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Ein silbern schimmernder Morgenhimmel wölbte sich über den Tälern der Severn, die bereits als ein stolzer Strom aus dem Berglande von Wales kommt und sich in vielfachen Windungen durch den südwestlichen Teil Englands zieht. Vor der sanft heraufdämmernden Helle flüchteten Eulen und Fledermäuse in die unzugänglichen Klippen zurück, die als letzte Ausläufer des Gebirges die lieblichen Auen des Flusses umsäumen, und die Kinder des Tages konnten an ihr Tagewerk gehen.
Es war im Jahre 1106, und die Hirten, welche zu jener Zeit in der Gegend von Worcester ihre Tiere auf die Weide trieben, konnten weite Strecken ziehen, ehe sie auf ein Anwesen oder auf ein freundliches Dorf stießen.
Ein alter Bauer, namens Patrick, zog an jenem Morgen mit dem Hirtenstab in der Hand seiner Herde voran. Ein lachendes Mägdlein und ein braungefleckter Hund umsprangen ihn und die Schafe – beide besorgt, dem Alten seine vielbeinige Schar in der durch Hecken wohlverwahrten Trift unterzubringen. Als aber Hund und Mädchen gar zu übermütig lärmten, drehte der Greis sich um und drohte lächelnd mit seinem Stabe.
»Macht mir die Lämmer nicht wild! Jane, deine Zöpfe fliegen ja schier davon, und schreien tust du, daß es die Leute bis nach Glocester hören.«
»Das ist gut, Vater,« erwiderte die Kleine, mit Schelmengrübchen in den Wangen, »dann sind sie richtig auf meine Person vorbereitet. Ach, wenn ich doch nur erst in Glocester wäre, Vater!«
»Was dann, Kindskopf, was dann? Wird etwa die große Fensterrose an der Kathedrale noch größer werden, wenn sie dich erblickt, oder das Meer noch weiter in die Severn hineindrängen, bloß um dich zu sehen?«
Jane machte vor Vergnügen einen kleinen Luftsprung. »Hei ha! eine feine Dirn' bin ich; das muß der Neid mir lassen.«
»Ein Fratz bist du,« entgegnete der Vater, und gab dem Schmeichelkätzchen, das sich an ihn hängte, einen scherzhaften Backenstreich. Sie tat, als grolle sie. »Vater, Vater, Ihr erzürnt euch den William.« »Den William! ha, den William! Weit fort ist er gezogen mit dem Lord von Cardiff Castle, und den Herzog Robert hilft er hüten in seiner Gefangenschaft und ist dabei halb zum Normannen geworden. Mit so großen Herren ist nicht gut Kirschen essen; wer weiß, ob dein William jemals wiederkommt!«
»Cardiff Castle ist nicht weit von Glocester! Und hat er mir nicht neulich erst einen Gruß durch den Pilgrim geschickt und einen Brief dazu?«
»Den du nicht lesen kannst, hä, hä!«
»Niemand kann lesen bei uns, Vater. Es ist doch nicht meine Schuld, daß ich keine Gelehrte geworden bin! Aber wart' nur; ich werde schon noch jemand finden, der mir das Schreiben entziffert. Ich habe scharfe Augen – ich – und gerade unter den Bettlern findet man – – huch!« schrie sie plötzlich auf, mit einem Satz erschrocken zur Seite springend; denn in dem riesenhaften Stamm einer Zeder hatte sich sekundenlang ein totenblasses Angesicht gezeigt, um wie ein Schemen im Innern des Baumes wieder unterzutauchen. Wie ein dichter Vorhang hingen Efeuranken aus dem Geäst der Zeder über den Stamm herunter, sich leise regend wie ein Vorhang, den eine neugierige Hand berührte.
»Eine Holdin ist's,« raunte der Alte schaudernd dem Mädchen zu, die halb Widerstrebende mit sich ziehend. »Die wohnen oftmals in so alten Bäumen. Geh' nur ruhig vorüber, Jane; die tun dem Menschen kein Leid. Möglich, daß sie uns gar noch rotes Gold spenden, wenn wir ihre Ruhe nicht stören.«
Jane schüttelte leise den Kopf. Ihr wollten die alten Mären, an denen der Vater mit Zähigkeit hing, nicht recht in den hellen Kopf. Sie dachte an ein Wesen von Fleisch und Blut, vielleicht an ein solches, das Böses im Sinne hat, oder einen Grund, sich furchtsam zu verbergen. Ihre Neugierde war erregt, und in tiefen Gedanken flocht sie an ihrem Zopf; Spitz mochte sie bellend umspringen, soviel er wollte, sie beachtete ihn nicht, bis das kleine Stackettor in der Ligusterhecke erreicht war, das sie in seiner ganzen Breite für die herandrängenden Tiere öffnete. Jetzt weideten die Schafe ruhig, schlüpften auch wohl zur Severn hinunter, um sich nach der Morgenwanderung zu erquicken. Der alte Patrick zog sein Messer hervor und begann an einem Rührlöffel zu schnitzen. Jane aber schlenderte umher, pflückte Blumen und dachte an das weiße Gesicht auf dem Schwarz des hohlen Baumes, umgeben von den zackigen Efeublättern.
Wäre sie in diesem Augenblick an der riesigen Zeder gewesen, sie hätte es von neuem erblicken können. Diesmal aber wurde der Blättervorhang völlig beiseite geschoben, und ein schlankes, in lange, jedoch verwahrloste Kleider gehülltes Mädchen schlüpfte darunter hervor, vorsichtig umherspähend, ob es gewiß auch niemand erblicke. Mit einem Seufzer der Erleichterung trat sie in den Hain hinaus. Jenseits der Severn und ihrer gegenüberliegenden Ufer stieg gerade hinter den finstern Bergen der Sonnenball empor – blutig rot – dem blassen Antlitz des Mädchens mit den übernächtigen Augen einen trügerischen Schimmer gewährend. Aber auch an den felsenharten Stämmen der Bäume floß der Schein hernieder, anzusehen wie rotes Blut, das langsam weiterzurinnen scheint.
Die Jungfrau sah es und schauderte, sie schlug die Hände vor das Gesicht und wankte langsam hinter den Stamm, wo sie sich in das Moos niedersinken ließ. Dort versank sie in tiefes Brüten. Sie sah nichts, was um sie her war; nur die Augen ihres Geistes schauten und ließen Bild auf Bild an sich vorüberziehen, die das Gedächtnis mit unvergänglichen Farben in sich aufnahm.
Schön und stolz und friedlich waren die ersten. Sie sah ein Schloß an der silbernen Severn – sie sah seine Türme ragen und seine traulichen Gemächer winken. Sie sah sich selber als Kind mit staunenden Augen in die Welt schauen, dann als knospendes Mädchen von zärtlichen vornehmen Eltern behütet, neben sich die jüngere Schwester und einen Bruder in zartem Alter. Viele Leute waren um sie her, denen die Eltern geboten und denen auch sie zum Teil gebieten durfte, von der Schaffnerin mit dem umfangreichen Schlüsselbund an der Seite bis zu dem reisigen Troß, der den Schloßhof mit Waffengeklirr und Rossegewieher erfüllte, bis zum barfüßigen Knaben, dessen schnelle Füße stets für allerlei Botendienste bereit waren, bis zur Küchenmagd und dem alten runzligen Weibe, das die Küchlein und die jungen Gänse aufzuziehen hatte. Dann kam eine Zeit, wo sie in den dunklen Gängen eines Nonnenklosters wandelte und über bunten Stickereifäden und schön gemalten Buchstaben gebeugt saß, um zu lernen, was einer jungen Dame geziemt. Kaum war sie wieder zurück im Elternhaus, da geschah es eines Tages, daß ein hoher Gast unerwartet über die Zugbrücke ritt, die über den grünbewachsenen Wallgraben des Schlosses herabgelassen ward – ein Gast, dessen wie mit Blut unterlaufene Augen nichts Gutes verhießen. Es war König Wilhelm II., Rufus oder der Rote, der Sohn des Siegers von Hastings und sein Nachfolger. Eng war die Familie des Schloßherrn mit dem Hause Wilhelm I. verbunden gewesen, denn ein Graf Shrewsbury war ein verdienter Feldherr des kühnen Normannenherzogs gewesen, aber der Alte, dessen sich die Träumerin noch wohl erinnern konnte, schlief bereits unter dem Turm der Kathedrale den ewigen Schlaf und mit ihm die Liebe und das Vertrauen, welches die Herzen einst verbunden hatte. Was wußte dies sorgenlose Mägdelein damals von den Meinungsverschiedenheiten der Männer! Doch konnte sie sich klar besinnen, daß es bei diesem Höflichkeitsbesuch des Königs bald wie Eiseskälte durch den Saal wehte, daß es auf der einen Seite hochfahrende Worte gab und auf der anderen heimlich geballte Fäuste. Finster ging der Vater umher, auch als der König fortgeritten war, und finster blieben auch die Mienen der Edlen, welche im Schloß Shrewsbury aus und ein zu reiten pflegten; manche geheime Aussprache fand dann in einem verschwiegenen Turmgemach mit dem Grafen statt. Kehrten sie dann zum Mahle in der Halle ein und hatte der Wein die Zungen gelöst, so fiel zuweilen ein wichtiges Wort, welches den finsteren, habgierigen, alles Recht in den Staub tretenden König verdammte, dagegen hell und freudig das Lob des Herzogs Robert von der Normandie verkündete.
Das war ein echter Sohn seines Vaters – ritterlich, freimütig und tapfer!
Und eines Tages ging es flüsternd von Mund zu Mund – der König ist auf der Jagd verunglückt – man meint, daß er ermordet ist; aber des Täters ward man nicht Herr, wollte sein auch gar nicht Herr werden, denn es fand sich kein Rächer für den ungerechten König.
»Sahst du ihn, den armen blutigen Mann?« fragte den Vater bei seiner Heimkehr die sechzehnjährige Tochter. Sie hatte ihren Katechismus noch wohl im Kopf und bebte bei dem Gedanken, daß jemand freventlich das fünfte Gebot überschritten habe.
Der Graf hatte nur leicht die Hand auf ihren Scheitel gelegt und mit seltsam bebender Stimme erwidert: »Schlaf' ruhig, Margaret. Unter einem trüben Himmel hat sich die Sonne geneigt, aber binnen kurzem geht uns eine neue, schönere Morgensonne auf: die sollst du mit hellen Augen begrüßen.«
Doch blutigrot, wie die Abendsonne sich senkte, ging auch die neue Sonne für das Haus Shrewsbury auf.
Nicht Robert, der ritterliche Herzog der Normandie, bestieg den englischen Thron, sondern sein jüngerer Bruder Heinrich, während er noch selber im Morgenlande weilte. Im Jahre 1096 war er mit dem Grafen von Vermendois und Stephan von Blois zur See nach dem heiligen Lande gezogen, um sich mit Gottfried von Bouillon an dem ersten Kreuzzug und der Befreiung des heiligen Grabes zu beteiligen. Zurückgekehrt, geriet er sogleich mit seinem Bruder Heinrich in Streit um die englische Krone, da er als der ältere von beiden den begründetsten Anspruch darauf zu haben glaubte. Leichtlebig, unbesonnen und hochfahrend hatte er sich auch mit einem Teil der normannischen Edlen entzweit und geriet dadurch in die Gewalt des mächtigeren Bruders und in seine Gefangenschaft. Wohl erhob sich zu seinen Gunsten ein Aufstand in England, denn viele der Großen dünkte das rücksichtslose Joch Heinrichs ebenso schwer wie dasjenige seines Vorgängers; allein diese Bewegung ward mit starker Hand niedergedrückt, ihre Führer getötet oder verbannt. Unter den letzten war auch der Graf von Shrewsbury!
Margret seufzte tief auf und schlang die gerungenen Hände fester ineinander.
Dann kam ein Tag so voller Schrecken und Bitternis, daß das arme, durch den Verlust des Vaters schon so schwer geprüfte Herz die Fülle des Jammers kaum zu fassen vermochte.
Ein normannischer Edler pochte an das Tor zu Shrewsbury und überbrachte einen Befehl des Königs, kraft welchem der Familie des Verbannten Schloß und Grafschaft aberkannt und ihm selber als Eigentum zugesprochen wurde. Damit waren die Ärmsten preisgegeben und mußten noch zur selben Stunde die Heimat verlassen. Wohl wollte ein Teil der Diener nicht von der Herrin lassen und versuchte wenigstens das Nötigste für sie zu retten, allein die Knechte des neuen Herrn waren gieriger wie er selber. Sie jagten den Armen das Letzte wieder ab und kerkerten die Getreuen gewaltsam ein. Die liebliche kleine Schwester und das Brüderchen trieb man in die unwirtlichen Berge zu den Quellen des Severn, die Gräfin mit Margaret stromab.
Wohl versuchten die beiden Frauen in weitem Bogen bis an den Fuß des Plymlimmon vorzudringen, um die geliebten Kleinen zu suchen. Margarets wunde Füße erklommen manche Höhe und durchwanderten manches Tal, aber keine Spur fanden sie von den Gesuchten. Wie ein paar Knösplein, die der Frühreif befiel, so waren wohl die Kinder zur Erde gesunken. –
Die Verzweiflung, der Hunger, die Kälte der Nächte hatten die Kräfte der Gräfin bald verzehrt; unüberwindliche Mattigkeit, rasender Schwindel machten ihr das Wandern fast unmöglich. Durch den Hunger dennoch vorwärts getrieben, war sie vor ein paar Tagen auf einem Gebirgspfade umgesunken, und zwar so unglücklich, daß ihr Haupt an einem Felsen zerschlug. Unaufhaltsam floß das Blut rot wie der Schein der Morgensonne auf dem Stamme der Zeder, und in wenig Minuten gab sie ihren Geist auf.
Margaret dünkte dies das traurigste der Bilder, die soeben an ihrer Seele vorüberzogen. So lange hatte ihr das Mutterauge doch noch gestrahlt! Für die Mutter zu betteln und harte Worte zu ertragen, war immerhin noch leicht gewesen; ja für sie und mit ihr ertrug sie selbst die Zurückweisungen solcher, die sie für treue Freunde gehalten hatten. Mit dem Tode der Mutter schien ihr der Mut um Nahrung zu bitten vergangen. Drei Tage und drei Nächte hielt sie bei der Teuren in einer öden Felsenhöhle Wacht. Dann häufte sie mit unsäglicher Mühe kleine Stückchen von Felsgestein um den Leichnam auf.
Die wilde und rauhe Natur des Gebirges ängstigte sie; sie stieg wieder hinab in die Täler der Severn, deren Silberband das Einzige war, welches sie außer der Erinnerung noch mit der Heimat verband. Was nun beginnen? Sie wußte es nicht.
Schwerfällig erhob sie sich von ihrem Sitze und wankte – fast ohne es zu wissen – dem Flusse zu. Friedlich floß die Severn dahin, die Bilder des Himmels, des Hains und der Triften in sanft durcheinander fließenden Farbentönen widerspiegelnd. Margaret fühlte sich schwach und matt, denn außer der Nahrung fehlte ihr auch der Schlaf, der ihr in der schreckhaften Einsamkeit durchaus nicht kommen wollte. Janes helle, fröhliche Stimme hatte sie fast verlockt, sich den Hirten zu nahen, doch eine ihre Willenskraft fast lähmende Gleichgültigkeit ließ sie wieder zurückweichen. Jetzt trieb sie der Durst an das Wasser. Einen schmalen Pfad zwischen zwei Hecken schritt sie hinunter, das taubeschwerte Gras mit dem Saum ihres langen Gewandes schleifend. Margaret bemerkte es nicht, daß Jane, das schlanke Hirtenmädchen, auf der anderen Seite der Hecke mit ihr wanderte, neugierig wie ein Eichhörnchen mit ihren runden Augen durch die Lücken der Zweige lugend. – Das blasse Mädchen neigte sich und schöpfte mit der hohlen Hand, dann blickte sie müde den Strom herauf und nickte ihm wehmütig zu. »Du siehst meines Vaters Haus. Grüß' mir die Heimat – die Heimat. Ach, erst im Himmel werde ich wieder froh werden, wenn mich der Tod mit den lieben Eltern vereinte. Wie groß wird dann die Freude sein, und alle Leiden sind vergessen.« Sie setzte sich nieder und machte die Augen zu. Das eintönige Geplätscher der Wellen tat ihrem armen Kopfe wohl. Ihr war, als sänge ihr die Severn ein Wiegenlied, eine sanfte Melodie, die allmählich immer lockender klang. »Tauche unter in meinen kristallenen Schoß; dann steigt deine Seele empor zu den verklärten Lieben. Ich befreie dich, ich mache dich selig.«
Margaret neigte sich über das Wasser und tauchte die Hand in das klare Naß; aber ein Schaudern überflog den jungen Leib. Sie fuhr zurück, als habe sie eine Schlange gestochen.
»Ja, ja, das Wasser ist naß!« erklang es plötzlich neben ihr, dieselbe frische Stimme, die sie vorhin vernahm. »Das Wasser ist naß und tückisch ist es auch, wie alle Wässer sind. Es wird dich herunterziehen, wenn du dich so gefährlich neigst.«
»Was liegt daran,« murmelte Margarete dumpf, »stoß mich hinein und ich will es dir danken.«
»Ei, ei, warum denn so verzweifelt, junges Blut,« schalt Jane, am Uferrand hinter dem Gebüsch hervorschlüpfend. »Ein Mensch, der seine gesunden Gliedmaßen hat, sollte doch nicht verzagen. Weshalb hat denn der liebe Gott die Arbeit gemacht! Wenn ich trübe Gedanken hab' – um den William, Mädchen, mußt du wissen – gleich arbeite ich und singe dabei, und ich gebe dir mein Wort, das hilft, hilft jedesmal. Und wenn du selbst kein Heim hast, in dem du schalten kannst, so suche dir einen Brotherrn. Einen Dienst hat noch jeder gefunden, der wirklich dienen will.«
Margaret sah die Sprecherin betroffen an. Weder ihr noch der Mutter war ein ähnlicher Gedanke gekommen. Wohl hatten sie emsig geschafft daheim, aber das hatte sie eine Lust gedünkt und keine Arbeit, und nach ihrem Unglück schien es ihnen Mühsal genug, ihr schweres Kreuz zu tragen. Dienen! der Vorschlag dünkte ihr so neu, daß sie nicht sogleich eine Erwiderung darauf fand.
»Ich meinesteils,« fuhr Jane empört über ihr Schweigen fort, »bisse mir lieber den kleinen Finger ab, als daß ich betteln täte. Pfui! Und was schlampst du da mit den langen Kleidern im Grase herum, du Bettelprinzessin! Den guten Sammet hast du ganz verdorben. Am Saum ist er zerschlissen, aber hier oben, ei – da gäbe es noch eine köstliche Verbrämung für zwei Röcke. Ich weiß eine Frau, die versteht alles neu zu machen, auch Sammet, wenn er gut war; und dieser hier scheint mir nicht von schlechten Eltern.«
Margarets Lippen zuckten, als sie das Wort Eltern erwähnen hörte; doch sie bezwang sich und sagte: »Der Sammet ist gut, Mädchen, aus Holland ist er gekommen.«
»Jane heiße ich!«
»Und ich heiße Margaret, und weiß auch, wie man Sammet aufdämpft und über heißes Eisen zieht.«
»Das verstehst du?« Jane schlug vor Staunen die Hände zusammen.
