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Wie Tante Liesch nach Hamburg reiste.
Von Charlotte Niese

Solange, wie wir Tante Liesch kannten, so lange wollte sie nach Hamburg reisen. »Ja, Kinners,« pflegte sie zu sagen, wenn sie uns auf der Straße begegnete, »nu geht's bald los. Nu reise ich nach Hamburg. Wo ich doch mein' verheiratete Swester hab' und mein Swager und mein Newöh. Du liebe Zeit, mein ganze Familje is ja da, und was mein guten Mann war, mein Krischan, der is nu all lang tot, und der liebe Gott hat mich selbstens die Kinders versagt, nee, ich reis' nun bald nach Hamburg.«

»Wann geht's denn los, Tante Liesch?« fragten wir. »Nächste Woche, oder eher?«

Eifrig schüttelte die Gefragte den Kopf. »Kinners, Kinners, man nich so ungeduldig! Eile mit Weile, und wer langsam geht, der kommt auch an. Nächsten Monat kann ich nich, und for übernächsten bin ich auch all bestellt. Nee, mein Besten, Eile mit Weile. Abersten nu reis' ich bald nach Hamburg.«

Heiter nickte sie uns zu und ging mit ihren kleinen, trippelnden Schritten in das Haus der Stadt, in dem der jüngste Einwohner seine Stimme erhob. Tante Liesch war nämlich ein sehr nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Sie war Kinderfrau und kam immer zu den Familien, in denen ein kleines, zappelndes Wesen seinen Einzug gehalten hatte. »De ohl Lütt« nannte Tante Liesch die Kleinsten unter den Kleinen, und wahrlich, sie sahen alle oft alt und verdrießlich genug aus, wenn sie ihren Einzug in dieses Erdenleben gehalten hatten und nun mit gefalteter Stirn und drohend geballten Fäusten in den Kissen lagen.

Wehe aber den größeren Geschwistern, wenn sie sich über den neuen Ankömmling kritische Bemerkungen erlaubten. Tante Liesch hatte sie gleich am Kragen und warf sie aus der Tür.

»Willst mal gleich weggehn, du Slüngel! Was weißt du von mein süßen ohl Lütt? Da verstehst nix von, hast mir verstanden? Du bist noch viel häßlicher gewesen, kann ich dich sagen! Und nu raus, sonst weckst ihm auf! Son süßen Kind wie dies is noch niemalen auf diese Welt gekommen!«

Beschämt schlich sich der Kritiker davon und wagte nur noch eine Antwort, als Tante Liesch ihn nicht mehr hören konnte. Eins aber war sicher wahr: im Lauf der Wochen veränderte sich »de ohl Lütt« auf eine so überraschende Weise, daß man nicht verstehen konnte, ihn jemals häßlich gefunden zu haben. Er wurde weiß und rosig, hatte den Kopf voller Haare und zeigte, wenn er lachte, die lustigsten kleinen Zähne. Stolz trug Tante Liesch ihn auf dem Arm oder ließ ihn vorsichtig einen Schritt vor den andern setzen.

»Hab' ich nich gesagt? Son süßen ohl Lütt is noch nich ins Haus gewesen.«

Ja, Tante Liesch war ein sehr nützliches und beliebtes Wesen, und es war traurig, daß sie nach Hamburg reisen wollte. Jedermann bedauerte es, und die Leute, die sie noch nicht, aber bald vielleicht nötig hatten, redeten ihr zu, doch noch ein wenig mit der Reise zu warten, bis ihr ohl Lütt seine ersten Schritte machen konnte. Tante Liesch ließ sich dann auch überreden.

»Nu ja, wenn es denn nich anders is, denn muß ich noch ein bißchen warten. Denn aber muß es auch losgehn, von wegen mein Swester und mein Swager und mein Newöh, der nu all in der Schule geht, und den ich noch nich gesehen hab'.«

Natürlich, Tante Liesch mußte nach Hamburg reisen. Das sahen wir alle ein, die Großen und die Kleinen, und jedermann sagte, die Reise wäre ihr zu gönnen. Wohin also Tante Liesch kam, stimmte man ihr zu und wünschte ihr gute Reise. Nur daß sie noch einige Monate warten sollte.

Tante Liesch wartete auch geduldig; wie viele Jahre, weiß ich nicht; aber eines Tages trafen wir sie in erregter Stimmung auf der Straße.

»Kinners, nu muß ich abersten los! Ich muß nach Hamburg. Denn was mein Swager is, den soll es nich gut mit die Gesundheit gehn. Mein Swester hat mich ein Brief geschrieben; lesen kann ich ihm nich, abersten es is ein schönen Brief. Und Fite Hinrichs, der so fein lesen kann, hat ihn mich vorgelesen. Ich muß warraftig an meine Reise denken!«

Sie dachte wirklich an die Reise. Sie kaufte sich ein Paar riesige Gummischuhe, weil sie gehört hatte, daß es in Hamburg immer regnen sollte, und dann erschien sie eines Sonntagnachmittags bei uns im Hause.

