – und zog den Säbel.

Da riß ich mich mit aller Gewalt von Mademoiselle los, nahm die Lampe vom Tisch und eilte ins Eßzimmer.

»Mein Herr«, rief ich, »es ist nur ein Vogel!«

Da gab es ein großes Gelächter, Mademoiselle kam, und sie und der Offizier unterhielten sich sehr freundlich miteinander, bis die Großmutter unter der Türe erschien und Mademoiselle furchtbar böse anschaute.

Am anderen Tag aber, als wir Kinder am hinteren Gartenpförtchen zusammenkamen, waren wir sehr erstaunt, eine Schildwache zu finden, nämlich einen Pommern. Wir schimpften ihn: »furt Preiß'« – und warfen ihn mit Zwetschgensteinen und Birnenstielen. Aber der Pommer wurde kein bißchen böse, sondern schaute ganz freundlich Susannes kleines Schwesterchen an, das sie auf dem Arm trug und sagte etwas von einem Marriechen, bis ich endlich verstand, daß er ein ebenso kleines Kind zu Hause habe. Da kam er uns gar nicht mehr schrecklich vor, und ich streckte ihm sogar eine Birne hin; er aber schüttelte den Kopf und sagte: »darrrf nicht« – worauf ich ihm die Birne in die Tasche steckte. Nun kamen die anderen schnell herbei und steckten ihm alle Taschen voll Obst, so daß er sich mit dem Rockärmel tief gerührt über das Gesicht fuhr.

»Geh, Katele,« sagte Susanne zu ihrem kleinen Schwesterchen und hob es in die Höhe, »gib dem Soldat e Schnitzle, daß er nimmer griene tut!«

.

Da freute sich der Pommer ganz unsäglich und nahm das Katele auf den Arm und herzte es, und wir faßten uns alle bei den Händen und tanzten um ihn herum.

Auf einmal, wie ich zu Tisch kam, war Mademoiselles Gedeck neben mir verschwunden, und als ich fragte, ob sie nicht mit uns speise, erwiderte Großmutter: II n'y a pas de place à ma table pour une personne, qui fait des yeux doux à l'ennemi.

Es war während der Weinlese, als wir zum erstenmal das Bombardement von Straßburg hörten und große feurige Kugeln in der Ferne aufsteigen sahen. Aber die Leute sagten: Se flagge rüs – und waren darum doch lustig, weil's eben Herbst war, und nur wenn es wieder einen starken Knall gab, daß der Berg dröhnte, knieten wir alle in den Reben nieder und beteten.

Es war am 27. September, als die Großmutter des Abends auf den Berg kam; das Schießen war so schrecklich geworden, daß niemand mehr ein Wort sprach, und sogar wir Kinder verstummt waren. Plötzlich entstand eine Todesstille in der Luft; alles starrte in die Höhe, die Leute kamen drunten aus der Fabrik gestürmt und umringten die Großmutter.

» O mes enfants,« sagte sie, » Straßbourg est perdu!« hob die, Hände hoch zum Himmel und brach in Weinen aus.

Da sind wir um sie herum gekniet in fürchterlichem Schmerz, und die Leute schrien:

» A bas les prussiens – mer bringe d'Iquartierung üm – nous les tuerons

» Non, non,« rief die Großmutter, » écoutez mes amis« – es war zu spät, sie stürzten lärmend und schreiend den Berg hinunter.

Jaquesle hatte mich bei der Hand genommen: »Horch, Cécile,« sagte er, »des gibt en Unglück – kumm durch d' Rawe, mer sage's dim Vadder.«

Wir rutschten zwischen den Rebstöcken hinab, blieben hängen, fielen hin, zerrissen unsere Kleider und stießen uns blutig, aber wir kamen, Gott Lob und Dank, vor den Leuten unten an. Kaum hatte der Vater gehört, um was es sich handelte, rannte er über die Gasse, den Leuten entgegen; am Berg unten traf er mit ihnen zusammen.

Wir waren ihm nachgeeilt und kamen dazu, wie er sie bat und beschwor, sich nicht ins Unglück zu stürzen; sie aber schimpften ihn »verdammter Ditscher« und warfen mit Steinen nach ihm; einer traf den Vater, daß er blutete; laut schreiend umfaßte ich ihn; da traf mich ein Stein am Kopf, daß ich fiel; der Vater nahm mich auf den Arm, die Leute wichen entsetzt auseinander, denn die Großmutter kam hinter ihnen den Berg herunter. Sie riß ein Tuch auseinander und band es mir um den Kopf; ich sah, daß ihre Lippen zitterten und sie reden wollte und nicht konnte.

Jaquesle aber schrie den Leuten zu:

»Warte nume, wann ihr's Cécile umbracht han, so kumme mer alli in d' Hell!«

Da kamen sie weinend herbei, viele warfen sich auf die Knie und schrien: pardon, pardon!

Der Vater sagte: »Geht nach Haus« – worauf sie ohne Widerspruch auseinandergingen.