»O, ich verstehe noch mehr. Gewänder kann ich machen für Männer und Frauen, die Laute kann ich schlagen und dazu singen. Lateinisch, französisch und angelsächsisch kann ich lesen und –«
Doch weiter kam sie nicht in ihrem Register, denn Jane hatte ihre beiden Hände ergriffen und rief voll jubelnden Entzückens aus: »Lesen kannst du? O, gelobt sei der Tag, da ich dich fand, und die liebe Sonne, daß sie dich bescheint. Lesen kann sie! Allen Respekt vor deiner Gelehrsamkeit! Möchtest du nicht mit mir in unsere Hütte kommen und mir meines William Brief enträtseln? Höre, Margaret, gehe mir nun aber ja nicht in das Wasser.«
Margaret mußte lächeln über die naive Selbstsucht dieses Naturkindes. Ihr gefiel Jane, und freundlich nickte sie ihr zu. Plötzlich aber legte es sich wie ein Schleier vor ihre Augen; sie wurde kreidebleich und stammelte in gebrochenen Tönen: »Milch, Milch – gib mir Milch zu trinken.«
»Gleich sollst du Milch haben, o, du Arme,« rief Jane schon im Davonlaufen; »halt dich tapfer so lange – ich komme schon, ich komme schon!« Dann kniete sie neben Margaret nieder und führte ihr mitleidig den sauberen Holzbecher an die Lippen. »So, nun trinke. Ach, das ist gut, nicht wahr? Und sieh, auch ein Stücklein Brot breche ich mit dir. Mein Frühstück ist's, und du bekommst die größere Hälfte. Nein, nimm nur, ich habe ja alle Tage gegessen, aber du nicht, gelt? Viele Tage nicht?« Sie blinzelte Margaret schlau von der Seite an und forschte dann weiter: »Bist du weit gewandert?«
»In Shropshire war ich zu Hause und guter Eltern Kind,« erwiderte Margaret mit schwacher Stimme. »Aber die Eltern sind tot –«
»Und böse Leute haben dich von deinem Erbe vertrieben,« fiel Jane eifrig ein. »O, ich kenne das. Wie oft hat der Sänger, der auf den Höfen in Worcestershire singt, uns derlei vorgetragen. Aber schließlich endet immer alles gut. Gott und die heiligen Engel werden auch dich rächen. Das mußt du mir alles noch haarklein erzählen.«
Margaret drückte dankbar die Hand des Hirtenmädchens. Sie war nicht willens, Jane ihre ganze Geschichte anzuvertrauen, schon aus Besorgnis, von neuem deshalb verfolgt zu werden; aber das bißchen Teilnahme tat ihr doch wohl.
»Könnt' ich dir nicht dienen, Liebe, wenn ich doch schon dienen muß, wie du ganz richtig sagst,« fragte sie.
»Mir dienen? Guter Gott, du bist zu komisch!« lachte Jane. »Im ganzen Leben hat mir noch niemand gedient. Arm sind wir ja wie die Kirchenmäuse, und nicht einmal das Dach über dem Haupte ist unser.«
»Aber ihr habt ein Dach über dem Haupte –«
»Ein Dach wohl, aber wenig darunter. Doch laß mich nur erst nach Glocester gehen! Da werde ich mir schon etwas verdienen.«
»Nach Glocester? Warum nach Glocester?«
»Guter Gott, wie du fragst! Hast du denn noch nie von dem Mägdemarkt in Glocester gehört? Dort gibt es reiche Leute die Fülle, bei denen man sich verdingen kann, wenn man Glück hat.«
Ein schwaches Lächeln glitt über Margarets bleiche Züge. Wie bescheiden doch die Ansprüche waren, welche diese hübsche, muntere Jane an das Glück stellte. Plötzlich sagte sie entschlossen: »Ich gehe mit dir nach Glocester. Willst du mich zur Reisegefährtin haben, Jane?«
Margaret bewies durch ihre letzten Worte, daß sie entschlossen war, völlig mit der Vergangenheit zu brechen und sich fortan der Arbeit zu weihen. Wenn sie aber hoffte, daß Jane diese harte Selbstüberwindung ein wenig zu schätzen wisse, so irrte sie sich gewaltig. Die nickte nur kühl und von oben herab und erwiderte ein wenig schnippisch: »Es ist zwar sehr schön von dir, daß du die Landstreicherei aufgeben und ein ordentlicher Mensch werden willst, aber in dem Aufzuge da – nimm's mir nicht übel – kann ich dich nicht mit mir nehmen. Du würdest Schimpf und Schande ernten und ich dazu, denn die Leute möchten denken, du seiest von meiner Sippschaft, und das möchte ich doch um keinen Preis.«
Margarete Shrewsburys Gesicht bedeckte flammende Röte. Dies war die herbste Abweisung, die sie auf ihrem Leidenswege bisher erfuhr, um so herber, da sie ihr von dem ersten Menschen kam, der sich ihr zutraulich nahte. Doch sie unterdrückte ihre schmerzensreichen Gefühle und fand in ihrer Not eine List und einen Ausweg, um zu dem neu vorgesteckten Ziele zu gelangen.
»Wenn ich dir zur Reisegefährtin zu schlecht bin,« sagte sie mit angenommenem Hochmut, »so werde ich mir meinen Weg allein suchen, und deinen Brief mag dir lesen, wer Lust hat.«
Jetzt war die Reihe zu erröten an Jane. »Gott, wie du hochfahrend sein kannst! Als ob du eine leibhaftige Prinzessin wärest. So habe ich es ja gar nicht gemeint. Vielleicht –«
»Ich wüßte wohl einen Weg, wie uns beiden zu helfen wäre, Mädchen.«
»Wenn es nichts Böses ist, was du verlangst, so sprich. Die Mutter, mußt du wissen, ist schon lange tot, und der Vater und ich müssen uns allein beraten.«
Margaret schüttelte mit trübem Lächeln den Kopf. »Ein Winkelchen im Stall oder auf dem Heuboden fordere ich für meine Schriftkunde; mein halbes Sammetgewand aber biete ich dir für ein sauberes Hemd und ein selbstgesponnenes Röckchen. Den Sammet stelle ich wie neu wieder her, denn er ist echt wie Gold, und fertige zwei Mieder daraus, auch breite Streifen um unsere Kleider. Die Glocester Hausfrauen sollen sich noch um die zwei schmucken Mädchen reißen.«
»Das war brav gesprochen, wie ein echter Handelsmann!« rief Jane, deren Mienen sich immer mehr verklärten; denn die Aussicht auf ein Sammetmieder war mindestens ebenso schön, wie die Gewißheit, nun endlich den Inhalt ihres Briefes zu erfahren. »Gleich werd' ich »topp« dazu sagen, wenn ich nur erst den Vater, meinetwegen auch meinen Bruder Wulfstan gefragt habe.«
Sie wollte enteilen, aber Margarete hielt sie am Kleide fest. »Er soll mich nicht sehen, schmutzig und zerrissen wie ich bin; auch nicht in diesem verwahrlosten Gewande, denn,« das arme Grafenkind mußte über sich selber lächeln, »denn, ich möchte Gnade finden vor den Augen deines lieben Vaters.«
»So gefällst du mir,« rief Jane in die Hände klatschend aus, »das ist doch etwas ganz anderes, als wenn man sich über das Wasser beugt, als möchte man darin versinken.«
Vierzehn Tage lang hatte sich Margaret unter dem gastlichen Dach des alten Patrick befunden und mit einem alten Röckchen Janes bekleidet, ebenso emsig geschafft wie diese selber. Die Bewohner der Hütte konnten sich nicht satt sehen an den Werken der geschickten Hände, an den Borten, Kanten und Tressen, die Margaret auf dem gröbsten Stoff und mit den einfachsten Fäden hervorzuzaubern verstand, und gewannen ihren Gast immer lieber. Die Mädchen teilten längst die Lagerstatt der einzigen Kammer, in welcher Patricks Tochter schlief, und keine Falte in dem Herzen der guten Seele war Margaret fremd geblieben, während sie selber zurückhaltend blieb und allen eingehenden Fragen klug auszuweichen verstand. Zwar waren ihr Wirt und auch Wulfstan sein Sohn Angelsachsen von altem Schrot und Korn, die von den normannischen Herren und ihrer feinen Art nichts wissen wollten; desto gefährlicher aber waren die Edelleute der Umgebung, die leicht ein hübsches Mädchen ausspähen konnten und ihre Herkunft erkunden. Margaret verließ deshalb niemals die Hütte und begnügte sich damit, wenn der Rauch, der nur durch die Tür entweichen konnte, ihr gar zu beißend ward, in dem winzigen Gärtlein zu sitzen; von Gebüsch und Bäumen umgeben weidete sie ihre Augen an dem saftigen Grün und betrachtete das Hüttlein, in dem sie sich so wohl ausgeruht und durch kräftige Kost erfrischt hatte, mit dankbaren Augen.
»Draußen sitzen, wenn man ein Dach hat, unter das man zurückkehren kann, das ist schön,« sagte sie zu der aus der Hütte tretenden Jane – »auch hab' ich's lieber, daß die Vöglein zu mir kommen, als daß ich unter ihnen wohne.«
»Bei dem Uhu im Walde! hu – hast du dich nicht gefürchtet, Margaret?«
»Nicht vor dem Uhu; nur vor den Menschen, die so böse sind,« erwiderte Margaret. »Doch wenn du mich lieb hast, Jane, so laß uns nie wieder davon sprechen. Hole lieber dein Brieflein; ich habe es dir ja heute noch nicht ein einziges Mal gelesen.«
»Daß ich das vergaß!« verwunderte sich Jane. »Das macht, weil ich eine so hübsche Gesellschaft an dir hab', wir zwei lassen nicht mehr voneinander, gelt Margaret?« Sie warf einen zärtlichen Blick auf die schlanken schneeweißen Hände, die mit ihrem Mieder beschäftigt waren, auf den feinen Hals und die sich sanft rundenden Wangen. Seit gesunder Schlaf Margarets Augen gestärkt und sie nicht mehr den ganzen Tag in Tränen schwammen, begannen sie in einem wundersamen Glanze zu strahlen. Margaret war schön, sehr schön, und es war kein Wunder, daß der arme Wulfstan keinen Blick von ihr verwandte, wenn er daheim war. Den schönsten Löffel hatte er für sie geschnitzt, mit einem Herzen am Stiel, das Margaret durchaus nicht entdecken wollte, und einen Kamm aus Buchsbaumholz, so fein, wie für eine vornehme Lady.
»Ja, ja,« schloß Jane ihren langen Gedankengang mit einem hörbaren Seufzer, »schön bist du, und das Männervolk geht dir nach. Nur gut, das mein William dich nicht sieht, sonst könnt' mich meine Gutheit noch gereuen.«
Margaret warf den Kopf stolz in den Nacken. »Ei, Jane, wer wird so eifersüchtig sein! Wenn ich einmal jemand mein Herz schenke und bin ihm selber treu, dann werde ich auch nicht schlechter von meinem Liebsten denken.«
Jane schämte sich und lief davon, ihren Brief zu holen.
»Ich glaube, es geht schon ohne Brief,« sagte sie zurückkehrend. »Laß sehen, ob ich ihn nicht schon auswendig weiß, hilf mir ein.«
Cardiff castle, Glamorgan.
Im Junimond des Jahres 1106 schreibe ich Dir diesen Brief, meine liebe Jane, immer noch als Diener des hohen Lords, der mich in Glocester gedungen hat, oder vielmehr des Herzogs Robert von der Normandie, der als Gefangener in unserem Schlosse untergebracht ist. Unter dieser Gefangenschaft darfst Du Dir nichts allzu Schlimmes vorstellen. Der Herzog darf reiten, essen und trinken was ihm schmeckt und auch auf die Jagd gehen; aber unter Aufsicht ist er immer, und derjenige, der ihm entweicht, müßte es mit dem Leben büßen. Fürchte nicht, daß ich derjenige sein könnte, dem dies geschähe, denn der Herzog ist zu edel, um einen armen Burschen wie mich in das Unglück zu stürzen. Normannen oder Franzosen und Angelsachsen passen sonst freilich zusammen wie Wasser und Feuer, aber diesem Herzog muß man gut sein; er hat eine liebliche Rede und ein helles Auge und kann trotz seiner Bedrängnis so fröhlich lachen, wie nur ein reines Herz und ein gutes Gewissen pflegt. Ich habe aber so ein Vögelchen singen hören, daß das Blatt zwischen ihm und dem König sich einmal wenden kann; deshalb denke ich klug zu tun, trotz aller Sehnsucht nach Dir, noch hier auszuhalten. Komme Du nun aber auch nach Glocester, wie Du mir beim Abschied versprochen hast! Die Weiber hier sind wohl ganz hübsch, aber keine gefällt mir so gut wie meine kleine Lerche. Höre, Jane, wie wäre es, wenn Du einmal eine vornehme Frau bei Hofe würdest und auf Deinem eigenen Zelter spazieren rittest? Ich habe dem Herzog von Dir erzählt; ich muß ihm öfter erzählen, wenn er traurig und allein ist. Ich hoffe, daß Du wohl bist, mein Liebling, ebenso der Vater und Wulfstan – und daß Du noch ebenso hübsch bist wie vor einem halben Jahre.
Dein bis in den Tod getreuer
William.
Jane äußerte jetzt wie gewöhnlich ihr Staunen darüber, daß so kleine krause Striche imstande seien, die Rede eines Menschen in voller Natürlichkeit zu bewahren, und betrachtete ihren Schatz mit der größten Andacht, ehe sie ihn in die Tiefen ihrer Truhe versenkte. Ihr kindliches Gemüt machte sich nicht die geringsten Sorgen um die Sicherheit ihres William, war er doch selber genügend darüber beruhigt. Margarets Gedanken verweilten gern bei des Dieners Äußerung, daß der Herzog viel zu edel sei, um einen armen Burschen in das Unglück zu stürzen. Und doch war dieser selbe Herzog die Ursache von dem Tode der Ihren und von allen ihren eigenen Leiden. Aber er hatte ein Dach über dem Haupte und satt zu essen und gewiß ein weiches Lager, während sie selber im Begriffe stand, sich ihr kärgliches Brot durch Dienen zu erwerben. Sich fügen und schicken wäre besser gewesen für den Vater und die Seinen; sich fügen und schicken mußte nun auch die Tochter. War dieser einzige Fürst wohl aller dieser Opfer wert? Aus dem Briefe Williams mußte sie es wohl entnehmen, und es war ihr eine bittersüße Genugtuung, daß sie alles, was sie litt, nicht um eines Unwürdigen willen ertrug.
»Wirst du auch fertig sein, ganz gewiß fertig sein, mit deiner Nähterei zum Mägdemarkt in Glocester?« fragte Jane ängstlich.
Margaret warf einen schmerzlichen Blick auf die grünberankte Hütte, für welche sie fast schon ein Heimatsgefühl besaß, und sagte leise: »Übermorgen können wir wandern!«
Mit begreiflichem Bangen sah sie ihrem neuen Leben entgegen. Würde Gott der Herr, von dessen Güte und Milde sie so lange nichts verspürte, sich ihrer endlich erbarmen?
* * *
Arbeitsamkeit und Demut, das waren die beiden Sterne, denen sich Margaret für ihren neuen Beruf anvertraut hatte. Wenn nur erst dieser Markt überwunden wäre, diese schreckliche Messe, für deren Demütigungen außer ihr freilich keine der in Glocester anwesenden Mädchen ein Gefühl zu haben schien. Sie nahmen die Sache wie sie war, als ein Geschäft, bei dem man helle Augen haben muß, um nicht von dem anderen Teil übervorteilt zu werden. Zungenfertig priesen sie ihre Fertigkeiten an und feilschten um jeden kleinen Vorteil, der ihnen von den vorsichtigen oder geizigen Hausfrauen noch vorenthalten ward. Spinnen, weben, hecheln und Wolle kratzen konnten sie, auch Kühe melken, fegen, auf dem Felde arbeiten, backen und kochen, brauen und Kinder hüten. Gut gekleidete Herren schienen sich einen Spaß daraus zu machen, ihre Pferde durch das Gewühl des Marktes zu drängen, um den Mädchen in das Gesicht zu sehen, wohl gar gelegentlich einen Kuß zu erhaschen. Oftmals wurden sie mit Spott und mit Hohn abgeführt, doch kam auch wohl mancher auf seine Rechnung; ja, es ging sogar die Rede, daß nicht selten ansehnliche junge Landbewohner sich unter den hübschen Mägden die Hausfrau erwählt hätten.
Margaretens Schönheit blieb nicht unbemerkt. Trotzdem sie kaum die Augen aufzuschlagen wagte, konnte sie sich doch der zudringlichen jungen Burschen nicht erwehren. Jane hatte sie verlassen, um nach alten Bekannten zu sehen, und so stand sie allein, an die Wand der Kathedrale gelehnt, als suche sie, die Haltlose, einen Halt an den gefühllosen Steinen.
»Ob die wohl sehen kann?« rief einer der Burschen. »Ich wette, sie ist blind geboren wie die jungen Katzen. Die halten die Lider auch geschlossen, wenn sie auf die Welt kommen.«
»Eine Sonne wie dich, erblickt sie doch,« spottete ein zweiter.
»Meiner Seel', die Sonne macht ja gerade blind. Sie wird zuviel hineingeschaut haben; das ist es,« rief ein dritter.
»Ach was, Sonne!« lachte der zweite wieder. »Nicht das Licht dieses Lichtes ist es, welches der Schönen die Augen schließt, sondern sein Rauch. Ein Kienspan ist er, meiner Treu, und keine Sonne. Seht nur, wie lichterloh er brennt.«
Jetzt lachten sie alle im Chor und trieben ihre Possen weiter. Den Tränen nahe vor Angst und Bekümmernis versuchte Margaret vergeblich sich den vorübergehenden Hausfrauen bemerklich zu machen, sobald einmal eine Lücke in dem lebendigen Walle entstand, der sie umgab. Sie traf auf merkwürdig kalte Blicke. Welche Meinung mußten auch diese Frauen von ihr bekommen haben! Endlich nahte ihr Jane wie eine Erlöserin. Schon von weitem hörte sie ihre helle Stimme und, mutig gemacht durch ihre Nähe, bahnte sie sich einen Weg durch ihre Umgebung und rief: »Hier, hier bin ich Jane!«
Jane ging an der Seite einer würdig aussehenden Matrone, die gut, wenn auch ungemein schlicht gekleidet, sich doch unter all den durcheinanderwogenden Leuten mit Leichtigkeit zu bewegen schien. Man gab ihr den Weg frei und grüßte sie mit höflichen Worten. »Guten Tag, Mutter Gray,« rief eine Gevatterin, »habt Ihr noch nicht genug an dem Windbeutel, den Ihr Euch da eingefangen habt?«
Die Angeredete lachte. »Ich mag keine Trauerweiden, Mutter Black. Tüchtige Leute sind mir lieber. Diese fröhliche Jane hier empfahl mir eine Bekannte, die auch ansehnlich sein soll und mit der Nadel gut Bescheid weiß. Die suche ich jetzt.«
»Dies ist das Mädchen,« rief Jane wichtig, nicht wenig stolz darauf, daß es ihr gelungen war, von Mutter Gray, der Gattin des reichsten Tuchwirkers von Glocester, gedungen zu werden.
»Jetzt sage, was du kannst, Margaret.«
Margaret öffnete die Lippen, konnte jedoch vor Schüchternheit und Bangen kein Wort hervorbringen; nur die wunderschönen Augen hob sie mit so rührender Bitte zu Mutter Grays Angesicht, daß es der guten Frau ganz weich ums Herz ward.