»Ich wollt gern ein Buch über Hamburg haben. Vater hat ja so viel Büchers; kann ich nich ein Buch geliehen kriegen, wo allens über Hamburg einsteht?«

»Aber du kannst ja nicht lesen, Tante Liesch,« wagte einer von uns zu sagen.

Tante Liesch warf dem naseweisen Sprecher einen mißbilligenden Blick zu. »Das is man bloß mit Schrebenschrift, mein Besten, und das kommt, weil all die Menschens heutzutage so furchtbar undeutlich schreiben. Abers was Gedrucktes, und denn ein büschen groß, is nich swer.«

»Was willst du denn von Hamburg wissen?« fragte Bruder Jürgen.

»Das geht dir ja nu gar nix an!« entgegnete sie trocken, dann aber tat ihr die Antwort doch leid.

»Nu ja, Jürn, ich muß doch wissen, wo es is, und wie lang ich reisen muß, und was es kostet, und ob es wahr is, daß da eine Straße Sank Pauli heißt, wo ümmers Spaßmachers sind und Mädgens, die tanzen, und Polltschernellkastens und Theaters. Die is Fite Hinrichs sein ältsten Bruder. Der is Leichtmatrose und is all zweimal von Hamburg aus angemustert worden, und der hat all son Unsinn geschrieben. Du liebe Zeit, son Seemann, der kann ja nich die Wahrheit sagen; abersten ganz so slimm darf er es nich treiben. Erst will ich da doch ein Buch über lesen, ehe daß ich mir in die Tanzerei begeb. Tanzen mag ich nich; bloß Schottsch, und da werd ich nu meistens swindlig bei.«

Leider waren wir noch niemals in Hamburg gewesen; aber wir wußten doch einigermaßen, wo es lag. So an der Elbe herum; und man mußte durch ganz Holstein reisen. Erst mit der Post oder mit dem Dampfschiff, dann mit der Eisenbahn.

Tante Liesch hatte sich behaglich zu uns gesetzt; bei diesem Worte schnellte sie in die Höhe.

»Nee, Kinners, mit die Eisenbahn fahr ich nich, da is ja nich mal ein Pferd vor; und dann is allens mit Feuer und Rauch. Wies angehn kann, weiß ich nich, abersten for son Teufelswerk hab ich mir ümmer zu gut gehalten. Wenn ich nich aufn anständige Manier nach Hamburg reisen kann, denn muß ich hier bleiben.«

Sie beruhigte sich erst, als die Brüder ihr vorschlugen, zu Wasser nach Hamburg hinzufahren. Das ging natürlich auch, und Schiffer Lorenz machte jedes Jahr eine Wasserreise nach Hamburg. Zuerst fuhr er nach Kopenhagen, dann nach Flensburg, dann nach Kiel und durch den Eiderkanal nach Hamburg. Wenn er im März von uns abreiste und Glück hatte, dann konnte er schon im Juni in der Elbe sein. Es kam natürlich darauf an, ob er von einem Hafen nach dem andern gleich eine gute Ladung erhielt und nicht zu lange warten mußte. Wir kannten Schiffer Lorenz sehr gut. Wenn sein Schoner am Bollwerk im Hafen lag, besuchten wir ihn immer, und er erzählte uns etwas Nettes. Er war sehr böse auf die Dampfschiffe, die von unserer Insel nach Kiel und Lübeck fuhren und die nach seiner Ansicht das Unnützeste waren, was sich dumme Menschen ausgedacht hatten.

Die »Meta« war auch ein famoses Schiff. Eigentlich war sie eine Galeasse, aber wie ein Schoner getakelt; einmal war sie schon in Rußland gewesen, in England und in Schweden. Wenn sie erzählen könnte, was sie alles gesehen hatte, es würde eine lange, lange Geschichte werden.

Ich glaube nicht, daß einer von uns viel von der Schiffahrt verstand, aber wir hörten genug davon, daß wir sehr klug über sie schnacken konnten, wie man zu sagen pflegt; Tante Liesch hörte uns auch mit offenbarer Andacht zu, und als es ihr klar wurde, daß Schiffer Lorenz wie immer im März abgesegelt war, wir aber gerade Anfang April schrieben, da wurde sie ganz heiter.

»Ja, Kinners, so soll es denn sein. Ich bin for das Wasser und das geruhige Segeln. Mit all die Neumodischkeiten mitn Dampfer und mit die Eisenbahn mag ich nix zu tun haben. Ich fahr nächstes Frühjahr mit Schiffer Lorenz nach Hamburg, und wenn ich mein Fermilje so lang nich gesehen hab, so kann ich auch noch ein bißchen länger warten. Und mein Swager muß sich so lang halten.«

Dabei blieb es also. Tante Liesch verlangte vorläufig kein Buch über Hamburg, aber sie sprach den festen Entschluß aus, dorthin zu Wasser zu reisen. Bald hieß es denn auch in ihren Freundeskreisen, daß es mit ihrer Reise nun wirklich ernst würde, und wer sie sah, der gab ihr gute Ratschläge.