Ich wurde ein wenig krank, aber so wie der Vater zu mir kam, verließ die Großmutter das Zimmer, und das tat mir noch viel weher als alle meine Schmerzen.

Ich sagte eines Tages dem Vater ins Ohr: »Ich bitt' dich um Verzeihung für die Großmutter.«

Er streichelte mich sanft und sagte: »Ich bin ihr nicht böse, Kind, ich beklage sie viel zu sehr.«

Es war am dritten März, als plötzlich unter der Einquartierung ein grenzenloses Jubelgeschrei entstand; gleich darauf stürzten die Männer, Frauen und Kinder der Fabrik über den Hof und die Treppe hinauf und riefen heulend nach der Großmutter. Der Vater wollte sie im Gang draußen zurückhalten, aber die Großmutter riß die Türe auf mit den Worten:

»Venez à moi, mes enfants, qu'avez-vous à me dire

Da schrien sie alle durcheinander:

»Si sin in Paris izoge – der Bismarck hät Frede gemacht – un mir were ditsch.« –

Die Großmutter fuhr zusammen und griff mit beiden Händen nach dem Herzen:

»Pour moi, c'en est fini quand même,« sagte sie. » Dieu merci – je lui échapperai

Vater hatte die Großmutter in seinen Armen aufgefangen und in ihren Stuhl gesetzt; die Leute gingen leise fort, nur Jaquesle und ich blieben und weinten.

Da öffnete Großmutter die Augen und fragte: » Où est ton père, Cécile?« Der Vater trat vor die Großmutter hin, und sie gab ihm die Hand.

» Ah, la guerre,« sagte sie, » c'est elle qui déchire tous les liens – mon pauvre ami – chère mignonne – je vous quitte – mais je vous benis.« – Und Großmutter starb.

Ihr Begräbnis war am fünften März; weil kein Platz im Hause war für die vielen Leute, vierhundert an der Zahl, welche der Großmutter die letzte Ehre erweisen wollten, fand die Einsegnung im Hof statt. Der ganze Boden war mit Tannenreisern belegt, der Sarg stand wie in einem Wald von Tannen. An den Wänden standen die Stadtleute und Offiziere unserer Einquartierung, auch viele Pommern. In langem Zug kamen, die Männer und Frauen der Fabrik und legten ihre Kränze am Sarg nieder; zuletzt kamen die Findelkinder; sie brachten! einen Kranz von Moos und Epheu und legten ihn rings um den Sarg der Großmutter; hierauf knieten sie nieder, und Jaquesle sagte:

»Mir wann e Vadderunser bette für unseri Muetter.«

Worauf sie laut beteten.

Die erste Freude nach all dem großen Leid war, daß ich nach Herzenslust für Jaquesle einkaufen durfte; dies geschah nämlich heimlich zwischen dem Vater und mir; dann mußte der Jaquesle kommen; ich hatte alles schön auf den Tisch gelegt – Kleider, Wäsche und einen großen Stoß Bücher. Der Vater aber sagte:

»So, mein Sohn, jetzt geht man nach Straßburg, auf die Schule und wird ein tüchtiger Mensch, verstanden?«

Statt aller Antwort blieb der Jaquesle kreideweiß vor dem Tisch stehen und riß sich fast die Finger aus.

»Aber Jaquesle,« rief ich, »so rede doch, was gefällt dir denn am besten von all' den Sachen?«

»Daß i ebbis lerne derf,« sagte er, und machte vor dem Vater einen Diener bis auf die Erde mit den Worten: »I sag viel mol merci.«

Am Abend vor seiner Abreise kam er noch einmal ans Gartenpförtchen und zwar in seinen neuen Kleidern, daß ich ihn kaum erkannte; er steckte mir ein kleines Ringchen von blauen Perlen an den Finger mit den Worten:

»Gall, de tuesch warte bis i groß bin, un ebbis g'lernt ha, derno kumm i di geh hirote – wann der's racht isch?«

Ich sagte: »Ja,« worauf wir beide bitterlich weinten und voneinander Abschied nahmen.

Kurze Zeit darauf brachte mich der Vater ins Institut; nachdem er mich jedoch verlassen, war ich trotz aller Vorsätze, so tief unglücklich, daß ich mich auf meinen Koffer setzte, in der Meinung, dann könne man nicht auspacken und schicke mich wieder heim.

»Liebes Kind,« sagte Frau Marie zu mir, »ich will dir einen Vorschlag machen – versuche es erst einmal vierzehn Tage mit uns, wenn du es dann noch immer nicht auszuhalten glaubst, gebe ich dir mein Wort, deinen Vater zu bitten, dich wieder zu holen.«

Dieser Vorschlag hat mich sehr beruhigt, jetzt aber schäme ich mich sehr, daß ich einstens so kindisch gewesen, denn da der Vater am Jaquesle nichts als Freude und Ehre erlebt, so muß er das natürlich auch an mir erleben. Schulmädchengeschichten.

F. Fontane & Co., Verlag, Berlin.


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