»Also du kannst nähen und sticken?« fragte sie. »Hast du auch gelernt, Flachs zu rösten, zu braken, zu schwingen und zu hecheln? Kannst du spinnen und Wolle krempeln, und bist du auch kräftig genug, wenn es not tut, auf dem Felde zu helfen?«
»Ein wenig von allem versteh' ich wohl,« erwiderte Margaret, tief erglühend, »doch was mir zunächst an Geschicklichkeit abgehen sollte, das wird mein Fleiß ersetzen.«
»Aber merke wohl, Mädchen, eine langsame Magd ist mir ein Greuel. Es wäre mir lieb, wenn du auch mit den Kühen Bescheid wüßtest und flink im Grasschneiden wärest.«
Jane machte der Freundin hinter dem Rücken Mutter Grays die eifrigsten Zeichen, zu allem Ja zu sagen, doch Margarets Ehrlichkeit litt dieses nicht. »Ich fürchte,« sagte sie, daß ich Euch bis jetzt wenig genügen dürfte, aber wenn Ihr mir die Ehre erwieset, mich in Eurem Hause aufzunehmen und mich alle diese Dinge dort aus dem Grunde lernen zu lassen, so würde ich mit dem geringsten Lohne zufrieden sein.«
Mutter Gray sah unschlüssig aus. »Völlig erwachsen bist du schon,« sagte sie mißbilligend, »ich schätze dich mindestens auf 20 Jahre und noch so unerfahren. Deine Eltern sind höchlich zu tadeln, daß sie dich so lange dem Müßiggang überließen. Woher bist du gebürtig?«
Margaret brach in Tränen aus und erwiderte unter Schluchzen: »Ach, gute Dame, schmäht meine armen Eltern nicht. Sie taten wie sie klug waren und ich folgte ihnen in aller Einfalt. In Shropshire bin ich geboren, daß Ihr's wißt; aber ein böser Stern hat über mir geleuchtet. Die Eltern sind tot, und auch mir wäre es am besten, ich läge im Grabe.«
»Ach was,« rief die Hausfrau, die es nicht für angemessen hielt, ihr Mitleid zu zeigen, »tue du nur deine Schuldigkeit, dann wird es dir auch an nichts mangeln. Trage deine Klagen und deine Tränen zu den Altären; zu Hause aber sei frisch und froh – das rate ich dir. Und nun komm' mit mir, ich will es mit dir versuchen.«
Margaret ward herzensfroh, während Jane mit ihr zu schelten und zu schmälen begann, daß sie ihre besten Künste verschwiegen habe. Sie trugen zusammen ihr Bündelchen, oder vielmehr Janes Bündelchen, und Mutter Gray ging ihnen vorauf. Da kam die Gevatterin, welche vorhin so freundlich gegrüßt hatte, wieder des Weges. Als sie die gute, bereits etwas beleibte Freundin mit ihrem schönen Gefolge sah, lächelte sie recht spitzbübisch und rief: »Na, na! Ich wünsche Euch recht viel Gutes mit den Mägden!« Öfter kicherte sie hinter den dreien her, so daß sich Mutter Gray recht unwillig umsah.
Zu Hause sollte es aber noch schlimmer kommen; denn dort schlug Meister Gray, als er Margaret erblickte, die Hände über dem Kopf zusammen: »Weib, bist du denn ganz des Teufels? Wo hast du denn dieses Mädchen her?«
»Nun von der Messe!« antwortete die Frau erstaunt. »Wo sollte ich sie sonst wohl herhaben! Dicht an der Kirchentür stand sie, kann also wohl nicht mit bösen Geistern im Bunde sein, und ein hübsch ansehnliches Mädchen ist es.«
»Das ist's ja eben,« nickte der Mann, »viel zu hübsch und ansehnlich für einen einfachen Haushalt wie den unsrigen, in dem es noch dazu so viel junge Mannsbilder gibt. Ich meine, du bringst sie wieder dahin, wo du sie gefunden hast! Mag sich doch ein anderer mit ihr Zank und Streit ins Haus ziehen.«
Die Frau schüttelte ärgerlich den Kopf. »Wie du nur wieder schwarz siehst, Vater! Das Mädchen hat gute Augen; auch heißt sie Margaret, – was – wie du mir selbst einmal erklärtest – Perle bedeuten soll. Vielleicht ist sie eine – mir vom lieben Gott endlich einmal zugedacht. Not tät's!« setzte sie mit einem tiefen Seufzer und mit großer Bekümmernis hinzu, »man hat mit den Dirnen doch gar zu viel Herzeleid gehabt.«
»Ja, so oder so!« bekräftigte der Hausvater, dem nichts unlieber war, als wenn seine Ehehälfte über die Mägde zu schmälen begann. Er bekreuzte sich daher heimlich und machte dem gefürchteten Ohrenschmaus durch einen etwas gewagten Scherz ein Ende. Er hatte ohnedies den Schelm im Nacken, da die heutige Messe ihm einen recht ansehnlichen Gewinn gebracht hatte.
»Eine Perle,« rief er mit übertriebenem Pathos und ging plötzlich mit ausgebreiteten Armen auf Margaret los. »O, wenn du wirklich eine Perle bist, dann laß mich das Gold sein, das dich umfaßt! Welch ein prächtiges Geschmeide müssen wir beide dann abgeben!«
Margaret flüchtete entsetzt in eine Ecke, und Jane beschützte sie mit ausgebreiteten Armen, die zornfunkelnden Augen auf Herrn Gray gerichtet. Mutter Gray aber fielen plötzlich die spöttischen Blicke der Gevatterin ein, die sie sich jetzt richtig zu deuten glaubte, und, von Eifersucht übermannt, warf sie sich ihrem Manne entgegen.
»O, Gott ja! Hätt' ich doch den Engel an der Kirchentür gelassen! Packe dich fort, Mädchen; noch hast du deinen Dienst nicht angetreten und magst wohl noch einen anderen bekommen, der dir mehr angemessen ist, als dies ehrbare Haus.«
Meister Gray lachte laut auf, denn er freute sich als alternder Mann der frischen Gefühle seiner stattlichen Ehehälfte. Margaret aber brach in bittere Tränen aus. »O, wie verwünsche ich mein Gesicht,« schluchzte sie verzweiflungsvoll. »Wenn Ihr wollt, Mutter Gray, will ich es zerfleischen, damit es häßliche Narben bekommt! Oder ich will es mit braunen Salben bestreichen und Asche darauf streuen, damit sich die Leute vor mir entsetzen. Nur laßt mich Euch in Frieden dienen und stoßt mich nicht aufs neue hinaus. Glaubt es mir doch, ich bin keine Unwürdige.«
Jane legte ihr die Hand auf den Mund und erstickte die letzten Worte. »Dienen hier? wo man dich in der ersten Minute gekränkt hat? Nimmermehr! Komm', Margaret, fasse Mut und laß uns den Staub dieses ungerechten Hauses von den Füßen schütteln. Wohin du gehst, dahin gehe ich auch.«
»Ei, ei,« rief der Hausvater überrascht, »bist du auch da, kleine Katze? Na, das ist brav von dir, daß du so zu deiner Freundin hältst und mir deine Krallen zeigst. Aber vonnöten ist's dieses Mal nicht. Ich machte mir nur einen kleinen Scherz – Mägde sind sonst nicht empfindlich dagegen –, um diese meine liebe Frau zu necken, weil sie ein wenig an der schlimmen Krankheit der Eifersucht leidet. Aber ich sehe wohl, ihr seid von besserer Art, und deshalb laßt's euch gesagt sein, daß ihr so sicher und ungekränkt bei mir hausen könnt, als säßet ihr in Abrahams Schoß. Mutter Gray« – er hielt seine Gattin in einiger Entfernung von sich – »hat es nicht nötig, eifersüchtig zu sein, denn sie gefällt mir heute noch gerade so gut, wie an unserm Hochzeitstage.«
»Ja,« nickte die gute Frau etwas beschämt und doch auch ärgerlich über die Lage, in die sie der Übermut ihres Gemahls vor den fremden Mägden gebracht; »besonders gefällt sie dir, wenn sie dir die Freude gemacht hat, wieder einmal in deine Falle zu gehen, die du mir als einem recht arglosen Wild gestellt hast. Diesmal soll aber das allerletzte Mal gewesen sein, das schwöre ich dir.« Und sie raffte all ihre Würde zusammen und wandte sich hochaufgerichtet an die Mädchen. »Ihr mögt also bei mir bleiben, solange ihr eure Pflicht tut und ehrbar unter meinen Augen lebt.«
So wurden die Freundinnen in dem Hause des Tuchmachers aufgenommen und befanden sich wohl dabei. Freilich gehörte zunächst alle Liebe und Geduld Janes dazu, um Margarets Ungeschicklichkeit und Unerfahrenheit in häuslichen Dingen zu verdecken und zu vertuschen; manche Stunde Schlaf sparte sie sich ab, um die Margaret aufgetragenen schwereren und schmutzigeren Arbeiten zu verrichten. Aber die guten Grays, welche sie bald durchschauten und dann herausfanden, daß Margaret viel eher in ein Prunkgemach, denn in einen Schweine- oder Kuhstall gehöre, gaben ihr bald feinere Arbeiten, und als sie solche, besonders Handarbeiten, zur vollen Zufriedenheit verrichtete, so ließ man sie spinnen und weben nach Herzenslust und erlebte manche schöne Überraschung dabei, da Margaret mit den schönsten kunstvollsten Stickereien aufzuwarten verstand und Gewänder sowie Teppiche damit bedachte. Auf das Feld mußte sie freilich öfter mit hinaus, doch nur in der Heu- oder Getreideernte; und das wurde ihr nicht allzu schwer, da ihre Kräfte sich unter der guten Pflege bald wieder hoben.
Der endliche Friede nach dem langen Umherhetzen tat ihr wohl. Sie war glücklich und dankbar in dem wohlhabenden Hause, unter der mütterlichen Obhut Mutter Grays, und hätte gern noch Schwereres für ihre Herrin getan. Die schrecklichen Bilder verblaßten; ihre Arbeit ward ihre Freude und ihr Trost.
Janes Gedanken waren nicht so ausschließlich bei der Arbeit. Ihr William, um dessentwillen sie nach Glocester gezogen war, sprach, wenn er nach der Stadt kam, gelegentlich an der Hintertüre vor, und dieses Ereignis versetzte ihr erregbares Herzchen immer in die größte Glückseligkeit. Manchmal sah sie ihn auch nur im Gefolge der vornehmen Herren, denen er diente, vorüberreiten. Dann sagten sich die Augen des Pärchens, was ihre Lippen verschweigen mußten: »Warte nur, warte nur noch ein kleines Weilchen, dann sind wir Mann und Frau. Spare nur, William, spare nur, Jane, damit du etwas in der Truhe hast – ein wenig Gewand, ein wenig Linnen, vielleicht auch etwas Silber! Dann ziehen wir in ein eigenes Häuschen ein und tauschen mit keinem König.«
Jane konnte es nicht begreifen, daß Margaret so gar nicht wie andere Mädchen darauf aus war, in den heiligen Ehestand zu treten. Die stattlichsten und reichsten Freier ließ sie mit Körben beladen heimziehen. Alle liefen sie der stolzen Margaret nach, bekamen es aber bald satt, weil sie fanden, daß andere Mädchen freundlicher seien. Der Ruf von Margaretens Schönheit und Sprödigkeit verbreitete sich allmählich über die ganze Grafschaft, und ansehnliche Freier fanden sich von außerhalb ein, unter ihnen auch ein sehr reicher Geschäftsfreund des Hausherrn. Doch Margaret blieb ihrer Herrschaft treu. Sie hegte und pflegte ihre Frau, wie es eine Tochter nicht besser gekonnt hätte und stand ihr in den Krankheiten der Kinder zur Seite. Ja, wenn solche Krankheiten im Hause waren, feierte sie ihre größten Triumphe, denn sie wußte wie ein Medikus mit allerlei Tränklein und Kräutern herumzukurieren. Das hatte sie von den Nonnen während ihrer Klosterzeit gelernt. So blieb sie ihrer Herrschaft gegenüber dem Fleiße und der Demut treu, was allerdings bei den guten Menschen nicht allzu schwer war; unmöglich aber dünkte es die Tochter des Grafen Shrewsbury, ihren Stolz soweit zu überwinden, daß sie einem Manne, der der Geburt nach unter ihr stand, ihre Hand zum Ehebunde gereicht hätte. Manchen harten Kampf kämpfte sie deshalb mit sich selber, aber immer vergeblich.
»Denke an deine alten Tage, Margaret,« mahnte auch ihre Hausfrau, mütterlich besorgt um das Mädchen, das sie von ganzem Herzen wert hielt; und Vater Gray fügte gelegentlich neckend hinzu, Margaret warte auf einen alten gichtbrüchigen Greis, damit sie gleich etwas zu pflegen bekomme, oder er warnte mit aufgehobenem Finger: »Margaret, Margaret, wer zu lange auf dem Kürbaum (von küren, wählen) sitzt, der kommt auf den Faulbaum.«
So gingen Jahre dahin im Wechsel der Arbeit. Frohe Feste lösten saure Wochen ab, an denen auch die Dienstleute des Grayschen Hauses ihren vollen Anteil hatten, denn sie saßen mit an dem Tische der Herrschaft. Wer mit uns arbeitet, der soll sich auch mit uns freuen, das war der Grundsatz der ehrenwerten Leute.
Zuweilen gab es auch in Glocester etwas zu sehen, wenn feierlicher Gottesdienst war oder die edlen Herren und Damen der Umgegend auf ihren Jagden und Reiherbeizen durch die Stadt zogen. Dann liefen die Leute zusammen, wie sie das noch heutzutage tun, und stritten sich, welches der schönste Renner sei, wer das prächtigste Gewand trage und wessen Antlitz ihnen am besten gefiel. Da war es vor allem der Herzog Robert von der Normandie, der das Wohlgefallen der Leute in hohem Grade erregte. Er lebte noch immer als Gefangener seines Bruders, des Königs auf Cardiff Castle, genoß aber manche Freiheit. Sein blaues Auge blickte so stolz und freundlich zugleich, und seine Art zu reden und zu sein, bewies eine Feinheit, die bei den vornehmen Angelsachsen durchaus nicht zu finden war. Das gefiel dem gemeinen Manne ebensosehr, wie es den alten Geschlechtern mißfiel, die darunter nur das Abzeichen einer Nationalität erblickten, welche den meisten von ihnen verhaßt war.
Nach Mädchenart war auch Jane begeistert von dem Gebieter ihres William und tischte Margaret getreulich alle jene kleinen Geschichten wieder auf, die sie selber vernommen hatte. Eigentümlich bewegt hörte ihr Margaret zu. Um dieses Mannes willen floß also das teure Blut der Mutter und auf ihn bezogen sich die feierlichen Worte des Vaters, als er an dem Todestage König Wilhelms die Hand auf ihren Scheitel legte und sprach: »Schlafe ruhig, Margaret. Eine neue Sonne wird uns aufgehen, die sollst du mit hellen Augen begrüßen!«
Ach, diese Sonne war immer noch von schweren Wolken umhüllt; sollte ihr aber einmal ein klarer Tag beschieden sein, dann mochte auch Margaret Shrewburys Schicksal sich wenden. Es gehörte zu ihren schönsten Träumen, sich auszumalen, wie es sein würde, wenn dem Gefangenen die Krone zufiele und damit auch ihr vielleicht eine Heimkehr.
Ein hoher Herr wird leutselig, wenn das Schicksal ihm allzu enge Schranken zieht, besonders, wenn er lebhaften Geistes ist und ein freundliches Gemüt besitzt. Auch der Herzog Robert schenkte während seiner Gefangenschaft Dingen und Menschen seine Teilnahme, die er sonst vielleicht übersehen hätte. Es war um die Zeit der Heuernte, da er einmal Jane und Margaret auf ihrem Wege nach der Wiese begegnete. Oftmals schon hatte er, um seinen Diener zu necken, die erglühende Jane mit besonderer Freundlichkeit begrüßt, niemals aber ihre Begleiterin sonderlich beachtet. Heute nun erschien ihm Margaret wie der verkörperte Sommer selber – so schön, so anmutig, daß er sie voller Staunen betrachten mußte. Sie trug ein schlichtes rotes Röckchen, einen großen schattenden Strohhut auf dem Haupte und über der Schulter den Rechen. Er hielt sein Pferd an und sagte einige freundliche Worte über das Wetter und die Aussichten der Heuernte; da er Margaret dabei unverwandt ansah, so antwortete sie ihm in aller Höflichkeit, jedoch auch sichtlich bemüht, diese Unterhaltung nach Möglichkeit zu beschränken: »Erlauchter Herzog,« sagte sie, sich sittsam verneigend, »erlaubt, daß wir uns eilen, damit unsere Herrschaft uns nicht säumig schelte. Wir haben alle um gutes Wetter gebetet, und nun uns die Sonne scheint, müssen wir ihren Segen auch nützen.«
Jane dünkte diese Rede nicht ganz geziemend. Sie warf der Freundin einen strafenden Blick zu und versicherte mit einem tiefen Knix, daß dieser Tag nicht sowohl der Sonne wegen ein gesegneter sei, sondern wegen der Begegnung mit Seiner fürstlichen Gnaden.
Der Herzog lachte belustigt. »Mich dünkt, ihr beide seid gesegnet genug – auch ohne Sonne und meine Huld – weil ihr aneinander so treffliche Gesellschaft habt. Die eine so beredt, die andere so schön! Wie kommt's übrigens,« setzte er mit einem prüfenden Blick auf Margaret hinzu, »daß Hände, wie die deinen, zum Feldbau greifen? Irre ich nicht, so sind sie anders gewöhnt und überließen den Rechen gern stärkeren Fäusten.«
Margaret erschrak und versuchte die weißen Hemdärmel tiefer über die halb entblößten Arme zu ziehen. »Ihr irrt, Herr,« entgegnete sie angstvoll. »Meine gütige Herrin beschäftigt mich nur ausschließlich im Hause und bei leichter Handarbeit; daher bin ich weißer wie Jane. Doch hab' ich auch den Rechen sehr gern, und bitte Euch deshalb nur, mich ihm ungestört widmen zu dürfen.«
Und ohne erst eine Antwort abzuwarten, verneigte sie sich, trat auf die Wiese und begann, ohne sich weiter umzusehen, das bereits geschnittene Heu zu wenden.
Der Herzog blickte ihr voller Staunen nach. Die Art, wie sich das Mädchen verneigte und von ihm losmachte, ihre stolze Anmut und edle Schönheit setzten ihn in Verwunderung. Ein Hoffräulein hätte sich nicht stolzer und zugleich taktvoller benehmen können, wie diese junge Magd einfacher Bürgersleute! Er zügelte sein unruhiges Roß, um Margaret noch eine Weile zuzuschauen. Das rote Röckchen, die weißen Ärmel waren bald hier, bald da, wie es die Arbeit verlangte; aber die Augen blieben unter dem Strohhut versteckt; kein einziger Blick mehr traf den Lauscher. Betroffen und doch auf eine seltsame Weise angezogen verweilte der Herzog noch ein wenig; doch von den wortreichen Entschuldigungen Janes, die mit Margarets kurzem Wesen unzufrieden war, vernahm er nichts.
»William,« fragte er nach längerem Schweigen, »glaubst du wirklich, daß das Mädchen da nur eine Magd ist?«
»So gewiß, Euer Gnaden, wie meine Jane eine ist.«
»Und wie heißt sie?« fragte der Herzog wieder.