Wir Kinder vergaßen Tante Liesch ein wenig. Gelegentlich sahen wir ihre behagliche Gestalt wohl hinter einem Kinderwagen und wechselten auch einige Worte mit ihr; aber es kam der Frühling, der Sommer, etlicher Hausbesuch und mancherlei anderes. Zum Beispiel das Ereignis, daß die älteren Brüder eine Ferienreise machten, und daß Jürgen sie begleitete. Wir Zurückbleibenden brachten die hohen Reisenden ans Dampfschiff und beneideten sie vielleicht; aber die Zeit verging auch ohne sie, und als wir sie wieder abholten, da wunderten wir uns, daß sie so schnell wieder erschienen waren. Sie waren aber doch vierzehn Tage weggewesen, brachten uns allen etwas mit und erzählten Wunderdinge. Besonders die Eisenbahn hatte ihnen großen Eindruck gemacht, und wir Kleinen wünschten uns nichts Besseres, als einmal damit zu fahren. Nur Jürgen erzählte nicht ganz so viel, wie er sonst wohl tat, und es kam nur ganz zufällig heraus, daß er unsere Tante in Hamburg besucht hatte. Eine Tante, die, wie sie bei uns immer sagte, für Jürgen schwärmte.

»Wie war es denn bei Tante Minna in Hamburg?« fragten wir; aber er zuckte die Achseln.

»Da war nicht viel los; in Hamburg möchte ich nicht sein. Ich bin auch gleich wieder abgereist.«

Das heißt, wie wir gelegentlich erfuhren, unser Vater hatte ihn wieder abgeholt.

Wir fragten auch nicht mehr. Es war so lustig, daß alle Brüder wieder da waren, daß der Herbst rasch herankam, und die Störche sich zu ihrer Abreise vorbereiteten; wir hatten wirklich an anderes als an Hamburg zu denken; aber als Tante Liesch uns eines Tages begegnete, wie wir gerade aus der Schule geschickt wurden, weil der Lehrer krank geworden war, da hielt sie uns an.

»Nu, Jürgen, und du bist in Hamburg gewesen? Erzähl mich mal ein büschen von Hamburg!«

Sie schob wieder einen Kinderwagen und ging mit uns entlang. Ihr gutes, freundliches Gesicht trug einen sorgenvollen Ausdruck, und es war, als wäre ihre Gestalt nicht so rundlich wie sonst.

»Bist du krank gewesen, Tante Liesch?« Sie schüttelte den Kopf.

»I Gott bewahre, Kinners, wo sollt ich denn krank sein? Bloß daß ich nich viel slafen kann. Von wegen die große Reise, und von wegen Schiffer Lorenz sein Meta. Frau Lorenz sagt, son Schiff gibt es nich mehr in diese Welt, und ich bin so bang, er verkauft es, ehe daß ich damit nach Hamburg reis. Und wie sollt ich sonst nach Hamburg kommen? Denn auf der Eisenbahn will ich nu einmal nich. Da hab ich von geträumt. Nee, das will ich nich. Abersten ich muß mir nu doch ein büschen nach Hamburg erkundigen. Jürgen, nu sag mich, wo war es denn?«

Mein Bruder steckte die Hände in die Taschen und lachte. Er war heute sehr guter Laune, wie wir andern auch. Für Herrn Müller war es natürlich schlimm, krank zu sein, und wir hatten ihm auch aufrichtig gute Besserung gewünscht. Aber das Wetter war so schön, und unsere Aufgaben hatten wir nicht hervorragend gelernt gehabt; also konnte uns kein Mensch unsere Fröhlichkeit verdenken.

»In Hamburg ist es komisch!« erwiderte Jürgen auf Tante Liesch ihre Frage, und sie sah ihn aufmerksam an.

»Meinst, daß es anders is als hier?«

Anders? Er sah sich um. Wir standen an der Schulstraße, wo wir nichts sahen als Bäume, kleine Gärten und die Rückseiten von einigen Häusern. Außer uns war kein menschliches Wesen zu sehen. Ja, anders ist es in Hamburg, erzählte Jürgen. Da gibt es viele, viele Häuser und schrecklich viele Menschen. Aber keines kennt den anderen, und allein ausgehn darf man nicht.

»Nich allein ausgehn?« Tante Liesch holte tief Atem. »Warum denn nich?«

»Ich weiß nicht, Tante Liesch. Meine Tante Minna sagte, es ginge nicht, und man könnte totgeschlagen werden. Sie wohnte vier Treppen hoch, und wenn man bei ihr aus dem Fenster sah, dann konnte man die Menschen nicht zählen, die unten auf der Straße liefen. Aber hinunter durfte ich nicht.«

Jürgen schnallte an seinem Ranzen und wollte weitergehn; Tante Liesch aber hielt ihn am Arm fest.