»Margaret, Herr!«
»Und ihr Vater?«
»Nun, der war doch wohl ein Müller oder Schmied,« meinte William, der sein spöttisches Vergnügen an diesen Fragen seines Herrn oder vielmehr des Gefangenen seines Herrn nur schlecht verbergen konnte. »Ich meine, sogar gehört zu haben, daß sie eines kunstreichen Dorfschmiedes Tochter ist und von Nonnen in allerlei Künsten unterrichtet, weil ihr Vater dem Kloster gefällig war. Mehr, als mir lieb ist, höre ich von dieser Margaret, denn meine Jane hat völlig einen Narren an ihr gefressen und singt ihr Loblied, so oft sie nur kann.«
»Eifersüchtig, William, auf eine Freundin? Das geht denn doch zu weit,« meinte der Herzog lächelnd, »derlei habe ich wirklich in meinem Leben noch nicht gehört.«
»Gott, verdamm' mich, Herr! Oft bilde ich mir ein, daß sie ein verkleidetes Mannsbild ist.«
Jetzt lachte der Herzog so fröhlich auf, wie er lange nicht gelacht hatte. »Wenn die ein Mannsbild ist, dann bin ich ein altes Weib, William. Ich geb' dir darauf auch meinen Kopf zum Pfande, wenn du mir sonst nicht glauben willst.«
»Freut Euch, Herr, daß der noch sicher sitzt,« entgegnete William grämlich. »Wenn Ihr aber Eurer Sache so sicher seid, so werdet Ihr die Dirne auch haben können, wenn Ihr es nur richtig anfangt. An mir soll es nicht liegen, ich verhelfe Euch gern dazu.«
Den Herzog verdroß der Ton, in dem der Reitknecht von Margaret redete, und kurz angebunden erwiderte er: »Die ist nicht wie andere Weiber. Die ist eher wie eine schöne Blume oder wie ein heller Stern; und ich will ihr in keiner Weise zu nahe treten.«
Dabei gab er seinem Pferde die Sporen und ritt so ungestüm davon, daß sein Diener und Aufpasser ihm kaum zu folgen vermochte. »Verdammt,« murmelte der im Auf- und Niederschnellen, »da kann man sich ja wieder einmal alle Knochen zerbrechen, ehe man sich dessen versieht. Die Hexe soll's mir aber büßen! Denn eine Liebelei wird dennoch daraus, so viel ist sicher, und an den Tag kommt sie auch einmal. Dann ist die Blume oder der Stern die längste Zeit bei Grays gewesen und Jane hat das Nachsehen und ich meine Braut endlich einmal für mich allein.«
Wenn Herzog Robert sich vorgenommen hatte, Margaret in keiner Weise zu nahe zu treten, so war es ihm Ernst damit; doch konnte er es nicht hindern, daß seine Blicke Margarets Herz heimlich in Unruhe versetzten und daß sich ihr liebliches Bild immer tiefer in seine Seele senkte, je öfter er ihr begegnet war; und das geschah während der Zeit der Heuernte noch einige Male, und zwar gerade so oft, wie der schlaue William es vorausgesehen hatte. Selber erstaunt und fast unwillig über eine Erregung, die ihm herabwürdigend erschien, suchte der Herzog sie abzuschütteln – jedoch vergeblich. Frau Minne hatte einmal eins ihrer seltenen Meisterstücke vollbracht und wollte nichts von Stand und Würden wissen. So vergaß denn der Herzog allmählich, wer und was seine Angebetete war und trachtete nur nach einem Blick aus ihren schönen, doch so scheuen Augen und nach einem freundlichen Wort aus ihrem Munde.
An einem schönen Augustabend desselben Jahres saß Margaret in Gedanken versunken an dem winzigen Fensterlein ihrer Kammer. Sie hatte das Haupt in die Hand gestützt und den Blick dem allmählich auftauchenden Abendstern zugewendet, welcher weit drüben über den massigen Gebäuden eines Nonnenklosters zu flimmern begann. Zwischen den großen Gemüsebeeten, welche hinter dem Hofe lagen, standen Baumgruppen, aus deren Schatten die Stimmen der Dienstleute klangen. Lachend, plaudernd und singend freuten sie sich des Feierstündchens, welches die Arbeit des Tages belohnte. Margaret seufzte tief. Wie beneidenswert waren doch diese Leute; sie fanden Genügen in und miteinander, während sie selber nur zufrieden war, wenn sie für andere arbeiten und denken durfte. Die Stunden aber, in denen sie zu sich selber zurückkehren konnte, waren die schwersten für sie, dann wachte die Trauer um das Verlorene wieder auf und beklommenen Herzens schaute sie in die Zukunft. Wie, wenn die guten Leute, in deren Schutz und Brot sie jetzt lebte, dereinst die Welt verlassen sollten – was würde dann aus ihr? Hier schätzte man sie, hier wurde ihr das Dienen leicht gemacht – unter fremden, vielleicht rohen Menschen aber, wenn es ihr Los sein sollte, in deren Hände zu fallen – wie würde sie das ertragen? So mancher und so manche fand Zuflucht in einem Kloster; aber würde sich der armen Magd ein solches öffnen?
Ach, das Kloster! Margaret warf einen scheuen Blick auf den stattlichen Bau und schauderte. Ihr junges Herz lechzte nach Glück und Glanz, nach Schönheit und Poesie, und gerade jetzt pochte es oft so eigen in der Brust, als wolle es sie mahnen, daß es auch noch da sei und nach seinem Recht verlange.
Was hielt es denn für sein Recht und wessen Bild hatte sich leise und unbemerkt darin aufgerichtet? Margaret seufzte aus tiefer Brust und schlug die Hände vor das Gesicht, denn die Antwort, die sie sich selber geben mußte, hatte sie mit Schrecken erfüllt.
Plötzlich zuckte sie zusammen, es war, als sei ein Nachtvogel mit schwirrendem Flügelschlag an ihrem Ohr vorbeigezogen, die eigensinnige Locke streifend, die sich aus den schweren Flechten befreite. Dort an ihrem Lager fiel es nieder – schwer und raschelnd. Sie stand auf; ängstlich betrachtete sie den herabgefallenen Gegenstand und schob ihn mit der Spitze des Fußes nach dem Fenster hin. Dort erkannte sie im aufgehenden Mondenlicht, daß die vermeintliche Fledermaus ein Pergamentblatt sei, das geschickt an einem stumpf gemachten Pfeil befestigt war. Der Bogenschütze hatte gut gezielt. Dort in dem Schatten eines Stalles mußte er gestanden haben, doch jetzt war keine Spur mehr von ihm zu sehen. Mit zitternden Händen entfaltete sie ihren Fund. Es war ein zartes Minnelied, huldigende Worte, wie man sie damals edlen und vornehmen Frauen darzubringen pflegte.
Wer gab dir, Minne, die Gewalt,
Damit du zwingest jung und alt?
Denn deiner Macht gewachsen ist
Nicht Mut noch Trotz, noch Männerlist.
Doch dank' ich Gott, seit ich erkannt,
Daß Ehren schenkt auch deine Hand.
Dein Dienst sei mein, o Königin,
Solang' ich auf der Erde bin.
Umdichtung eines Minneliedes von Walter v. d. Vogelweide.
Margarets Pulsschlag stockte vor Schreck und Glückseligkeit; ihr ahnte, wer der Absender dieses Liedes war. War es denn möglich, daß er der Hohe, Edle die Gefühle ihres Herzens teilte? Gott hatte seinen Sinn zu ihr gelenkt, so verborgen sie auch war, und ihm gebührte der Dank dafür. Schon war sie auf die Knie gesunken und erhob betend die Hände, da trat das Bild der sterbenden Mutter wieder vor ihre Seele. »Es kann nicht sein, es darf nicht sein,« ächzte sie, und vergrub das Antlitz in den Kissen ihres Lagers, »zu viel steht zwischen uns, der Zorn des Königs, das Blut der Mutter, das Elend des Vaters. O lieber Gott im Himmel, was soll ich tun? Niemand habe ich auf der Welt, der mir raten könnte. Rate du mir! Sprich zu mir in dieser Nacht, und meine Träume sollen mir deinen Willen verkünden.«
Lange betete sie so, dann legte sie sich zur Ruhe nieder. Sie hörte es nicht mehr, wie Jane das Lager suchte und merkte es nicht, daß sie mit unfreundlichen Blicken betrachtet ward.
Margarets Träume waren dem Sänger des Minneliedes nicht hold. Die ganze Nacht durchlebte ihr aufgeregtes Gemüt die Leiden wieder, die sie seit der Verbannung des Vaters erdulden mußte. Schwer atmend und von Tränen naß, erwachte sie schon früh am Morgen, ehe noch der Glanz des Mondes verblaßte und die Hähne mit ihrem Schrei das Leben erweckten. Hastig erhob sie sich und kleidete sich geräuschlos an, denn ihr Leib konnte nicht ruhen, da die Seele so voller Aufruhr war. Sie meinte, Gottes Willen erkannt zu haben, da sie sich nach den beängstigenden Träumen der Nacht voller Dankgefühl des sicheren Daches über ihrem Haupte erinnerte. Sie war die bescheidene Magd der guten Grays und genoß mit dem Schatten, in dem sie lebte, auch dessen Schutz. Ihre gute Herrin behandelte sie fast wie die eigenen Kinder, und dort auf dem Lager schlummerte ein gutes, treues Kind, das ihr schon so manche Probe seiner Freundschaft abgelegt hatte. Gott hatte ihr genug gegeben, sie wollte bleiben, wo und wer sie war, Und ihre Hand nicht nach einem Schatze ausstrecken, der ihr nicht mehr zukam. Arbeit war ihr Hort, und Demut ihr Mantel, nach dem kein König die Hand ausstreckt, um ihn an sich zu reißen. In sich selbst gefestigt und froh des errungenen Sieges, schaute Margaret mit klaren Augen um sich. Sie wollte dem edlen Herzog eine Antwort zukommen lassen, die ihn nicht verletzte, ihm aber doch kundtun sollte, daß sie nicht gesonnen sei, auf sein Liebeswerben einzugehen. Sie versank in tiefes Sinnen und ritzte mit einer Haarnadel allerlei Buchstaben in das altersbraune Holz des Fensterbrettes. Jetzt kratzte sie ein paar Worte fort, dann schrieb sie neue darüber, jetzt sprach sie flüsternd dazwischen, dann auf das Wenige, was sie vor sich sah, gestützt, das Ganze, das ihr im Sinne lag.
Nie hab' ich einen halben Tag
Mit ganzen Freuden mir vertrieben.
Was ich an Freud' im Leben pflag,
Des ist nicht eine mir geblieben.
Denn niemand, wie er suchen mag,
Kann wirklich wahre Freuden finden,
Und nie erscheint der ganze Tag,
Da Minne mir soll Kränze winden.
Wie bunter Blumen lichter Schein
Vergeht die Schönheit und der Schimmer –
Und Frieden bringt nur Einsamsein:
Demut und Arbeit bleiben immer.
Gerade als die Hähne krähten, war Margaret mit ihren Versen im reinen. Jetzt mußte auch Jane erwachen und an ihre Arbeit gehen. Sie weckte sie mit einer Liebkosung.
»Guten Morgen, liebe Jane. Nun, wirst du endlich wach, Langschläferin? Steh' nur eilig auf, denn du hast heute viel zu tun, auch möchte ich dich um einen Dienst bitten.«
Dies war nichts Ungewöhnliches, und Jane stets mit Freuden bereit, ihrer Margaret zu dienen. Doch heute gähnte sie nur und blickte verdrossen zur Seite.
Margaret lächelte: »Ei, ei, kleine Lerche. So müde noch? Warst wohl zu lange auf, gestern abend, oder hast aus lauter Sehnsucht nach deinem William schlecht geschlafen?«
Jane fuhr herum und starrte die Sprecherin förmlich entsetzt an. Dann murmelte sie etwas Unverständliches zwischen den zusammengebissenen Zähnen.
»Nun, nun, es wird alles wieder gut,« sagte Margaret, in dem Glauben, daß das Pärchen einen kleinen Zwist miteinander gehabt habe, und fügte, ohne weiter darauf einzugehen, hinzu: »Und um auf den Gefallen zurückzukommen, den du mir gewiß erweisest, so bitte ich dich, Liebe, mir ein Stückchen Pergament und ein wenig Farbe, auch einen Schreibstift oder Pinsel zu verschaffen. Dein kluges Köpfchen wird schon herausfinden, wo du das alles bekommen kannst.«
»Ein Pergamentblatt! o, ah!« lachte Jane, eine höchst sonderbare und auffallende Fröhlichkeit zur Schau tragend. »Ich soll ihr ein Pergamentblatt besorgen, damit sie ein Briefchen an ihren treuen Liebsten besorgen kann. Ha, ha, ha, ha, ha – ich werde es besorgen, pünktlich besorgen, du – du – Lilienblatt du!« Und mit einem Laut, der halb wie Schluchzen, halb wie Lachen klang, schmetterte sie die Tür ins Schloß und stürmte, kaum angekleidet, die enge Stiege hinunter.
Margaret schüttelte den Kopf und sah ihr erstaunt nach. So hatte sie die Kleine ja noch nie gesehen. Sollte sie eine Ahnung von der Botschaft des Herzogs haben und dieselbe in dieser Art mißbilligen? Doch die Arbeit des Tages und die eigene Angelegenheit nahm sie so in Anspruch, daß sie den kleinen Vorfall bald wieder vergaß, um so mehr, als sie am Abend Pergamentblatt und Zubehör richtig in ihrer Kammer fand. Jane selber war nicht zugegen; sie hatte sie den ganzen Tag über, außer bei den gemeinsamen Mahlzeiten, nicht wieder gesehen, und auch am Abend ging sie ihr aus dem Wege. So trieb sie es mehrere Tage.
Mit Herzklopfen hielt sich Margaret nach Sonnenuntergang in der Nähe ihres Fensters auf, fürchtend und hoffend, den geheimnisvollen Bogenschützen wieder zu erspähen, damit auch sie ihn ihres Grußes teilhaftig werden lasse. Sie hatte beschlossen, ihr Briefchen an einen Stein zu binden und diesen dem Boten auf den Weg zu werfen; deshalb richtete sie ihre scharfen Blicke in die tiefen Schatten der Bäume und Ställe. Nicht allzu oft sollte sie so geharrt haben, als wiederum die schlaffe Sehne klang und ein wohlgezielter Pfeil über ihrem Haupte dahinschwirrte. In demselben Augenblick schleuderte sie den bereitgehaltenen Stein mit ihrem Brieflein hinunter. Befriedigt sah sie eine dunkle Gestalt sich nach ihm bücken, hörte aber zugleich den zornigen Ruf einer hellen Stimme: »Steh' William, sag' ich, oder ich schreie, daß ganz Glocester zusammenläuft.« Das war Janes Stimme, und in einem Augenblick war Margaret ihr ganzes Gebaren klar. William war schon vor einigen Tagen der Bote gewesen, ohne Jane aufzusuchen; aber diese hatte ihn erspäht und im Verdacht, daß er selber der Huldigende sei. Nun hatte sie ihm aufgelauert und drohte, sein geräuschloses Verschwinden zu vereiteln. Schnell wie der Gedanke war Margaret unten, und flüchtig wie ein Vogel eilte sie dem davonjagenden Mädchen nach, um es gerade vor dem Hause der Gevatterin Black zu erwischen. Jane wollte sich losreißen, aber Margaret hielt fest und flüsterte ihr zu: »Er war ja nur der Bote, Jane; eines anderen Bote, so wahr mir Gott helfe. Und nun steh' still und komm' mit heim, damit ich dir alles erzähle.«
»Ist's wahr, ist's wirklich wahr?« stieß Jane noch fast atemlos hervor. »Der Herzog? Williams Herzog selber?«
Margaret legte ihr die Hand auf den Mund. »Still, still, Jane, da kommt schon die Gevatterin.«
»Die alte Spürnase?« schalt Jane, welcher vor Schreck und Überraschung noch der Kopf wirbelte, während Margaret der neugierigen Mutter Black und ihren Mägden auf ihre vielen Fragen wegen ihres Wettlaufes schnell gefaßte Antworten gab. Die Gevatterin sah recht spöttisch dazu drein und rief laut und giftig hinter den davongehenden Mädchen aus: »Na, ja, die gute Gray, sie hält die Zügel wohl etwas schlaff. Das sollten meine Mägde sein, die wollte ich lehren. Lief nicht auch kurz vor ihnen der Reitknecht Seiner Gnaden, des Herzogs, hier vorüber?«
Margaret und Jane hatten das Graysche Haus unbemerkt wieder erreicht und die kleine Stiege, welche zu ihrer gemeinsamen Kammer führte, erklommen. Jetzt saßen sie eng aneinandergeschmiegt, Margaret auf dem einzigen Holzschemel, Jane ihr zu Füßen, auf der Diele, den krausen Kopf auf Margarets Knien. Sie floß über vor Bewunderung und Entzücken, als sie die schönen Verse des Herzogs hörte, und dachte beschämt an ihre grundlose Eifersucht und ihr kopfloses Benehmen.
»Laß es nur gut sein, Kleine,« tröstete Margaret gutmütig. »Alles soll vergeben und vergessen sein, wenn nie ein Sterbenswörtchen von dieser Angelegenheit über deine Lippen kommt. Vergiß, was du heute gehört hast, wie auch ich mich bemühen werde, zu vergessen.«
»Zu vergessen?« stammelte Jane, den Kopf emporhebend, und Margaret fassungslos anstarrend. »Das kann dein Ernst nicht sein. Barmherzigkeit übst du gegen jeden Bettler und willst den edlen Gefangenen ohne den Trost und die Freude lassen, die er begehrt! O, wie sehr hat sich der Mann doch in dir geirrt, der von deiner Güte so schön gesungen hat. Laß mich's noch einmal hören, bitte, bitte, Margaret.«
Margaret seufzte. »O, Kind, deine törichte Eifersucht! Habe ich dich nicht schon einmal vor ihr gewarnt, damals, vor der Hütte deines Vaters? Nun hat sie dich zur Mitwisserin meines Geheimnisses gemacht und du quälst mein armes Herz, das alles schon überwunden zu haben glaubte.«
Jane küßte Margarets Hand. »Ja, ich bin ein dummes, eingebildetes Ding! Als ob etwas, was für mich ein Glück ist, auch nur im entferntesten für dich gut genug wäre! Aber einmal mußt du noch lesen, dann will ich auch still sein, ganz still.«
Margaret trug die bereits vorhin von dem Pfeil gelösten Blätter in den Mondenschein und las bewegt und oftmals stockend:
Umdichtung von Walter v. d. Vogelweide.
Gelobt sei der Tag, da zuerst ich erkannt,
Wie sie mir das Herz und den Mut hat gewandt.
Und daß ich von ihr nicht mehr scheiden kann,
Das hat ihre Schönheit und Güte getan.
Ihre Schönheit und Güte, die hat das gemacht,
Ihr rosiger Mund, der so lieblich mir lacht.
Viel Freud' ich wohl einst auf der Erden gewann,
Doch seh' ich sie alle als nichtig heut' an.
Mein Herz und ihr Sinne, ihr habt euch gewandt,
Das Reine, das Liebe, das Gute erkannt.
Ihre Schönheit und Güte, die hat das gemacht,
Ihr rosiger Mund, der so lieblich mir lacht.
»Siehst du, wie gut er von dir denkt!« rief Jane, »und du kannst von vergessen reden? Nun noch das andere, das Herzige.«
Margaret lächelte trübe. Wie wohl und weh sie ihr tat, davon hatte ihre kleine Jane gar keine Ahnung. Dann las sie weiter:
»Aus ihren Diensten wollt' ich geh'n –
So dacht' ich traurig heut' im Walde.