»Sind die Menschens denn so gräsig, daß sie einen gleich totmachen?«

»Ich weiß nicht; Tante Minna sagte es. Als ich ausgehn wollte, erlaubte sie es nicht, und weil sie Besuch bekam, mußte ich in mein Schlafzimmer gehn. Das lag nach der Straße hin, und Tante Minna sagte, ich dürfte aus dem Fenster sehen, und ich dürfte spielen, soviel ich wollte. Spielen!« Jürgen blieb stehn und wiederholte das Wort. »Da war nichts im Zimmer, womit man spielen konnte. Bloß ein Bett, ein Waschtisch und ein Schrank. Kannst du mit einem Bett spielen, Tante Liesch?«

»Du armen Jungen!« Ihre Stimme klang mitleidig, und Jürgen wurde noch nachträglich über seine Leiden gerührt.

»Ja, es war schrecklich. Auch im Schrank war nichts los. Nur eine alte Hose von Tante Minnas Mann hing dort, und ein Paar rote Morgenschuhe fand ich auch noch.«

»Du armen Jungen!« sagte Tante Liesch noch einmal. »Was hast denn angefangen? Hast wohl Heimweh gekriegt, nich? Oha – was hätt ich for Heimweh gekriegt!«

»Heimweh kriege ich nicht!« Jürgens Stimme hatte einen stolzen Klang. »Dazu bin ich zu groß. Aber ich nahm das Bettzeug und steckte es in die Hose und band die Morgenschuhe unten an die Beine fest. Da sah die Hose aus wie ein halber dicker Mann, ganz wunderhübsch, sage ich dir!«

»Und denn?« Tante Liesch sah ihn erwartungsvoll an.

Jürgen war sehr heiter geworden. »Ich hängte die Hose aus dem Fenster, und dann schrie ich ziemlich laut nach Hilfe. Das war wirklich merkwürdig, Tante Liesch. Als ich vorher aus dem Fenster sah und nichts tat, da sah niemand nach mir herauf. Und nun, wie die Hose da hing, da hättest du mal sehen sollen. Erst blieb ein Mann stehn, und dann noch einer, und dann Kinder und Frauen, und ich weiß nicht, wer sonst noch. Und ich tat nichts, als die Hose ein wenig schütteln; das Rufen ließ ich gleich bleiben. Und mit einemmal steht es schwarz vor unserem Hause; eine Frau schreit furchtbar, und die Männer brüllen bloß so. Und gerade wollte ich noch eine Kanne Wasser auf die verrückten Leute gießen, da lärmen sie schon an der Etagentür und klingeln immerfort. Ich erschrecke natürlich, und die Hose fliegt mir aus der Hand, mitten zwischen die Menschen. Na, Tante Liesch, ein Geschrei wie dann kam, hast du gewiß noch nie gehört. Bei mir stand mit einemmal die Polizei, und jemand schüttelte mich. Was dann kam, weiß ich nicht mehr; es war alles sehr unangenehm!« Jürgen seufzte lange, und wir sahen ihn mitleidig an.

Tante Liesch wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Wasn Geschichte! Mich deucht, Jürgen, das war auch nicht recht von dich! Die haben gedacht, da wär ein Mensch in die Hose. Mit so was darf man kein Spott treiben!«

»Ich spielte ja nur,« entgegnete er trotzig, »und Tante Minna hatte gesagt, ich sollte spielen, wozu ich Lust hätte. Es war nicht nötig, daß sie so schalt, und daß ich dann zu Bett gehn mußte. Aber die Hamburger sind furchtbar leichtgläubig. Nachher hat in der Zeitung gestanden, eine Frau hätte ihren Mann aus dem Fenster geworfen, weil er sie totschlagen wollte. Nein, nach Hamburg gehe ich nicht wieder. Wo man nicht einmal allein ausgehn darf, weil man gleich totgemacht wird, und wo jeder immer etwas Schlimmes glaubt.«

Tante Liesch war sehr nachdenklich geworden. »Ja, mich deucht nu auch, die hätten das nich allens glauben sollen. Son guten Jung wie du, der kann doch nix Böses tun.«

»Die glauben immer das Böse. Und wenn du gesehen hättest, wie Tante Minna war, dann hättest du dich auch nicht gefreut. Es war ja ärgerlich, daß die Hose nicht wiederkam und das Bettzeug auch nicht, und die Morgenschuhe hatte Tante Minna selbst gestickt. Aber so ist es in Hamburg. Wer was auf die Straße fallen läßt, der kriegt es nicht wieder. Ach nein, ich glaube nicht, daß ich noch einmal hinreise!«

Wir verließen Tante Liesch, wie sie ihren Kinderwagen leise hin und her schob und kopfschüttelnd vor sich hinsah, und wir hatten alle Mitleid mit ihr. Denn nach Jürgens Schilderungen war es bei uns auf der Insel besser als in dem gefährlichen Hamburg.

Unsere gute Freundin blieb aber doch bei ihrem Vorsatz, nach Hamburg zu reisen. Sie konnte auch nicht anders. Ihre Schwester und ihr Schwager erwarteten sie, und ihre Freunde sagten ihr, sie müßte nun auch Ernst machen. Besonders Frau Lorenz würde es sehr übelgenommen haben, wenn Tante Liesch ihre »Meta« nicht als Reisegelegenheit benutzt hätte, und da es so ein gutes Schiff und die Wasserfahrt so überaus bequem war, so konnte Tante Liesch nicht umhin, ihre Vorbereitungen zu treffen.

Es war zwar erst Herbst, und im März sollte die Reise losgehn, aber mit dem Packen kann man nicht früh genug beginnen.

In dieser Zeit sahen wir Tante Liesch wenig; nur am Gallusmarkt, einem der Hauptfesttage der Insel, ging auch sie durch die Budenreihen und sah sich trübselig um.

»Kinners, Kinners, das krieg ich nu all woll nich wieder zu sehen. Ach, wo is es doch swer, nach Hamburg zu reisen.«

»Willst du ganz da bleiben?« fragten wir.

»Ich?« Sie lächelte wehmütig. »Was sollt ich woll da bleiben wollen? Abersten wenn ich nu totgestochen werd, denn komm ich da in der Erde! Die Fremdens kommen da all zu Schaden. Jochen Krien, wasn Vetter von mein Kasine ihr Onkel is, der sagt auch, da is immer Mord und Totslag. Ihn haben sie auch in den Arm gestochen und ihn sein Geld genommen. Und er war bloß ein büschen duhn und hatt sich aufn Bank gesetzt und war eingeslafen. Nee, Kinners, von Hamburg komm ich nich zurück, das weiß ich nu ganzen genau. Man gut, daß ich Schiffer Lorenz hab und das schöne Schiff. Mit der Eisenbahn wär es nu ganzen und gar gräsig!«

»Bleib doch hier, Tante Liesch!« rieten wir mitleidig.

Aber sie schüttelte den Kopf. »Was sein muß, das muß sein. Und mein Swester schreibt ümmerlos, daß ich kommen soll. Und was mein Swager is, der hat es in die Brust, und vielleicht bleibt er bald tot. Da muß ich ihm doch einmal sehen, und vielleicht kann ich bei sein Begräbnis sein. So was soll großartig in Hamburg sein. Nu ja, ein büschen was Gutes haben sie ja natürlicheweise auch! Und Jochen Krien sagt, früher hat er da mal ein feine Hinrichtung gesehen. Abers wenn ich dann mein Ende finde, denn krieg ich das vielleicht auch nich zu sehen!«

Sie wandte sich hastig ab und verschwand in der Budenreihe.

Allen Menschen tat sie leid mit ihrer Reise nach Hamburg, nur Schiffer Lorenz, dessen Schiff jetzt abgetakelt im Hafen lag, und der seine Winterruhe genoß, lachte über sie.

»Laß Tante Liesch man erst auf die Meta sein,« sagte er. »Denn fängt das Pläsier vons Reisen an. Natürlicherweise, zu die Eiserbahn und zu son alt gräsigen Dampfschiff, was eigentlich ein verrückten Kochtopf is, zu so was kann man nich raten. Wer mit Gewalt totbleiben will, der muß es tun. Wer abers eine geruhige Reise machen will, der soll man auf mein Meta gehn! Sein Lebtag denkt er nich wieder an ein Eiserbahn.«

Um Weihnachten lief Tante Liesch mit dick verschwollenen Augen herum. Sie machte nämlich ihr Testament, und da sie ein kleines Haus, Haus- und Küchengerät und hundert Taler auf der Sparkasse zu vermachen hatte und sich nicht einig war, wer dies und jenes haben sollte, so hatte sie gewiß Grund zum Weinen. Eine Verwandte von ihr, die auf dem Lande wohnte und von ihrer Reise gehört hatte, kam eigens in die Stadt, um sich bei Tante Liesch in Erinnerung zu bringen und zugleich zu behaupten, ein neuer Küchenschrank wäre ihr schon längst versprochen. Tante Liesch bezweifelte dieses Versprechen; und es kam zu einer sehr unfreundlichen Auseinandersetzung, die damit endete, daß die Verwandte vom Lande zum Advokaten lief und ihr eignes Testament ganz und gar änderte. Denn sie hatte Tante Liesch eine Kaffeemühle vermacht, und die sollte sie nun auch nicht haben.