Könnt' ich nur wenig Hoffnung seh'n,
Ich blieb trotzdem, und siehe, balde
Ein kleiner Trost, ein Tröstelein
Ward mir im grünen Halm gegeben
Wohl ein altes, jetzt nicht mehr gebräuchliches Liebesspiel einen langen Grashalm mit einem Stückchen Stroh abzumessen..
Er sagt, ich solle fröhlich sein
Und würd' der Herrin Gnade leben.
Ich maß mit einem kleinen Stroh,
Wie es von Kindern ward erlesen:
Sie liebt, liebt nicht, liebt! o, wie froh
Bin ich durch meinen Halm gewesen.
Wie ich auch maß, das End' war gut –
Wie wohl doch frommer Glaube tut.«
Jane wiederholte entzückt die letzte Strophe und sah Margaret vorwurfsvoll an. »Und dies willst du vergessen? Wirklich vergessen?«
»Mein liebes Kind,« erwiderte Margaret mit zuckenden Lippen, »wie gern würde ich Hoffnung, Glück und Freude gewähren, wenn ich es nur dürfte. Aber glaube mir, meine Hände sind gebunden, und ich würde nur seine Sicherheit und meinen Frieden gefährden, wenn ich anders entschiede. Ich kann dir nicht mehr sagen, du mußt mir glauben und vertrauen; es geht nicht anders, so weh es mir auch selber tut. Ich habe dem edlen Herzog bereits heute eine Botschaft zurückgesandt, die seinen Liedern für immer ein Ende machen wird.«
»Eine Botschaft – das Pergamentblatt mit dem Stein?« stammelte Jane, in die Tasche greifend, »o, ich vergaß, verzeih', Margaret, ich nahm sie auf, hier ist sie.«
Margaret erbleichte. Dann brach sie in Tränen aus und sank an ihrem Bette nieder. »O, Jane, Jane, was hast du mir getan!«
Jane erschrak. Sie tröstete Margaret, so gut sie es verstand, und versprach, den unglückseligen Stein sobald wie möglich abzuliefern. Sie begriff Margaret nicht; nicht diesen Schmerz um die wider Willen aufgeschobene Botschaft, noch weniger ihre Entsagung. Wohl wußte sie, daß Margaret unsäglich Trauriges erlebt haben mußte, wenn sie auch die Einzelheiten niemals erfuhr, und nahm an, daß diese bösen Erlebnisse schuld daran seien, daß Margaret nicht lebenslustig wie andere Mädchen war. Gerade deshalb aber fühlte sie sich als einzige Freundin berufen, für Margaret zu denken, zu sorgen und zu handeln und wider den eigenen Willen ein schönes Glück zu bereiten. Sie hatte Margarets Stein in der Hand, und sie beschloß, den besten Gebrauch davon zu machen.
Noch als sie endlich beide zur Ruhe gegangen waren und Margaret still und erschöpft von ihren Tränen und den Erlebnissen des Tages auf ihrem Lager lag, kreisten hinter Janes brauner Stirn die buntesten Gedanken. Sie baute an einem schönen stolzen Luftschloß, sah den Herzog und Margaret mit goldenen Kronen geschmückt und vergaß auch nicht sich selbst und ihren William mit Samt und Seide auszustaffieren. Eine große Dienerschaft, edle Rosse, zierliche Windspiele umsprangen sie und geleiteten sie bis in den tiefsten Traum. Hatte es denn nicht auch klar und deutlich in Williams Brief gestanden, daß sich das Blatt zwischen dem König und dem Herzog Robert einmal wenden könne? Und war nicht der Herzog in ganz England beliebt, während die Leute von dem König nicht recht etwas wissen wollten? Recht mußte doch schließlich auch Recht bleiben, alle Sänger sangen so – und der Herzog mußte auf den Thron gelangen, der ihm zukam.
Jane erzitterte das Herz vor lauter Vorfreude. Behutsam richtete sie sich ein wenig mit dem Oberkörper auf und warf einen zärtlichen Blick auf die schlummernde Margaret. »Schlaf' wohl, du liebe, goldene Herzogin. Mein Lilienblatt, meine weiße Rose – ich wache für dich.«
Jane säumte nicht, sich am folgenden Tage einen Plan zur Ausführung ihrer Absicht zurechtzulegen. Sie mußte erfahren, wo sie dem Herzog begegnen konnte, damit sie ihm Margarets Botschaft überreiche. Aus gewichtigen Gründen war sie nicht gesonnen, William mit diesem Auftrag zu beehren, hatte auch vorderhand keine Gelegenheit dazu, denn der Bursche, ärgerlich über ihr eifersüchtiges und kopfloses Benehmen, ließ sich seit jenem Abend nicht wieder bei ihr blicken, ja er war ganz und gar verdrießlich über »die verdammten Heimlichkeiten«, die ihm Kopf und Kragen kosten konnten, wenn Lord Cardiff davon erfuhr. Hätte er damals nur gleich die alberne Jane erkannt, er würde sie schon still gemacht haben und hätte sich nicht auf diese Flucht begeben, die das Dümmste war, was er hätte unternehmen können. Getane Dinge sind bekanntlich nicht zu ändern, aber zum anderen Male begehen braucht man sie nicht, und davor beschloß William, sich zu hüten.
Margaret war sehr unruhig aufgewacht, und von Tag zu Tag steigerte sich ihre Unruhe, und ihre Stimmung ward sehr ungleich. Bald weinte sie um die geringste Kleinigkeit, bald stand sie in Träumen versunken da und vergaß die naheliegendsten Dinge, so daß Vater Gray sich zu dem Scherze veranlaßt sah, Margaret habe den berühmten Gichtbrüchigen endlich gefunden; nun gäbe es bei Grays bald eine fröhliche Hochzeit. Margaret war kein Spaßverderber, sie ging lachend auf den Scherz ein und versuchte gewaltsam sich zu fassen. Heimlich aber fragte sie Jane wohl hundertmal: »Ist der William noch nicht bei dir gewesen? Hast du ihm mein Briefchen noch nicht gegeben?« Jane schüttelte immer mit dem Kopf dazu und ließ die Seufzer und Vorwürfe über die vereitelte Botschaft merkwürdig geduldig über sich ergehen.
»Sei ruhig, Lilienblatt,« war alles, was sie dazu sagte, »ich finde schon meine Gelegenheit.«
Und die Gelegenheit schien sich wirklich zu finden. Eine große Jagd ward von einem Edelmann der Umgegend angesagt, auf welcher auch der Herzog anwesend sein sollte. Jane erfuhr zufällig davon, verschwieg es aber gegen jedermann im Hause – Margaret ausgenommen. Diese bat sie, an jenem Nachmittag für sie beide einen Urlaub auszuwirken, den sie zum Einsammeln von Steinpilzen, des Hausherrn Lieblingsgericht, anwenden wollten. »Allein wage ich mich nicht so weit,« sagte sie. »Du bleibst im Hintergrunde, wenn wir eine Gelegenheit erspäht haben, und ich gehe keck darauf los und löse mein dir gegebenes Wort.«
»Vergiß nur nicht ein Tuch für die Pilze,« klagte Margaret, die Hand zum Kopfe führend. »O, wie es mir hier in der Stirn bohrt! Ich wollte, es wäre erst Abend.«
»Wie werde ich das Tuch vergessen – für die schönen, braunen, faustgroßen Pilze!« lachte Jane ausgelassen. »Gib acht, die werden unserem guten Hausvater schmecken!«
Margaret aber wurde das Herz schwer. O wie traurig ist es um ein Mädchen bestellt, das keinen treuen Berater mehr hat, der es im Labyrinth des Lebens an der Hand führt.
Es war ein uralter Wald, zu dem sie ihre Schritte lenkten. Gewaltige Baumriesen verbreiteten ein ernstes Dunkel, und eine feierliche, fast furchtsame Stille um sich her. Mutter Gray hatte durchaus nicht ihre Erlaubnis zu dem Spaziergang in diese Einsamkeit geben wollen; erst als Jane versprach, nur sich am Waldsaum aufzuhalten, willigte sie für eine kurze Stunde ein; doch Jane dachte nicht mehr an ihr Versprechen. Mutig schritt sie ihrem Ziele zu, das eine gute halbe Stunde waldeinwärts lag. Hier mußten die Pfade vorüberführen, die von Cardiff Castle herauf kamen. Bereits in Glocester hatten die Mädchen die Severn überschritten und sich seitwärts gewendet, so daß der allmählich immer breiter werdende Strom als bester Führer in der Wildnis ihnen zur Linken blieb. Ein langgezogener Hornruf ließ sie plötzlich zusammenfahren; das war ein Zeichen, welches den Jägern galt, sei es, um sie zum Weidwerk zu zerstreuen, sei es, um sie zu einem Sammelplatz zu rufen. Margaret begann zu zittern. »Wenn wir in das Treiben gerieten, Jane; und die Hunde uns aufstöbern! Laß uns heimkehren, ich bitte dich.« Doch Jane lachte sie aus. »So hart an der Straße werden sie nicht jagen; das Wild würde ihnen ja auch hier in der Severn davonschwimmen. Sei ganz ruhig, Margaret, und bleibe unter jener Eiche, an der wir vorhin vorüberkamen – du weißt, wo die Glockenblumen standen und der Fingerhut so rot und hoch. Rechts und links brech' ich die Haselzweige und knicke das Farnkraut, damit ich dich wiederfinde, wenn mein Werk getan ist. Siehst du wohl, hier sind wir schon – ist das nicht ein herrliches Plätzchen? Gehab' dich wohl und laß dir die Vöglein ein süßes Lied singen. Ich bleibe ganz in der Nähe. Leb' wohl, leb' wohl!«
Sie schlüpfte davon und Margaret war allein. Unruhig ging sie auf dem kurzen, weichen Grase umher, und nur, um ihre Gedanken abzulenken, rupfte sie Geißblatt, Efeu und Waldrebe ab und verschlang die Ranken zum Kranze. Ihre Hände bebten und ihre Wangen brannten, während ihr feines Ohr in die Ferne lauschte. War das nicht das Wiehern eines Rosses, zerbrachen nicht dürre Zweige unter seinen Hufen? Nein, nur ein Eichhorn war es, das gurrend von Wipfel zu Wipfel sprang und jetzt lustig um einen Baumstamm lugte. Jetzt! Nein, dies war der Schrei eines Habichts. Margaret ließ die Hände sinken und lauschte dem angstvollen Klopfen ihres Herzens, das wie ein Totenglöcklein zu läuten begann, um die Liebe, die es begraben sollte. O, wie schwer ist doch das Leben und das Verzichten. »Jane, Jane!« Sie rang die Hände ineinander in ihrer stummen Pein – und ließ sie plötzlich wieder sinken, denn die Gebüsche vor ihr zerteilten sich, und lautlos wie eine Erscheinung ward der feine Kopf eines Rosses sichtbar, dann das ganze Tier; und er, dem ihre Gedanken galten, führte es am Zügel.
»Herr Herzog!« rief Margaret, zum Tode erschrocken, aus. »Margaret!« gab er frohlockend zurück.
»Alles andere erwartete ich, als Euch hier vor mir zu sehen,« fuhr sie mit zitternder Stimme fort, »habt Ihr meine Botschaft nicht erhalten?«
»Ich erhielt sie, Margaret, doch da mir die Botin deinen Aufenthalt verriet, beschloß der Verurteilte, um Gnade zu bitten.«
»Herr, sucht Euch ein Gemahl, das Eurer würdig ist –«
»Ich wüßte kein würdigeres als dich.«
»Ein Gemahl, das edel von Geburt und reich an Gütern ist –«
»Margaret, hast du je davon gehört, daß sich ein Vogel einen Gesellen unter den Fischen suchte, oder ein Fisch unter den Bewohnern der Lüfte? Nur was zusammenpaßt, das findet sich auch; und wie Frau Minne gebeut, so müssen wir gehorchen. Hast du denn nichts von ihrem Ruf vernommen?«
»Herr,« rief Margaret, die gefalteten Hände in Todesangst zu dem Manne emporhebend, »ich flehe Euch an, beendet dies Gespräch. Ich darf Euch nicht nachgeben um Eures Lebens willen. Bedenket den Zorn des Königs – würde er nicht trennen, was sich eben vereinte? Euch in strengeres Gewahrsam setzen und mich Arme verstoßen?«
Der Herzog sah die Sprecherin traurig an. »Wahrlich, schöne Margaret, Frau Minne hat Euer Herz nicht berührt. Wie weise Ihr das Für und Wider abzuwägen wißt! Wenn du mich abkühlen wolltest, Mädchen, hättest du mir nur nicht so schöne Verslein schreiben sollen. Auf der ganzen Insel, soweit das Meer sie umschließt, macht dir das keine von deinen Schwestern nach. Sie haben mir das Rätsel gelöst, warum du eine so wunderbare Anziehungskraft auf mein Gemüt ausübst. Wir sind gleich, Margaret, an Seel' und Leib, und gleich und gleich soll sich zueinander gesellen. Mein Bruder hat mir alles genommen, was mein auf dieser Erde war, selbst die Krone auf seinem Haupte gebührt mir als dem älteren von uns beiden. Doch will ich ihm alles von Herzen gönnen, wenn er nur deine Hand in meine legt. Diese einzige Gunst wird er mir doch gewähren; ich will nicht ablassen mit Bitten, bis er es tut.«
»Herr,« entgegnete Margaret, nicht mehr imstande, ihre tiefe Bewegung zu bemeistern, »der König wird dies niemals tun, wird kein unedles Reis auf seinem Stammbaum dulden –«
»So fliehe mit mir in ein anderes Land! Arm und elend will ich sein wie du, und dennoch glücklicher in deinem Besitz, als mein Bruder auf seinem Thron!«
»Wenn ich nur die wäre, als die Ihr mich kennt, mein teurer Herzog,« schluchzte Margaret außer sich. »Wenn ich nicht jemand wäre, den der König mit seinem Haß verfolgte! Wisset denn, ich bin Margaret Shrewsbury. Mein Vater ward als ein Opfer seiner Zuneigung zu Euch aus seiner Heimat verbannt und mußte in Not und Elend sterben, und auch die Mutter, die Geschwister und mich vertrieb der rachsüchtige König von Haus und Hof. Alle sind gestorben und verdorben; nur ich allein blieb übrig, weil ich bei guten Leuten ein Unterkommen als Magd fand. Mein unscheinbares Kleid verbirgt mich; als Eure Gemahlin aber dürfte mich doch mancher wiedererkennen.«
Der Herzog hatte ihr mit grenzenlosem Erstaunen zugehört. »Margaret Shrewsbury!?« rief er aus, »Shrewsburys Tochter bist du? Du siehst, ich habe die kostbare Perle auch in der unscheinbaren Muschel gefunden. O, Margaret, Geliebte, um meinetwillen hast du alle diese Unbill geduldet. Sieh es doch endlich ein, daß das Schicksal uns unauflöslich aneinandergekettet hat, und daß es mein heiliges Recht ist, deine Leiden zu rächen und deine Kümmernisse in Freuden zu verwandeln. Hier an dieser Brust ist hinfort dein Platz und nichts in der Welt soll uns mehr trennen.«
Er ergriff die Hand des nicht mehr widerstrebenden Mädchens und zog die heftig Weinende an sein Herz.
»Glückseliger Augenblick,« flüsterte er unter heißen Küssen. »Hier in dem Tempel Gottes, der meinen Schwur gehört hat.«
»Möchte er uns gnädig sein,« gab sie leise erschauernd zurück, denn selbst in der trunkenen Wonne, die ihr ganzes Sein erfüllte, vernahm sie eine warnende Stimme, die ihr riet, ihrem bescheidenen Los treu zu bleiben und noch jetzt zu entsagen.
Doch es war so süß, von einem starken Arm umschlungen, an einem treuen Herzen zu ruhen. Margaret fand nicht die Kraft, sich loszureißen; nur noch fester umschlang sie den Geliebten, seine feurigen Küsse erwidernd. »Mein stolzes Mädchen,« flüsterte es an ihrem Ohr, »wie sind deine Küsse so süß! O Margaret! Margaret Shrewsbury!«
Margaret erbebte, als sie den Namen ihres Vaters hörte. »Still,« flüsterte sie, »daß niemand den Namen des Vogelfreien hört. – O, wie konnte ich einen Augenblick vergessen, wer ich bin, vergessen, daß du um meinetwillen in einen Abgrund von Entsetzen und Elend gestoßen werden kannst! Fliehe mich, Robert, vergiß – nein, vergiß nicht, aber entsage!«
Sie riß sich los, bedeckte das Gesicht mit den Händen und lehnte sich, von heftigem Schluchzen geschüttelt, an den Stamm der Eiche.
»Fürchtet sich meine Taube?« fragte der Herzog sanft, ihr folgend.
»Ja, ich fürchte mich! Ich fürchte für dich – für dich! Ich habe den Becher aller Leiden geleert und möchte ihn nicht an deinen Lippen sehn. Du bist in milder Haft. Du weißt noch nicht, was das Wort dieses Königs vermochte! Du kennst nicht den Hunger und Durst, nicht das Gehetztsein von Ort zu Ort – du kennst nicht die blutenden Füße, die vorwärts müssen – nicht die verzweifelte Ohnmacht, dein Liebstes zu stützen und zu retten!«
»Nein, ich kannte es nicht,« rief der Herzog aus, die schlanken Hände des Mädchens wieder und wieder küssend, »aber jetzt kenne ich es! Alles Leid, was du erlebt hast, lese ich aus deiner Seele heraus, als hätte ich es selber erlebt, und ich schwöre dir bei dem Gott, der uns zusammengeführt hat – ich will das hingeopferte Blut rächen und für jede Stunde, in der du Unmenschliches erdulden mußtest, dich mit Glückseligkeit überschütten, solange dies Herz schlägt. Die schmählichen Fesseln, in die ein unnatürlicher Bruder mich schlug, zerreiße ich! Mir gebührt die Krone von Engelland, und du sollst meine Königin sein!«
»Stille, stille,« mahnte sie, dennoch mit entzückten Blicken das von stolzer Männlichkeit leuchtende Antlitz des Geliebten betrachtend. Er trat näher, die Zügel seines treuen Rosses wieder am Arm.
»Laß uns fliehen, Margaret, heute noch – dem Mutigen helfen die Götter – und gerade das Getümmel der Jagd ist uns günstig. William und deine kleine Jane werden uns nicht verraten. Das Meer ist nicht weit – ich weiß, ein Segler liegt zur Abfahrt bereit, dessen Führer ich kenne. Ich rudere uns in einem Boot bis zu einer kleinen Insel, an welcher das Schiff vorüber muß. In Frankreich landen wir, und dort vertraue ich dich der Obhut der Königin an, bis ich dich ganz mein Eigen nennen darf, und einen letzten Sturm auf Heinrichs Thron gewagt habe. Ich habe guten Grund, zu glauben, daß der französische König mich unterstützen wird. Hast du nun wieder Mut, Margaret, für mich und mit mir?«
Margaret hob den Kopf und tauchte ihre Blicke tief in die lebensprühenden, liebevollen Augen des Herzogs.