Da war es ein Glück, daß in einer Familie, von der man es nicht mehr erwartete, ein kleiner Junge geboren wurde, der Tante Lieschs Pflege ganz in Anspruch nahm. Sie vergaß doch die Sorgen und konnte entzückt von ihrem »ohlen Lütt« berichten, der ein ganz hervorragendes Wunderkind war. – Aber ihr Testament war mit vielen Tränen gemacht, und als es Ende Februar wurde, und Schiffer Lorenz jeden Tag zum Hafen ging, weil seine Meta wieder schmuck gemacht wurde, da begann auch Tante Liesch von neuem abzumagern und zu packen. Sie hatte ihr Gepäck frei; das war ein Glück. Da nahm sie alles mit, woran ihr Herz hing: den Küchenschrank, zwei Säcke mit Kartoffeln, weil sie gehört hatte, in Hamburg wären die Kartoffeln schlecht, und den Rest ihres Schweins, das sie im Herbst mit einer Nachbarin gemeinsam geschlachtet hatte.

Wenn wir jetzt den Weg nach dem Hafen gingen, dann begegneten wir meist einer Habseligkeit von Tante Liesch, die sie vorn auf dem Kinderwagen liegen hatte und auf die Meta brachte. »De ohl Lütt« stand nachher in seiner Equipage und in Kissen verpackt am Bollwerk, und wer von den Seeleuten vorüberkam, der blieb bei ihm stehn und versuchte mit ihm zu spielen. Er ist sicherlich Seemann geworden.

Dann war es März geworden, und Schiffer Lorenz ging an Bord seiner Meta. Er fuhr dieses Mal nicht nach Kopenhagen, sondern nur nach Rostock und vielleicht nach Stettin. Im Juni glaubte er in Hamburg zu sein, und Tante Liesch war mit allem zufrieden.

Mitte Februar hatte sie die Todesnachricht ihres Schwagers in Hamburg erhalten. »Ja, Kinners, nu muß ich hin!« sagte sie mit zitternder Stimme. »Nu muß ich sehen, wo es mein Swester geht! Die Leichenfeier hab ich nu nich mitgekriegt, abersten vielleich kann ich sie doch noch ein büschen nützen. Nee, nu muß ich hin!«

Gerade in den ersten Tagen des März war das Wetter sehr stürmisch, und Schiffer Lorenz blieb noch ein paar Tage länger in der Stadt. Dann kam ein wundervoll sonniger Tag, mit warmer Luft und einem tiefblauen Himmel, und nun sollte es keinen Aufschub mehr geben. Wir waren alle am Hafen, um Tante Liesch Lebewohl zu sagen; viele Kinder, auch einige Erwachsene, und jeder hatte ihr etwas mitgebracht. Schweigend nahm sie alles in Empfang: die braunen Kuchen, die Mettwurst, die Tüte mit Zuckerwerk; denn sprechen konnte sie lange nicht mehr. Auf dem Verdeck stand ihr Korblehnstuhl, auf dem sie, wie sie sagte, immer geruhig während der Fahrt sitzen wollte. Am Mast war ihr Küchenschrank festgebunden; die anderen Sachen waren unter Deck. Einen Augenblick gingen wir noch aufs Schiff, auf dem Schiffer Lorenz mit seinem Maat die Segel löste; dann hieß es: Alle Mann von Bord! und wir konnten nur noch hastig Tante Liesch die Hand drücken. Ganz still saß sie in ihrem Lehnstuhl, vom Kopf bis zu den Füßen in einen dicken Mantel gehüllt, und sie schien weder zu hören noch zu sehen. Schiffer Lorenz war sehr aufgeräumt, man sah es ihm an, wie er sich freute, wieder auf die See zu kommen. In Oktober sind Tante Liesch und ich wieder da! schrie er noch, als die Meta schon mit langen Stangen vom Bollwerk abgeschoben wurde, und die Segel anfingen, sich im Winde zu blähen.

»Oktober is bald!« sagte Frau Lorenz, die natürlich ihren Mann an Bord begleitet hatte und nun, wie wir, dem langsam weggleitenden Fahrzeuge nachsah. »Tante Liesch is ein Bangbüx!« setzte sie verächtlich hinzu. »Bin ich nich nach Gotenburg gewesen und nach Kronstadt und nach Kolding? Und hab ich nich da das Allergeringste ausgemacht?« Sie und wir waren auf dem Heimweg vom Hafen. Nun kehrte sie sich noch einmal um und sah auf das glitzernde Meer. Es wehte fast gar nicht, und die Meta war noch deutlich zu sehen. Regungslos lag sie auf dem Wasser: die Segel ausgebreitet und den Kurs nordwärts gerichtet.

Frau Lorenz winkte noch einmal mit dem Taschentuch, obgleich sie sicher war, daß niemand vom Schiff es sah.

»Micht deucht, es könnt ein büschen mehr wehen,« meinte sie. »Sonst kommt mein Klaus erst in vier Wochen nach Rostock.«

Also Tante Liesch reiste jetzt nach Hamburg. Die ganze Stadt wußte es und nahm Anteil an diesem Ereignis. Wenn die Dienstmädchen in den Läden etwas kauften, dann sprachen sie von Tante Liesch, und der Ladenjüngling mit den frostroten Händen wünschte ihr ebensogut glückliche Fahrt wie die Kinder, die sich für einen Groschen Lakritzen kauften.

Sie hatte auch prachtvolles Wetter. Sonnenschein und keinen Wind; für ihren Korbstuhl auf dem Verdeck war das doch sicherlich das beste.

Zwei Tage schon war sie weg, und wir fingen an, sie zu vergessen, da wurde ich auf der Straße von einer dicken, schwarzgekleideten Frau angeredet.

»Kannst mich sagen, wo Liesch Zimmermann wohnt? Ich komm aus Hamburg und will ihr überraschen. Weil daß ich ihr leibhaftiges Swester bin, und sie sich so gräsen tut for die Reise.«

Vor lauter Erstaunen konnte ich ihr zuerst nicht antworten; mehr Menschen traten herzu, und dann wußten wir plötzlich alle, daß Tante Liesch ihre Schwester vor uns auf der Insel stand, während die arme Tante Liesch selbst auf der Ostsee, Gott weiß wo, schwamm. Denn mit einem Segelschiff weiß man nie so genau Bescheid. Es kann noch in der Nähe sein oder weit, weit weg. Besonders wenn es eine Galeasse ist, die als Schoner getakelt ist. Frau Meiner – so hieß Tante Lieschs Schwester – wollte zuerst nicht glauben, daß sie umsonst auf die Insel gekommen war. Dann weinte sie sehr und ging zu Frau Lorenz, um ihr Vorwürfe zu machen wegen der Meta, und endlich auf die Post, weil sie am anderen Tage gleich wieder wegwollte. Mit Frau Lorenz erzürnte sie sich sofort und eigentlich mit allen Einwohnern der Stadt, denn wem sie begegnete, den redete sie an und schalt ihn aus, weil er Tante Liesch nicht von der Reise zurückgehalten hätte. Sie hatte eine kräftige Stimme und blieb keine Antwort schuldig; wenn das warme Frühlingswetter nicht unerwartet umgeschlagen und der Sturm gekommen wäre, sie würde noch mehr Aufregung in die stillen Straßen gebracht haben. Aber wie nun der Regen in Strömen niederprasselte, und der Sturm mit vollen Backen bald aus Norden, bald aus Nord-Nordwest blies und endlich schrill zum Süden umsprang, da war auch sie verschwunden. Es war ein Sturm, wie wir alle von der Wasserkante ihn kennen. Das Meer brüllt, die Wolken fliegen über den düstern Himmel, der Regen ist zu einer Wasserwand geworden, die alles mit sich reißt.

Sogar die Seeleute nannten diesen Sturm einen Sturm und nicht eine steife Brise, wie sie das sonst gern tun und gutmütig über die ängstlichen Landratten lächeln, die sich keinen Mund voll Luft ums Gesicht wehn lassen mögen. Auch an unserem kleinen Hafen war das Bollwerk zum Teil zerschlagen, und einige Boote waren zertrümmert. So berichtete uns unser Kutscher, der schon früh am anderen Morgen dort gewesen war und das Hochwasser gesehen hatte. Wir aber achteten nicht darauf. Es war Botschaft an unseren Großvater gekommen, daß an dem gefährlichen Riff der Insel im Nordwesten drei Schiffe gestrandet seien. Da mußte er gleich hinfahren und besonders ein Auge darauf haben, daß das Strandgut nicht in diebische Hände fiele. Und da noch zugleich Sonntag war, so durften wir ihn begleiten. Es war eine lange Wagenfahrt; der Wind brauste noch, und wie wir in die Nähe des gefährlichen Strandes kamen, hatte das Meer eine graue Farbe. Langsam zogen die Pferde den Wagen gegen den Wind und durch den Sand; wir aber stiegen aus, ließen uns die Schaumflocken ins Gesicht wehen und starrten dorthin, wo die Schiffe festsaßen, und die Wellen über sie wegschlugen. Aber es waren nur zwei.

»Was die Meta is, die is vorhin auseinandergegangen!« meldete der Strandwächter im Südwester, der jetzt an den Wagen trat. »Die Meta!« Wir schrien laut auf, und der Seemann nickte.

»Nu ja, ein büschen alt war sie ja man. Und Ballast hatt sie auch man bloß. Weil daß sie erst Stückgut von Rostock kriegen wollt!«

Ich schluchzte schon lange.

»O Tante Liesch, arme Tante Liesch! Nun bist du tot!«

Der Mann rieb sich einen großen Salzflecken von seinem Ölrock.

»Tot is sie nich, klein Deern,« sagte er gemütlich. »Abersten verfiehrt hat sie sich natürlicheweise. Geh man ein in die Stube, klein Deern. Sie liegt in mein Bett, und was mein Frau is, die hat ihr all was zu trinken gegeben!«

Ja, Tante Liesch lag in Kissen verpackt im Bett des Strandwächters und stöhnte tief bei unserm Anblick.