»Mein Herr und Geliebter,« sagte sie mit unbeschreiblicher Innigkeit, »und wenn es in den Abgrund der Hölle ginge, ich ließe dich jetzt nicht mehr.«
Der Herzog stieß einen halbunterdrückten Jubelschrei aus und küßte das Haar und die Augen des geliebten Mädchens. –
In diesem Augenblick bog Jane ein wenig das Gebüsch zur Seite, vor dem die beiden standen, und nachdem sie einen Augenblick ihren Liebkosungen zugesehen, ließ sie lächelnd und kopfnickend die Zweige wieder zusammenfallen. »Der Halm, der Halm hat recht gehabt. Sie machen es gerade wie wir, liebster William,« rief sie, nachdem sie sich eine Strecke weit durch das hohe Farnkraut gewunden hatte und zu ihrem Verlobten zurückgekehrt war. »Dacht ich's mir doch und sagt ich's nicht gleich – die ganze Schreiberei ist Firlefanz gegen einen einzigen Kuß, so künstlich sie auch sein mag. Meinst du nicht auch, William?« Sie spitzte die frischen Lippen und bot sie ihrem Genossen einladend dar. – »Was, du willst nicht einmal?«
»Sie küssen sich also wirklich!« William setzte die Mütze auf, nahm sie wieder ab und kratzte sich bedenklich hinter dem Ohr. »Verfluchte Geschichte das! Ja, wenn's nur eine Liebelei wäre, wie ich früher dachte! Aber gleich so ernst! Daß die nur gut endet! Jane,« fuhr er resolut fort, »all dieser Unsinn muß aufhören. Sobald wie möglich mußt du meine Frau werden, damit ich dich immer unter Aufsicht habe. Daß du uns heute in den Weg liefst – noch dazu mit der anderen – das war mindestens überflüssig. Ich hätte das Dings da noch einmal besorgt, und damit hätte – wie du selbst sagst – die Sache ein Ende gehabt.«
Jane sprang mit zornig funkelnden Augen von seiner Seite auf. »Nun wird es aber bunt, du Undankbarer; und diese schöne Stunde war nichts für dich?«
»Ja, ja,« beruhigte er, immer noch verdrießlich, »aber du mußt doch einsehen, daß ich in einer höllisch schiefen Lage bin. Mir geht es zuerst an den Kragen, wenn die Sache herauskommt, und an mich – deinen künftigen Gatten – solltest du denken, nicht an deine Freundin, aus der ich mir gar nichts mache. Entweder liebst du mich nicht so, wie du immer behauptest, oder du bist eben ein Gänschen, das vom Leben nichts weiß.«
»Aber, William, hast du nicht einst selbst geschrieben – – –«
»Mußt du mich gerade an meine Dummheiten erinnern? Ich will nicht mehr dumm sein, daß du's nur weißt, und mich von den Leuten an der Nase herumziehen lassen.«
Er war sehr zornig geworden und lies erregt auf dem Moose hin und her.
Jane schwieg etwas eingeschüchtert, dann sagte sie: »Es ist doch kein Unglück, wenn ein Mann ein gutes Mädchen liebt. Warum sollte denn der König nicht Ja dazu sagen?«
William murmelte etwas, das nicht sehr schmeichelhaft für Janes geistige Fähigkeiten war, und stieg – verdrießlich mit der Reitpeitsche um sich hauend – über einen umgefallenen Baum, um seinem weidenden Rosse das Zaumzeug zu ordnen.
»Jetzt hole sie dir nur, und dann macht, daß ihr fortkommt,« brummte er, »ich sitze hier nicht länger wie ein Narr.«
Vergebens wartete Jane aus einen freundlichen Blick und schlich endlich betrübt davon. – Aber wie sie auch schaute und suchte – leise Margaretens Namen rief – es erfolgte keine Antwort. Totenstill blieb es ringsumher, nur das Eichhorn schaute spöttisch herab und warf eine hohle Nuß auf Janes umhertrippelnde Füße. Endlich mußte sie unverrichteter Sache wieder zurückkehren. »Ich finde sie nicht,« sagte sie kleinlaut und bedrückt. »Sollten sie Blumen Pflücken gegangen sein oder gar die Pilze für unseren Hausvater?«
William lachte spöttisch auf: »Weib, bist du von Sinnen?«
»Haben wir denn nicht auch Blumen gepflückt, damals im Walde bei Worchester?« beharrte sie weinerlich.
Er drehte ihr den Rücken zu und, sein Pferd am Zügel führend, begann er die Eiche zu umkreisen – erst näher, dann in immer weiterem Bogen. Als die richtige Spur nicht sogleich zu entdecken war, stieß er einen gellenden Pfiff aus, auf den der Gefangene zu antworten hatte, aber so angestrengt er auch hinaus horchte, keine Antwort ließ sich vernehmen.
»Also entflohen! Wirklich durchs Garn gegangen!« murmelte er ingrimmig: »Verflucht seien die Weiber mit ihren Künsten. Wenn der Teufel einen ehrlichen Mann umgarnen will, dann fängt er ihn mit schönen Augen und langen Haaren. Nun reite, William, reite um dein Leben!«
* * *
Jane wußte es später nicht zu sagen, wie und wann sie an jenem Tage nach Hause gekommen war. Vergeblich hatte sie versucht, William zurück zu halten, ihn gebeten und beschworen, dem flüchtigen Paare einen Vorsprung zu lassen. Sie war in ihrem kleinen Herzen davon überzeugt, daß es sich nur um eine neckische Tändelei handle und die Liebenden über kurz oder lang wieder auftauchen würden; allein William war nicht von der Harmlosigkeit der Angelegenheit durchdrungen und folgerte ganz richtig, daß der Herzog, weil alles andere zu gefährlich war, den Weg nach dem Meere zu eingeschlagen haben müsse. Da tat freilich Eile not, wenn er den eigenen Kopf auf den Schultern behalten wollte, und ungesäumt machte er sich auf die Verfolgung, ohne erst dem Gebieter von Cardiff Castle Bericht zu erstatten.
Das Unglück hat lange Beine, und als Jane sich mit ihren, in Todesangst zusammengerafften Pilzen den Mauern von Glocester wieder näherte, da erfuhr sie schon unterwegs von heftig durcheinanderredenden Leuten, daß Herzog Robert – auf der Flucht mit einem Mädchen geringen Standes – von seinem Reitknecht eingeholt worden sei, mit diesem in Streit geriet und den Armen kurzerhand erstach. Aber auch der Herzog selber sollte eine lebensgefährliche Wunde davongetragen haben, die ihm das Vorwärtskommen unmöglich machte. Das herabgeronnene Blut hatte ihn anderen Verfolgern verraten. Er mußte sich ergeben, und man brachte ihn sowohl wie die Magd, welche den Verwundeten durchaus nicht verlassen wollte, nach Cardiff Castle zurück.
Dies war die Wahrheit, welche nach all den widersprechenden Gerüchten zurückblieb, eine so traurige Wahrheit, daß sie Mitgefühl und Trauer im ganzen Königreich hervorrief, und die arme Jane beinahe um den Verstand brachte. Ein hitziges Nervenfieber warf sie auf das Krankenlager – die verstörten Grays hatten kaum erst das Notdürftigste von ihr erfahren – und brachte sie an den Rand des Grabes.
Am tiefsten fühlte die Hausfrau Margarets Verlust. Jetzt erst ward sie völlig inne, wieviel sie an dem Mädchen besessen hatte, dessen überlegener Geist und allzeit hilfsbereiter Sinn ihr Wohl und das des ganzen Hauses wahrzunehmen verstand. Ohne daß sie es wußte, hatte sie hinaufgesehen zu ihr und in ihr die Stütze gefunden, welche die Herrin eines großen Anwesens nur zu sehr bedarf. Jetzt ruhte alles wieder allein auf ihren Schultern; sie sollte die Augen überall haben und dann noch für die Schwerkranke sorgen. O, wo war ihre gute Ärztin, die mit allen Leiden Bescheid wußte! Vergeblich zerbrach sie sich den Kopf, wie es möglich war, daß diese unheilvolle Leidenschaft von ihrer sonst so spröden Margaret Besitz ergreifen konnte. Ein großer Zorn gegen den Herzog ergriff sie; sie nannte ihn einen Verführer, einen Aufwiegler gegen Sitte und Recht und schmiedete Plan auf Plan, wie sie ihren Schützling aus dem finsteren Kerker wieder heraus in ihr friedliches Haus führen könne. Die Verdächtigungen der Mutter Black, welche Margaret hämisch »eine Heimliche« und »eine Scheinheilige« nannte, wies sie entrüstet zurück.
Mit einem Male verbreitete sich das Gerücht: »die freche Magd, welche den Herzog mit allerlei Künsten betörte und ihre Augen freventlich zu einem Fürsten erhob«, sei zum Tode verurteilt, der Herzog dagegen nur zu einer strengeren Haft. Dies brachte das sonst so ruhige Blut der Frau Gray dermaßen in Aufruhr, daß sie sofort beschloß, die weite Fahrt zum Könige zu wagen, um ihn um Gnade für Margaret anzuflehen. Sie vermochte den gleichfalls tief ergriffenen Gatten trotz der Erntezeit ihr sein bestes Gespann zu geben, und begab sich unverzüglich auf die Reise nach Londes (alte Form für London), fernab nach der Mündung der Tamasis (Themse), wo König Heinrich in der von seinem Großvater erbauten Burg sich aufhielt. Wegen des mächtigen, von Wassergräben umgebenen Turmes nannte das Volk diese Burg kurzweg den Turm oder Tower. Schon damals begannen in der noch kleinen Stadt sich Handel, Gewerbe und Schiffahrt zu regen, ein Umstand, welchen die Bewohner der übrigen Plätze gerade nicht mit freundlichen Augen betrachteten. Doch solche eifersüchtigen Gedanken hatten heute keinen Raum in Mutter Grays Seele. Sie strebte mit ihrem treuen Geleite einzig ihrem Ziele zu, von der marternden Furcht erfüllt, daß sie zu spät kommen könne. Überall, wohin sie kam, redete man von nichts anderem, als von dem Herzog Robert und seiner Geliebten. Bald ward Margaret in dem Munde der Leute zu einem Engel, der dem armen Gefangenen Trost und Labung spendete, bald zu einem Dämon, der ihn ins Verderben gelockt hatte. Die Aufregung war allgemein, wenn man es auch nicht für geraten hielt, sie jedermann zu zeigen.
Mutter Grays Reise verlief ohne jeden ernsten Zwischenfall. Kaum in London angelangt, begab sie sich sogleich nach der Königsburg und hatte auch das Glück, vor König Heinrich erscheinen zu dürfen.
Sie fand den Herrscher in einem runden, hohen Gemache, dessen viereckige Fenster fast manneslang durch die gewaltigen Mauern gebrochen waren. Bunte Teppiche verhüllten die Wände und bunte Matten, wärmende Decken den festgestampften Lehmfußboden. Eine Menge feingekleideter Höflinge umgab den König, und Wächter mit kurzen Schwertern und Köchern voller Pfeile an den Lenden lehnten an den Türpfosten, die schön verzierten Bogen lässig in den Händen. Die unscheinbare, kleine Frau schien niemand sonderlich zu beachten, und wie Eiseskälte legte es sich ihr auf das zagende Herz.
»Nun Mutter, was bringt Ihr mir?« rief ihr der König gutlaunig zu, seine hagere Gestalt in dem offenen Halbrund eines mit Fellen bedeckten Sessels dehnend. »Habt Ihr in Glocester wieder eine neue Farbe für Eure feinen Tuche entdeckt, oder bringt Ihr uns noch dickere Decken für unsere guten Rosse wie bisher? Nur her damit; wir bei Hofe können alles gebrauchen. Wenn es gut ist,« setzte er lächelnd hinzu.
Mutter Gray hob den unsicheren Blick, als wolle sie in den Mienen des Gewaltigen vor ihr lesen. Es war ein schmales Antlitz, in das sie blickte; fein zugespitzt die Nase, aber von ihr herabgehend zwei böse Linien, deren strengen Eindruck das Angenehme der geschweiften Lippen, die offenbar gut und viel zu reden verstanden, keineswegs zu mildern vermochten, um so mehr, als auch das braune Auge etwas Stechendes hatte. In ein langes Gelehrtengewand gekleidet, hätte dieser etwas vertrocknete König viel eher in ein enges Studierzimmer gepaßt, als in das Kleid eines Kriegers und in den königlichen Audienzsaal.
Mutter Grays Herz pochte laut. »Großmächtiger König,« erwiderte sie, sich auf die Knie werfend, »nicht wegen der Tuche komme ich her, obgleich sie meinem Eheherrn sehr am Herzen liegen – und auch meiner Wenigkeit – und wir Leute in Glocester begierig darauf sind, Euer Wohlgefallen zu erringen; sondern um etwas Kostbareres komme ich her. Ich flehe um das Leben meiner Magd Margaret, die Ihr zum Tode verurteiltet, weil sie das Herz Eures Bruders, der Herzogs Robert, gefangennahm.«
Der König sprang auf. »Wegen dieser leidigen Angelegenheit kommt Ihr also! Das hätte ich wissen sollen! Warum habt Ihr dies draußen nicht gesagt?«
Mutter Gray senkte das Haupt, noch immer kniend. »Zürnet nicht einem armen Weibe, das diese Magd lieb hat, wie ihr einziges Kind,« bat sie leise.
»Was geht mich eure Liebe an,« schrie der König, »Weib, ich rate Euch, mengt Euch nicht in die Angelegenheiten meines Hauses, wenn Euch meine Gnade lieb ist. Liebe, Liebe! Alle Welt liebt und mein teurer Bruder an der Spitze. Er holt sich ein Weib frisch vom Misthaufen weg und verlangt von dem König, er solle es segnen.«
»Vom Misthaufen?!« wiederholte Mutter Gray gekränkt und sprang mit fast jugendlicher Behendigkeit – von ehrlichem Zorn durchglüht – von den Knien empor, »Euer königliches Wort in Ehren, aber wir in Glocester leben doch nicht wie das Vieh auf dem Miste. Insonderheit unser Haus ist wegen seiner Sauberkeit berühmt. Euer Gnaden können sich selbst überzeugen.«
Über diese urwüchsige Sprache brach der König in ein schallendes Gelächter aus, und die Höflinge, welche in einer gewissen hingebenden Stellung um ihn herum waren, in ein noch lauteres.
»Also Ihr lebt auch nicht auf dem Miste,« begann der König wieder, vor Lachen hustend. »Dann hantierte also die schöne Margaret auch nicht immer mit der Mistgabel umher, sondern stickte wohl gar goldene Fäden und schlug die Laute?«
»Das steht ihr wohl an,« versicherte Mutter Gray mit einer gewissen Steifheit. »Alles gedeiht ihr wohl, denn sie ist das schönste, geschickteste und tugendhafteste Mädchen in ganz Engelland.«
»Tugendhaft!« spottete der König, einen Blick mit seiner nächsten Umgebung tauschend. »Na, gute Mutter, Frau Fama spricht ganz anders.«
»Dann lügt das Weib – bei meiner armen Seel'! – Für Margarets Tugend legt' ich meine Hand ins Feuer.«
Wieder erklang das Lachen des Königs und wiederum das Echo seiner Hofleute. Heinrich wurde jedoch schnell wieder ernst und strich gedankenvoll sein glattes Kinn. »Sie ist also keine Dirne, diese schöne Margaret!« sagte er langsam, »Ihr, eine ehrbare Frau, bezeugt mir das. Nicht sie hat also den Herzog an sich gelockt, wie ich bisher geglaubt habe, sondern er hat sie beredet, ihm auf der Flucht zu folgen. Nicht sie verdient also die verhängte Strafe, sondern er ist der schuldige Teil.«
Er schwieg eine Weile, wie um die mit großem Nachdruck gesprochenen Worte wirken zu lassen. Die Blicke seiner scharfen Augen bohrten sich fest und durchdringend in das Antlitz der Bittstellerin, und die Falten in seinem Antlitz vertieften sich so, daß sie dunklen, scharf ausgeprägten Linien glichen. »Nicht wahr, gute Frau, hiervon wollt Ihr mich doch überzeugen?«
Mutter Gray war zumute, als trachte eine Schlange sie mit ihren starren Blicken zu bezaubern. Angstvoll wogten allerlei unbestimmte Befürchtungen durch ihr Hirn, doch sie wußte ihnen keinen Namen zu geben. »So ist es,« stammelte sie endlich. »O, ich bitte Euch, großmächtiger König, noch einmal inständigst um Gnade.«
Der König nickte in tiefen Gedanken vor sich hin und streichelte mit Daumen und Zeigefinger abermals sein glattes Kinn. »Nicht sie verdient also bestraft zu werden, sondern er, ihr Verführer! – hm – es ist nicht leicht, über einen Bruder zu Gericht zu sitzen, aber wenn es das Wohl des Landes verlangt, so müssen persönliche Rücksichten schweigen. Gott behüte mich, daß ich Bruderblut vergieße –, dazu bin ich ein viel zu guter Christ; doch bin ich es den unschuldigen Mädchen Englands schuldig, daß ich sie vor gierigen Blicken bewahre. – – Ja, so soll es sein!«
Er sprang lebhaft auf, als sei ihm ein guter Gedanke gekommen, und fuhr fort: »Weil Ihr denn gar so spaßig wart, gute Frau – ein König, der nur für das Wohl seiner Untertanen lebt – hat, müßt Ihr wissen, nicht oft Gelegenheit, einmal herzhaft zu lachen, so – nehmt Eure Margaret, ich schenke sie Euch wieder.«
»Und der Herzog?« stammelte die von der Art des Königs verwirrte Frau, welche der Gnadenbotschaft noch nicht zu trauen wagte.
»O, seinetwegen macht Euch keine Sorge, Mutter!« erwiderte der König leichthin, »meinen Leibarzt werd' ich ihm schicken, meinen eigenen Leibarzt – hört Ihr wohl? Und der soll seinen sündigen Augen eine kleine Strafe angedeihen lassen, die außer ihm kein Mensch merkt, denn sie entstellt ihn nicht im geringsten. Ich gebe Euch mein Wort, daß kein Tropfen seines kostbaren Blutes dabei fließen wird. Bei der Prozedur mag Eure schöne Margaret gegenwärtig sein – sie soll es, versteht Ihr wohl? und auch Ihr, die freundliche Herrin. Dann mag sie Abschied nehmen, von – von – dem Geliebten. Bin ich nicht ein sanfter und guter König?«
Mutter Gray stand wie eine Bildsäule, dann rang sich aus ihrer heftig arbeitenden Brust ein heiseres: »Gott segne Euch, Herr!«
Wenn jemals ein Fluch unter dem Deckmantel eines Segens auf die Welt kam, so war es dieser.
»Danke,« versetzte der König trocken, »und wenn Ihr jemals wieder hierher kommen solltet – wegen der Tuchproben meine ich, so laßt es braune sein. Die Farbe erinnert so hübsch an das Brot, welches die friedlichen, von keinem Bürgerkriege zerstampften Fluren Engellands uns bringen. Gott befohlen!«
Er winkte mit der Hand, die Türen öffneten sich eine nach der anderen, und ehe sie wußte, wie ihr geschah, war Mutter Gray draußen.
»Teufel, Teufel,« murmelte sie vor sich hin, als die Zugbrücke hinter ihr lag und der Führer sie verlassen hatte. »O, diese Niedertracht zu fassen, ist mein armer Kopf zu schwach.« Sie lehnte sich an einen Baum und bedeckte die Augen mit der Hand, als wolle sie in ihrem Innern das übersehen, was sie mit ihrem schweren Gange erreicht hatte. Ach, es war wenig genug. Der König gab mit einer Hand und nahm mit zweien wieder. Margaret war frei, frei, den Geliebten leiden zu sehen, und doch gezwungen, den Geblendeten zu verlassen, ihn allein zu lassen in seiner langen Leidensnacht. Würde ihr dies nicht schlimmer erscheinen als der Tod? Würde sie ihr, die es so gut gemeint hatte, nicht zürnen? Vielleicht brachte die Zeit aber auch ihrem Schmerze Linderung; vielleicht war Gott barmherziger als der König und nahm den armen Herzog zu sich in das Himmelreich; seine Wunde sollte ja schwer genug sein. Mutter Grays Zorn über den Herzog war in ihrem Mitleid mit ihm untergegangen, und in dem sie schwer bedrückenden Gefühl, daß sie es sei, welche dies Unglück über ihn heraufbeschwor. Sollte sie umkehren? sollte sie in ihrer Herzensangst den König bitten, doch lieber das Leben Margarets zu nehmen und dafür seine armen Augen zu schonen? Ach, sie würde den königlichen Zorn nur noch mehr reizen, und mit teuflischem Hohn unter der Maske der Gerechtigkeit würde er es verstehen, vielleicht noch grausamer zu sein. – – – Während sie noch so dastand, in stummer Qual die Hände ringend, kam ein Bote des Königs aus der Burg. Eilig sprach er: »Ihr seid Mutter Gray, nicht wahr, die seid Ihr? und habt auch einen Reisewagen in Londes. Nun, der König, unser Herr, bittet Euch, seinen Leibarzt sogleich mit nach Cardiff Castel zu nehmen. Berittene sollen Euch geleiten, und einer vor ihnen vorauseilen, um Lord Cardiff seinen Willen zu verkünden.«
Um den Mund der Frau zuckte es bitter. Auch das noch! Und »geleiten« sollten die Berittenen sie, das hieß mit anderen Worten aufpassen, daß sie auch bei der Wahrheit bliebe und nicht etwa eine Milde in seine Worte lege, von der er nichts wissen wollte. Es blieb ihr jedoch nichts anderes übrig als sich zu fügen und in der unliebsamen Gesellschaft den Rückweg antreten.
Der Leibarzt war ein Mann von geschmeidigen Formen. Seine dunkel blitzenden Augen verrieten den Südländer, ebenso seine gelbliche Gesichtsfarbe. Er sah ziemlich hochmütig auf die Tuchwirkerfrau herab, ohne jedoch die guten Kissen zu verschmähen, mit denen ihr Wagen ausgestattet war. Im übrigen schrieb, rechnete und grübelte er die ganzen Wegstrecken über, ohne sich im geringsten um Berg und Tal, um Fluß und Wald, Blumen und Wiesen zu bekümmern. »Wie ein vertrocknetes Pergament,« dachte Mutter Gray. »Das ist auch einmal eine lebendige, fühlende Haut gewesen. Aber nun, da es abgestorben ist und vom Gerber gehörig bearbeitet, kann der, der's versteht, darauf schreiben, was er Lust hat: Gutes und Schlimmes; er trägt's mit gleichem Stumpfsinn.«
Wenn Meister Pietro diese Gedanken wirklich erriet, was bei einer Frau wie Mutter Gray nicht schwer war, so ließen sie ihn doch gänzlich kalt. Pah, auch Verachtung läßt sich tragen. Wenn man nur selbst mit sich zufrieden ist, so dachte er. Fügen muß sich schließlich ein jeder in dieser Welt der Gewalt, und wenn er, Pietro, sich dazu hergab, die Hand eines Mächtigeren zu sein, so war er sicher eine geschickte Hand – eine Hand, die nur handelt und nicht denkt, die noch viel weniger ihre Taten abwägt. »Die Ratten beißen sich in ihren Löchern,« pflegte er zu sagen, »die Vögel unter dem Himmel, die sanften Tauben nicht ausgenommen, gönnen einander keinen Bissen, und die großen Fische fressen die kleinen auf – warum sollten denn die Menschen besser sein?« Er gab am Schlusse seiner philosophischen Betrachtungen gewöhnlich zu, daß das große Narrenhaus – die Welt – einen bewunderungswürdigen Mechanismus besitze, der sein Interesse in hohem Grade errege, und da ein jeder Mensch – seiner Narrheit gemäß – auch ein Steckenpferd haben müsse, nun wohl, so wähle er sich die Wissenschaft!
Der Bote mit dem neuen Befehl des Königs war inzwischen in Cardiff Castle gewesen. Margaret waren die Fesseln abgenommen und sie selbst aus dem dunklen Verließ wieder an das Tageslicht geführt. Als sie aber vernahm, um welchen Preis dies geschehen sei, geriet sie, die vorhin still und ergeben gewesen war, in die bitterste Betrübnis. Vergeblich zermartete sie sich den armen Kopf, wie dem Verhängnis zu wehren sei, und oft war ihr zumute, als müsse ihr der Wahnsinn nahen. War es denn nicht genug mit der einen harten Prüfung, die sie kaum überwunden hatte! Mußte sie denn alles verlieren, daran ihr Herz sich hängte! Den Geliebten zu sehen, ihn zu pflegen, ward ihr verwehrt, und so warf sie sich denn – nur um die Qual der Gedanken zu betäuben, wieder auf die Arbeit. Sie wußte oft kaum, was sie tat, dennoch waren ihre Hände geschickt, und da es ein Kleidungsstück der Lady Cardiff war, an dem sie auf ihre Bitte ihre schönen Stickereien ausführen durfte, so ward die Dame ihr geneigt, und gestattete, ihr unter Aufsicht die Wunden zu verbinden, welche des armen William Waffen dem Herzog geschlagen hatten.
Das waren bittersüße Augenblicke des Wiedersehens, in denen die beiden sich freilich nicht nach Herzenswunsch miteinander unterhalten durften, dafür aber ihre Augen um so inniger reden ließen. Nur einmal nahm der Herzog mit einem flehenden Blick auf den anwesenden Cardiff Margarets Hand und führte sie mit einem beredten Blick an die Lippen. »Es hat nicht sein sollen, Margaret,« sagte er schmerzbewegt. »Ich Tor habe mich vermessen, dir ein neues Glück zu bauen und dich um den armen Rest des deinen gebracht. Nun bleibt uns nichts anderes mehr übrig, als das Unvermeidliche mit Würde zu tragen. Gräme dich nicht zu sehr. Der Welt Leiden – sagt einer, der sie gleich uns genossen hat – sind der Herrlichkeit nicht wert, die einst an uns soll offenbar werden.«
»Wenn nur das Schreckliche nicht wäre,« schluchzte Margaret. »Eure Augen – o, warum hat Mutter Gray mir das getan!«
»Sie tat recht, mein Kind,« erwiderte der Herzog fest. »Ich bin ein Mann, du aber nur ein zartes Weib.«
Der Lord lächelte etwas sarkastisch zu diesen Worten und machte eine ungeduldige Gebärde. »Genug, genug – Euer Gnaden hätten sich und mir diesen ganzen Handel ersparen können. Wie ein Sohn und wie ein Fürst seid Ihr hier gehalten worden und brachet doch durch Eure törichte Flucht euer Wort, zu dem Ihr Euch als Edelmann verpflichtet hattet. Nun müßt Ihr die Folgen tragen, und auch diese – diese – –«
»Nennt sie nur getrost eine Dame,« rief der Herzog mit blitzenden Augen, »und gebt ihr, wenn ich bitten darf, für den Rest meiner Kleinodien ein Gewand, das ihrer würdig ist. – Mit meinem Blute besudelt, mit dem Unrat des Kerkers befleckt – o, Margaret!« Er brach schluchzend ab, und die alte Kammerfrau der Lady, welche eine Schüssel mit Wasser und das Verbandzeug bereitgehalten hatte, weinte mit.
»Genug,« entschied der Lord stirnrunzelnd. »Ein Kleid soll sie haben, auch alles, was Ihr sonst wünscht, doch ihre Gegenwart ist für den Kranken zuviel. Die Magd soll sich unter dem Fenster ergehen dürfen, dies Gemach aber nicht eher wieder betreten, bis zu dem Tage, der Euch und Ihr zum Abschied bestimmt ist.«
Margaret wußte, was für ein Tag hiermit gemeint war, und gern hätte sie ihre Hand unter das rollende Rad der Zeit gelegt, um ihn fernzuhalten.
Doch auch eine Reise von London nach Cardiff dauert nicht ewig, obgleich Mutter Gray ihren Pferden Zeit gönnte und auch ein wenig in Glocester einkehrte, um sich von dem Wohlsein der Ihren zu überzeugen, und ihren Reisegefährten an Janes Krankenlager zu führen. Meister Pietro zeigte sich gegen Erwarten gern hierzu bereit, vielleicht in Anerkennung der erwähnten guten Bissen, gegen welche er trotz aller Philosophie durchaus nicht gleichgültig gewesen war, vielleicht auch, um seine Wissenschaft durch diesen »Fall« zu bereichern. Endlich aber waren sie in Cardiff Castle angelangt, und Herzog Roberts Schicksal mußte sich erfüllen.
Er war von seinen Wunden so weit wiederhergestellt, daß er das Lager seit einigen Tagen verlassen hatte und, aus dem Fenster blickend, sich der schönen Welt erfreuen konnte. Sein Gemach lag hoch; er konnte über grüne Wipfel hinweg das blaue wogende Wasser erblicken, die busenartige Erweiterung der Severn; er konnte die Sonne mit wehmutsvollen Abschiedsgedanken begrüßen, wenn sie, aufgehend, Wasser und Himmel mit einer Flut rosigen Lichtes übergoß; er konnte – und hierher wanderten seine Augen am meisten – Margaret auf einem kleinen Grasplatz erblicken, wie sie von morgens bis abends in rastloser Tätigkeit Faden auf Faden zog, dazwischen das holde Antlitz zu ihm erhebend, das so sprechend ihre Gedanken und Sorgen, ihre Sehnsucht und ihren Kummer widerspiegelte. Er grüßte hinunter, sie grüßte hinauf, unbekümmert um den Spott oder das Mitgefühl der Vorübergehenden. Die alte Kammerfrau hatte ein Kleid der Lady für Margaret zurechtgenäht, reich und schleppend, wie es die Edelfrauen trugen, und staunend mußte sie gewahren, wie die Magd des Tuchwirkers darin zu gehen und mit welcher Anmut sie sich darin zu bewegen wußte. Die Alte schüttelte den Kopf: »als ob sie in Seide und Atlas geboren wäre!« Auch Lord Cardiff schien überrascht, als er Margaret in ihrer Verwandlung sah, und seine Gemahlin – eifersüchtig über eine Schönheit, gegen welche die ihre wie der Mond vor der Sonne verblaßte, flüsterte giftig: »Dahinter steckt etwas, mein Gemahl! Die ist nicht, was sie schien, so wahr ich Lady Cardiff bin!« In Mutter Gray, die in der Nähe saß und das Geflüster gehört hatte, wallte das rebellische Bürgerblut auf; sie konnte sich nicht enthalten auszurufen: »Gar nichts steckt dahinter, meine edle Dame, als daß es dem lieben Gott gefallen hat, diesem braven Mädchen, meiner Magd, einen Adel zu verleihen, der zwar nicht von einem König verbrieft und versiegelt ward, dafür aber vom Himmel selber stammt!« –
Jetzt hielt der Herzog sein Lieb zum letztenmal in den Armen, und niemand wehrte es ihm, denn er genoß damit das Henkersmahl am Tische der irdischen Freuden, das ihm der König gestattet hatte. Dann sollte es einsam, kalt und dunkel um ihn werden – ganz dunkel. Noch genossen sie das helle Licht, noch lehnten sie Schulter an Schulter und Wange an Wange, und einer tauchte die Blicke tief in das treue Auge des anderen – noch fühlten sie den vollen, glückheischenden Lebensstrom in den pochenden Adern und vergaßen darüber auf Augenblicke ihren grenzenlosen Jammer.
Und doch kramte Meister Pietro schon mit geräuschvoller Umständlichkeit in seinen fürchterlichen Instrumenten, schalt mit den Dienern, daß sie qualmende Kohlen brächten, anstatt reiner, stiller Glut, und benahm sich im ganzen so herrisch, als sei er der König selber.
»Es ist Zeit, Euer Gnaden,« sagte er endlich mit seiner gleichgültigen, glatten Stimme; Margaret erschrak und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Schon?« rief der Herzog, »o, Meister, lasset mir noch diesen einen Tag. Wenn sich die Sonne neigt, will ich Euch still halten wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.«
»Ich brauche das volle Tageslicht,« erwiderte der Arzt trocken. »Das Eisen glüht, darf ich bitten, Euer Gnaden?« Er warf einen schnellen Blick auf Lord Cardiff, und ein paar handfeste Leute, die er vorher verständigt hatte, wie und wo sie den Herzog für ihn festzuhalten hätten.
Schon näherte sich der Trupp, da fiel Margaret mit flehend emporgehobenen Händen vor dem Arzt nieder. »Meine Augen nehmt, o harter Mann! Meine Augen, die an dem ganzen Unglück schuld sind. Ich bitte Euch inständigst, Lord Cardiff, wollet dieses Opfer beim König vertreten; aber schont ihn.«
Lord Cardiff stampfte mit dem Fuße den Boden. »Das habe ich kommen sehen; verdammte Komödie! Zurück, Weib, sage ich, und nicht gegen den Willen des Königs aufgelehnt! Sonst geht es Euch schlecht, und auch die Lage des Herzogs würdet Ihr verschlimmern!«
Der Herzog hob die Kniende mit stolzer Gebärde vom Boden empor. »Du sollst vor Gott knien, Margaret, und nicht vor den Menschen! – Hier bin ich, Lord Cardiff – sei ruhig, sei stark, mein Lieb –, es geht mir ja nicht an das Leben. Hier meine Hand, drücke sie mir zum Trost, und wenn ich zucken sollte, halt fest. Mutter Gray, nehmt meine andere Hand, und seid gut gegen meine Margaret.«
Doch der feine Stahl war wieder kalt geworden, und der Arzt schalt aufgebracht: »Die Ohren müßte man sich verstopfen, wenn man der Wissenschaft Genüge tun soll! Ein Stich zu flach und es bleibt ein Schimmer, den ihr nicht haben dürft, der mir als Hochverrat angerechnet werden kann; ein Stich zu tief und es fließt Blut, und ich bekomme es mit dem König zu tun, und was noch schlimmer ist, mit seinem Beichtvater. Sollte ihn seine Tat einmal gereuen, so findet er in jedem Fehler, den ich begeh', eine Handhabe und in mir das gesuchte Sühnopfer. Ich fordere Euch also auf, Ihr Herren, recht fest zu halten und wohl darauf zu achten, daß kein Tropfen fürstlichen Bruderblutes fließe!«
Spöttisch zuckte es bei den letzten Worten um die blutlosen Lippen. Dann warf Meister Pietro den Oberrock ab und näherte sich mit dem glühenden Stahl dem Herzog.
Eine tiefe, bange Pause, ein kurzes Zischen – als ob Feuer und Wasser sich vermählen – erst das eine Auge, dann das andere. Die Muskeln in dem Antlitz des armen Opfers zuckten krampfhaft, aber kein Schmerzenslaut kam von seinen Lippen.
»Margaret, bist du bei mir?« Ein schwacher Druck, ein sanfter Kuß auf seine Hand antwortete ihm.
»Es ist gelungen!« rief der Arzt triumphierend aus, »haltet ihn! legt ihn auf das Bett.«
»Es ist so dunkel,« stöhnte der Herzog. »O, Sonne, o, schöne Welt, lebt wohl! Margaret – bist du noch bei mir?«
Diesmal erhielt er keine Antwort mehr. Margaret lag ohnmächtig in Mutter Grays Armen. Ein stummer Wink Lord Cardiffs, und die Diener trugen die Leblose hinaus. Mutter Gray folgte ihnen. »In meinen Wagen, in meinen Wagen,« gebot sie eilig, »da drüben steht er angeschirrt – so – Kutscher, jetzt fahr' zu!«
Nun war Margaret wieder ihr Eigen, jetzt konnte sie ihr all die mütterliche Sorge angedeihen lassen, die sie für sie in Bereitschaft hatte, und ihr durch Liebe vergelten, was sie ihr – ohne es zu wollen – Schmerzliches antun mußte. Doch ihr Herz wollte nicht so freudig schlagen, wie sie es sich ausgemalt hatte, und lang zurückgehaltene Tränen flossen über das stille, weiße Gesicht, das an ihrer Brust ruhte.
Endlich schlug Margaret die Augen auf. »Wo bin ich?« fragte sie matt; »daheim, daheim,« antwortete die gute Frau. »In unserem Wagen sind wir, Margaret, und haben all die bösen, harten Menschen hinter uns gelassen.«
Margaret befreite sich mit einem Ruck aus den sie umschlingenden Armen. »Auch ihn – auch ihn! O, Mutter Gray, ohne Euch läge ich jetzt im Grabe. Alles Kummers, aller Leiden ledig; und er wäre gesund und sehend und könnte mich in glücklicheren Tagen vielleicht vergessen. Sein Augenlicht hat uns Euer Gang zum König gekostet! Sein Augenlicht! Was ist ihm nun noch das Leben, und ohne mich!«
Mutter Gray nickte langsam und traurig vor sich hin. »Ich habe es gut gemeint,« erwiderte sie mit zitternder Stimme, »und konnte nicht wissen, daß das Strafgericht, welches ich damals dem Herzog gönnte, so schrecklich sein würde. Doch je mehr ich darüber nachdenke, um so klarer wird es mir, daß dies eine im Stillen längst beschlossene Sache war. Sonst hätte sich der König nicht lüstern wie ein Wolf sogleich auf diese Gelegenheit gestürzt. Auch dein Tod, mein armes Kind, würde den Herzog nicht davor geschützt haben. Er war einmal durch die ganze Angelegenheit in der Leute Mund, und viele, die ihn fast schon vergessen hatten, erinnerten sich seiner und mit Liebe. Besonders auch die niederen Leute, weil er ein Mädchen ihres Standes erwählte. Das fürchtete der König. Soll ich dir erzählen, wie alles war?«
Margaret nickte und hörte zitternd und mit geschlossenen Augen zu, während ihr die Tränen unaufhaltsam über die blassen Wangen rannen. »Ach, was kann ich getan haben, Mutter Gray?« schluchzte sie, »daß mir so viel Leid beschert ward? Blind und wund um meinetwillen – ach, der Schmerz ist zu groß! Zu groß!«
Mutter Gray nickte ernst. Mit feinem Herzenstakt verstand sie zu schweigen und gewährte Margaret Zeit und Muße, sich ganz ihrem Kummer zu überlassen. Doch hörte sie deshalb nicht auf, ihren armen Schützling mit mütterlicher Liebe zu umgeben; sie stützte, stärkte und liebkoste, wie es ihr nötig schien, obgleich Margaret wenig davon empfand. Als sie aber in die Nähe von Glocester kamen, nahm sie ein großes Tuch und hüllte die Weinende hinein, damit niemand sie erkenne und seine Neugier an ihrem Anblick stille.
So kamen sie in dem alten trauten Hause an. Die Ställe, die Gärten, die Feldstreifen, welche damals noch hin und wieder die Wohnhäuser umgaben, die Baumgruppen und Blumenfleckchen, alles war noch wie sonst, und der Hausvater in seinem dunklen mit Pelz verbrämten Rocke trat froh aus der Tür, um die langentbehrte Gattin in die Arme zu schließen. Margaret reichte er mit ernstem Gruße die Hand und schüttelte betrübt den Kopf, als er ihr von Leiden, Aufregungen und Entbehrungen entstelltes Gesicht erblickte. Doch Vater Gray war ein Menschenkenner, er wußte, daß Leid am besten durch Leid gestillt wird; deshalb hielt er Margarets Hand fest und führte sie sogleich an Janes Schmerzenslager. Und er hatte recht getan! Margaret erwachte aus der Starrheit ihres Schmerzes und schaute tief ergriffen auf Jane, auf das abgemagerte Gesicht, auf die tief gesunkenen Augen, auf den kahlen, von allen krausen Locken entblößten Kopf. Beschämt sagte sie sich, daß sie ihre kleine Freundin fast vergaß, während die Wogen ihres eigenen Schicksals über ihrem Haupte zusammenschlugen, und doch litt Jane dasselbe Leid wie sie; durch sie und den Herzog, deren Glück sie zu schmieden gedachte.