»Kinners, Kinners, nu reis ich mein Lebtag nich mehr nach Hamburg. Wasn Beswerde! Viel slimmer kann es auch nich auf die Eiserbahn sein. Und mein Küchenschrank und all die Kartoffelns und denn noch das gute Speck von mein Swein!« Sie brach in Tränen aus; als wir aber auch weinten, trocknete sie ihre Augen.

»Seid man still, Kinners; nu bin ich ja wieder hier und reis nu ganz gewiß nich mehr weg. Abersten wer das gedacht hätt! Zuerst war es so gemütlich, und denn kommt der Wind, und mein Korbstuhl geht über Bord, und ehe sie meinen Schrank loskriegen, is er kaputt geslagen. Und denn wissen wir nich, wo wir sind, und dann hängen wir in die Takelage, und denn binden sie mich ein Tau um den Leib und smeißen mir ins Wasser. Ich sag zu Schiffer Lorenz, ›Lorenz,‹ sag ich, ›lassen Sie mir man sterben; mein Herrgott wird mir ja woll aufnehmen‹; er aber sagt, ›Tante Liesch, ohne Ihnen geh ich nich von mein Meta.‹ Na, und er hat mir warraftigen Gott ins Boot gekriegt, und was die Leute hier sind, die haben allens getan, um mir wieder in Konditschon zu bringen. Ich hab ein Loch ins Bein und ein in den Arm; und braun und blau bin ich an den ganzen Körper; abersten was wollt ich auch von die Insel? Wo man is, da soll man bleiben!«

Die Tür öffnete sich, und Schiffer Lorenz trat ein. Er hinkte stark, trug den Arm in der Binde, und der geliehene Anzug schlotterte um seine Glieder. Dabei war sein ganzes Gesicht blutrünstig, und seine Stirn trug ein großes Pflaster; aber er nickte uns doch ganz freundlich zu. »Ja, Kinners, mit die Meta is es nu nix mehr. Die« – seine Stimme zitterte, und er kehrte sich dem Fenster zu – »die mocht ja woll nich mehr da über sein. Abers« – er holte tief Atem, »ich krieg einen andern Schoner, da kann Tante Liesch noch oft mit mich nach Hamburg fahren und nich auf die Eiserbahn. Die Eiserbahn is zu gefährlich.«

Aber Tante Liesch hob beide Hände in die Höhe. »Nie in meinem Leben will ich wieder verreisen!« –

Tante Liesch hat ihr Wort gehalten. Sie hat niemals wieder nach Hamburg reisen wollen und auch nie mehr davon gesprochen. Obgleich ihre Schwester auf sie gewartet hatte. Die war dann aber gleich wieder abgereist, weil sie, wie sie sagte, es auf einer solchen kleinen, elenden Insel nicht länger aushalten konnte, wo man Wasser von der Pumpe holen mußte, anstatt aus der Leitung, wo es kein Sankt Pauli gab und keine Läden, keine Mordtaten und keine Hinrichtung. Sie war bald wieder verschwunden, und Tante Liesch wurde wieder dick und vergnügt. Alle Leute freuten sich, daß sie heil aus der Gefahr entkommen war, und der Küchenschrank sowie ihre andern Habseligkeiten wurden ihr bald wieder ersetzt. Nur mit Frau Lorenz stand sie sich nicht besonders; denn die meinte, wenn die Meta keine alte Frau an Bord gehabt hätte, dann wäre sie nicht untergegangen. Tante Liesch lachte immer, wenn sie diese Anschuldigung hörte.

»Da denkt sie ein büschen spät an!« sagte sie, und der Schiffer war auch nicht dieser Meinung. Er und Tante Liesch waren große Freunde geworden, und jede Weihnacht schenkte sie ihm etwas Ordentliches: einen Kalbsbraten oder so etwas, und Frau Lorenz nahm das Geschenk auch als etwas Selbstverständliches an.

»Das is von wegen die Lebensrettung!« erklärte sie, und das war es auch wohl.

Als ich Tante Liesch nach vielen Jahren wiedersah, war sie alt geworden und erkannte mich zuerst nicht. Dann aber freute sie sich und faßte mit ihren zitternden Fingern nach meiner Hand.

»Bist woll lang weggewesen, Kind. Mußt nich. Reisen is nich gesund. Ich bin bloß einmal auf Reisen gewesen, bloß nach Hamburg hin; abersten da war kein Pläsier bei. Wenn es auch noch mitn Schiff war, was jedenfalls das Beste is. Mit die Eiserbahn is es natürlicheweise viel gräsiger. Nee, Kind, laß man das Reisen nach; gesund is es nich. Das kann ich dich sagen.«

Nun hat Tante Liesch doch verreisen müssen; ganz weit weg und in das Land, aus dem man nicht wiederkehrt. Aber vergessen ist sie noch nicht, und auch ihre Reise nach Hamburg nicht.

»Revenstorfs Tochter«, Leipzig, Fr. Wilh. Grunow


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