»Arme kleine Jane, hättest du damals das unselige Menschenkind in den Fluten der Severn versinken lassen, die Fäden deines Daseins hätten sich nicht mit den meinen verknüpft und es hätte dich nicht gelüstet, mein Schicksal zu spielen und mich dem Geliebten zu seinem und deinem Unheil in die Arme zu führen!«
Sich mühsam besinnend, starrte die Kranke Margaret abwesend an, wie zur Abwehr beide Hände von sich streckend. »Margaret! Margaret!« Matt fielen die Arme auf die Decke zurück; dann flüsterte Jane: »Ohne Sang und Klang haben sie ihn eingescharrt, da, wo sie ihn fanden, und nicht einmal sein Grab kann ich bekränzen. O, Margaret!«
»Soll ich gehen, Jane?« kam es zitternd von Margarets Lippen, »so gern hätte ich dich gepflegt und meine Schuld an dir abgetragen.«
»Schuld? Wer spricht von Schuld?« rief die Kranke erregt. »Ich allein bin schuldig. Warum war ich dir nicht gehorsam! Warum wollte ich dummes Ding klüger sein als du! Warum nahm ich den Brief an mich und verriet dem Herzog, daß du in der Nähe seiest!«
Margaret nahm eine der abgemagerten Hände und drückte sie tief bewegt an ihr Herz. »Sei ruhig, liebe, kleine Jane, wenn du mir auch Leid gebracht hast, wie dir selber, Seligkeit hast du mir auch gegeben. Und nun laß uns stark sein und ruhig, mein armes Kind, damit du gesund werden kannst, für dich und mich.«
Jane lächelte matt und drückte die liebkosende Hand, dann schloß sie die Augen und schlief endlich – allmählich immer ruhiger Atem holend, ein.
Margaret saß regungslos, um die Schlummernde nicht zu stören. Die guten Grays aber lugten durch das Guckfensterchen der kleinen Tür und winkten und nickten ihr zu. »Nun pflege, Margaret, pflege!«
Und Margaret pflegte mit aufopfernder Treue; Tag und Nacht war sie hilfreich bereit, ohne der eigenen Schwäche zu achten, ja, sie war der vielartigen Sorgen froh, die ihrem Schmerze nicht erlaubten, allzu laut zu werden, und ihr wenigstens vorübergehend Ruhe und Vergessenheit brachten.
Als aber Jane immer kräftiger und selbständiger wurde und immer längere Genesungsspaziergänge zu machen begann, erlahmte Margarets Tatkraft allgemach, und die Gedanken, die nicht mehr von der Sorge um ein geliebtes Leben zurückgehalten wurden, kehrten wieder zu ihrem Mittelpunkt zurück. Wie mochte der arme Blinde leiden! Wer erhellte ihm die Nacht seiner Trübsal, wer lenkte seine Schritte? Wer vertrieb dem Traurigen die Zeit und versuchte, sie liebevoll ihm zu erheitern? Oftmals fühlte sich Margaret versucht, zu dem Herzog zu eilen und in irgendeiner Verkleidung zu ihm zu dringen; aber die Furcht, entdeckt zu werden und das Los des Armen noch zu verschlimmern, hielt sie immer wieder davon zurück. »Ich habe ihm Unheil gebracht,« sagte sie sich voller Bitternis, »und ich muß ihm fernbleiben mein ganzes Leben lang.« Die kleinen häuslichen Sorgen und Pflichten waren nicht mehr imstande, sie zu fesseln, zu zerstreuen und zu erheitern. Immer schwärzer legte sich die Sehnsucht auf ihre Seele, immer heißer und dringender ward der Wunsch in ihr laut, Buße zu tun für die schuldlos begangene Schuld. »Könnt' ich mich doch abwenden von der Welt und dem hellen Sonnenschein, der mir weh tut, weil er ihn nicht erblicken kann – um meinetwillen.«
Margaret ging wie eine Träumende umher und fand keine Ruhe, weder beim Kochen noch beim Backen, weder beim Spinnen noch beim Sticken. Unlustig sah sie den Tag grauen und mit Entsetzen die lange, von schweren Träumen erfüllte Nacht herannahen. Sie mußte sich selbst gestehen, daß sie die Liebe und Rücksicht der guten Hausfrau mit Undank lohne, und daß sie ihr durchaus die Stütze nicht mehr sei, die sie ihr ehedem gewesen war, ja, in den trüben, oftmals enttäuschten Blicken des Grayschen Ehepaares las sie es nur zu deutlich: »Du bist unsere alte Margaret nicht mehr. Undank ist der Welt Lohn!«
So verging der Winter freudlos und langsam, und der Frühling brach an – so sanft und lieblich wie selten. Aber auch das junge Grün und die neuerstandenen Blumen konnten Margarets Trauer nicht heben, im Gegenteil: es war, als schlüge die Schwermut noch schwärzere Flügel um ihre Seele. Wie sonst lockte die linde Luft die Jugend am Abend heraus, wie sonst wurde unter den jung belaubten Bäumen gelacht und gescherzt, und wieder, wie vor einem Jahre, saß Margaret träumend an ihrem Kammerfenster, diesmal aber nicht allein: Jane war bei ihr. Aber kein Bogen erklang mehr und kein Minnelied flatterte in das winzige Stübchen. Die Nachtigall, die es gesungen, war verstummt und ihr flinker Bote lag unter dem grünen Rasen. Margaret schaute nicht nach einem aufgehenden Stern, sondern unverwandt nach den dunklen Klostermauern, die ihr noch vor kurzem so schrecklich erschienen.
»Sieh nur, Jane, das wandernde Lichtlein da drüben,« sagte sie, »ist's nicht anzusehen wie ein ruheloser Geist, der keine Stätte findet? Er ist wohl eben erst dort eingekehrt, und die Ruhe, die ihm einst werden soll, ist ihm noch nicht geworden. Nur Geduld, sie wird schon kommen, muß ja kommen, in jenen stillen, gottgeweihten Mauern. Denk' dir, Jane, doch diesen Frieden! Allein bist du mit deinen Erinnerungen – deine Toten sind bei dir, denn sie sind in deinem Herzen begraben – und du hast keine Pflicht, die dich mit schwerer Kette an das Leben der Glücklichen fesselt. Nur auf Gott ist noch dein Auge gerichtet, ahnend fühlst du die Wonnen des Himmelreiches voraus und bist so selig, wie – wie man es mit einem halben Herzen nur sein kann. – Ich möchte in das Kloster, Jane.«
»In das Kloster?« schrie Jane auf. »O, Margaret, du bist jung – du wirst dein Leid verwinden – – –«
Margaret schüttelte den Kopf. »Verwinden werde ich's nicht, kleine Lerche – aber versenken vielleicht in dem ungeheuren Meer von Weh und Leid, wenn ich als Nonne die Gefangenen aufrichten, die Kranken pflegen und die Sterbenden trösten darf. Ach, ich wollt',« setzte sie, die Hände auf dem Herzen, hinzu, »die grünen Blätter dort unten lägen schon welk im Staube, und andere, die nach ihnen grün gewesen wären, auch. Dann würde diese marternde Stimme in meinem Herzen vielleicht leiser sein, die da unaufhörlich klagt: du mußtest fest bleiben in der Versuchung. Du mußtest seiner und deiner Liebe wehren, denn du kanntest König Heinrichs Rache.«
Jane hörte ihr aufmerksam zu, dann nickte sie still vor sich hin und, Margaret umfassend, flüsterte sie an ihrem Ohr: »Wo du hingehst, da gehe ich auch hin; wo du lebst, da will ich auch leben.«
Margaret wurden die Augen feucht. »Nein, nein, meine kleine Lerche, das ist nichts für dich. Du fängst schon wieder an zu zwitschern – ich habe es neulich wohl gehört – und du hast einen alten Vater, der deiner vielleicht bald bedürfen wird.«
Aber Jane schüttelte den Kopf. »Seit Wulfstan ein Weib nahm, ist kein Raum mehr in der Hütte für mich; das weißt du am besten. Niemand hab' ich mehr als dich, und mit dir will ich leben und sterben.«
In dem großen, reichen Kloster Aufnahme zu finden, war jedoch nicht so leicht. Man sah in demselben auf tadelloses Herkommen, guten Leumund und möglichst volle Hände. Um die erste der Bedingungen zu erfüllen, entschloß sich Margaret, das Geheimnis ihrer Geburt preiszugeben. Das Zeugnis für die zweite würde Mutter Gray auf ihre Bitte gewiß gern ablegen. Die dritte der Bedingungen zu erfüllen, war sie allerdings ganz außerstande, doch mochte man vielleicht davon absehen.
Mutter Gray war sprachlos, als sie Margarets Entschluß und ihr Herkommen erfuhr. Eine Grafentochter hatte ihr, der einfachen Frau, gedient! Eine Dame von hoher Geburt hatte auf der Wiese ihr Heu gewendet, ihre Spindel gedreht und sie wie eine Tochter in kranken Tagen gepflegt! Und wie freundlich war sie dabei gewesen und wie unermüdlich, bis ihr Unglückstag kam, leider nicht der erste, aber der schwerste in ihrem jungen Leben. In ihrer Verwirrung wußte die gute Frau nun nicht gleich, was sie mit der seltsamen Magd beginnen sollte; sie fing an, sie zu bedienen, anstatt sich bedienen zu lassen, ward aber jedesmal sanft wieder auf ihren Stuhl zurückgedrückt, wenn sie Lust dazu bezeigte. Und in das Kloster wollte diese arme Schönheit gehen, sie, die wie keine zweite berufen schien, der Mittelpunkt eines großen Hauses zu sein. O, wie gern hätte Mutter Gray sie als die Gattin ihres Ältesten an das treue Herz gedrückt! Aber Margaret blieb allen Vorstellungen gegenüber fest und bat und flehte nur, man möge ihr den Eintritt in das Kloster auswirken, ihr und Jane.
Der Hausvater tat ihr endlich den Willen; aber so einfach lag die Sache in Margarets Falle nicht. Die Äbtissin fürchtete sich, die Geliebte des Herzogs Robert unter ihren Schutz zu nehmen; vielleicht möchte ihr der König darüber zürnen. Endlich versprach sie, da der alte Gray sich verpflichtete, dem Kloster als Mitgabe der beiden Mädchen ein ansehnliches Stück Land zu überweisen, einen Brief an den König zu schreiben.
Der Monarch war bei besonders guter Laune, als er die Botschaft der alten Nonne empfing.
»Mag doch die holde Maid in das Kloster geh'n und die Mistgabel mit dem Rosenkranz vertauschen!« rief er befriedigt aus. »Unsern königlichen Segen hat sie! Wir wollen sie sogar unserem teuren Bruder zuliebe mit allen Ehren bis an die Klosterpforte geleiten! Der Zeremonienmeister soll den schönsten Baldachin bereithalten sowie ein fürstliches Diadem, goldene Armringe und was eine Frau von so hoher Geburt sonst noch bei einem feierlichen Aufzuge gebraucht.« Er lachte spöttisch bei den letzten Worten, strich sich Kinn und Wangen mit den mageren Fingern und malte sich dabei in Gedanken aus, wie die bäuerische Schöne voller Ungeschick über die langen Kleider stolpern werde und die platten Füße darunter so zierlich setzen wie eine Gans, die eben aus dem Ei gekrochen ist.
Denselben Beifall fand der Plan bei den allzeit abenteuerlichen Hofleuten, die sich gleichfalls mit viel Übermut daran ergötzten und die Befehle des Königs sofort in alle Winde trugen.
Nur der Narr, der in seinem roten Kleide vor dem König platt auf dem Bauche lag, fing trotz der allgemeinen Heiterkeit plötzlich zu weinen an. »Zu gut ist unser Heinrich – zu gut! Ach Gott, er wird uns sterben, denn er ist für den Himmel reif!«
»Was redet der Narr?« fragte der König ärgerlich. Die allgemeine Sitte verlangte damals zwar die lustige Person bei Hofe, doch verabscheute der König ihre derben Späße und unbequemen Wahrheiten und beehrte sie niemals mit einer direkten Anrede.
»Segnet, die euch hassen – tut wohl denen, die euch beleidigen – hat so nicht der Priester geredet? Und er tut danach – o Gott, er wird uns sterben!« schluchzte der Narr, sich scheinbar die Augen trocknend. »Und dann wird er heilig gesprochen werden! Bei meiner armen Seel'! Ich hab's ja immer gesagt.« Dabei starrte er mit aufgerissenem Munde so auffällig auf die Rückseite des Briefes, den der König noch in der Hand hielt, daß einer der Hofleute aufmerksam ward und noch eine Nachschrift bemerkte.
»Heilig oder unheilig,« murrte der König. »Die Weiber sind sich doch alle gleich, und die besten Gedanken fallen ihnen immer erst an der Tür ein.«
»Ich glaube, einem großmächtigen König nicht verbergen zu dürfen,« las er, »daß besagte Magd die Tochter jenes Grafen Shrewsbury ist, der sich so schrecklich gegen die von Gott gesetzte Majestät vergangen hat. Vielleicht denkt das große Herz des Königs wie ich und unser aller Himmelskönig. Nämlich, daß die Rache ihm gebührt und Vergeben und Verzeihen unsere Pflicht ist; doch erwarte ich in Demut eure Befehle.«
Der König ließ das Pergamentblatt sinken und wurde noch um einen Schein bleicher. »Shrewsburys Tochter! Auch das noch! Und ich habe ihr das Leben geschenkt, anstatt die Natternbrut zu zertreten!«
Ein langes Schweigen ringsum; keiner der Höflinge hatte den Mut, ein einziges Wort zu sagen, nur der Narr heulte weiter: »Segnet, die euch hassen! Ja, so hat der Bischof noch letzten Sonntag gesagt. Ihr könnt ihn fragen, wenn ihr mir nicht glauben wollt.«
»Der Narr hat recht,« entschied der König endlich. »Es bleibt dabei! Wir wollen unserem teuren Beichtvater auch einmal eine Freude machen. Wir geleiten Shrewsburys Tochter bis an die Klosterpforte, und ihr alle kommt mit mir. Sämtliche Weiber der Grafschaft – vornehm und gering – sollen uns auf unserem Wege folgen und die Kinder Blumen streuen. Dann werden sie in ihren alten Tagen noch von dem guten König reden, der die Geliebte des armen blinden Bruders so großartig geehrt hat! Und bei der alten Gray laden wir uns zu Gaste! Das wird ihrem Beutel zwar nicht wohltun, aber ihrem Ehrgeiz desto mehr.«
Er lachte laut auf und fragte dann, sich im Kreise umsehend, mit beißendem Spott: »Bin ich nicht ein guter und gerechter König?«
* * *
»Der König kommt!« So hallte es nach wenig Wochen durch ganz Glocester. Man fertigte Laubgewinde und brachte an Blumen zusammen, was die Erde nur hergeben wollte. Die Häuser wurden geschmückt, die Straßen mit Laub und geschnittenem Stroh bestreut, ja, der halbe Wald herbeigeschleppt. Dann warf man sich schnell in den schönsten Putz und stürmte wieder hinaus, denn um einen König zu sehen, lohnte es sich wohl, sich von der Menge stoßen und drängen zu lassen. Und immer mehr schwoll diese Menge an, bis sie sich endlich vor dem Hause des Tuchwirkers Gray staute.
Nun kam ein glänzender Aufzug des Weges daher, Ritter und Edle in kostbaren Feierkleidern – in ihrer Mitte ein Prachthimmel von weißer Seide, über und über mit kleinen, silbernen Glöckchen behängt, die bei jeder Bewegung ihre zarten Stimmen ertönen ließen. Hundert singende Priester schritten voran, einige Bischöfe unter ihnen. Jetzt machten sie halt vor dem Grayschen Hause, und jetzt trat der König heraus, mit dem Hermelinmantel auf den Schultern und mit der goldenen Krone auf dem Haupte. Er führte die Gräfin Shrewsbury an der Hand und geleitete sie unter den Baldachin, stets an ihrer rechten Seite bleibend. Links schritt der vornehmste der Bischöfe, dicht hinter ihr Jane. In diesem Augenblick begannen sämtliche Glocken zu läuten, und nachdem die edlen Frauen, unter ihnen Lady Cardiff, sich in Reihen geordnet hatten und nach ihnen eine unabsehbare Menge von Frauen und Jungfrauen aus Glocester und Umgegend, setzte sich der Zug nach der Kathedrale zu in Bewegung.
Aber die Andacht war nicht groß, trotzdem der Bischof von Cantersbury den Gottesdienst abhielt, denn eine Nonneneinführung, wie diese, hatte noch niemand gesehen, auch kein Mädchen, das so wenig geeignet schien, sein Leben hinter Klostermauern zu vergraben.
Das gelöste Haar umfloß Margaret wie ein goldener Mantel und hob sich in leuchtenden Fäden von der prächtigen weißen Seide ab, schimmernd wie die goldenen Blumen, die den Saum des Kleides bedeckten. Wie eine Königsbraut war sie anzusehen in dem goldenen, mit Edelsteinen geschmückten Diadem, hinreißend schön und dabei doch von einer unnahbaren Hoheit, so daß selbst die kalten Augen des Königs mit staunendem Wohlgefallen auf ihr ruhten. Wahrlich, dies war eine geborene Königin, und seine unscheinbare Person diente heute nur dazu, ihr die gehörige Folie zu geben. Heinrich lachte, sich selber verspottend, in sich hinein, Margaret aber hielt die Augen gesenkt, damit ihr sonderlicher Begleiter nichts von den Gedanken merke, die hinter ihrer weißen Stirn kreisten und sie an dem blinden Gefangenen räche.
Jane blickte um so unbefangener umher. Ihr Köpfchen hatte sich wieder mit kurzen, krausen Haaren bedeckt; ein frischer Veilchenkranz ruhte darauf, unter dem sich die braunen Augen mit einem Abglanz früherer Lebendigkeit hin und her bewegten. Sie sah alles, wußte von allem und jedem den Namen und nahm das ganze glänzende Getreibe begierig in sich auf, um es später Margaret zu schildern, die – wie sie wohl wußte – heute nichts davon erblicken mochte. Mutter Gray, die mit dem Gatten, den Kindern und sämtlichem Ingesinde einen besonderen Platz in der Kathedrale erhielt, wischte sich unablässig die Augen. Demütig gestand sie sich heute ein, daß die märchenhafte Schönheit an der Seite des Königs keine passende Magd mehr für sie sei, sondern wohl wert, daß ein Herzog sein Leben daran setzte, um sie zu gewinnen. Aber ach, das Kloster! Mutter Gray war nicht für das allzu viele Beten eingenommen.
Schlecht und recht tu' deine Pflicht,
Dann läßt dich unser Herrgott nicht.
Das war ihr einziges Gebet. Aber hier mochte es wohl anders sein. Seufzend ergab sie sich endlich: des Herrn Wille geschehe!
Jetzt war der letzte Gesang verhallt, und der Zug begab sich in der alten Ordnung nach dem Nonnenkloster, an dessen Schwelle die Äbtissin zuerst den König, dann den Bischof von Cantersbury und zuletzt Margaret und auch Jane begrüßte. Seitlich von der Klosterpforte war ein schönes Zelt errichtet, in welchem Margaret mit Beihilfe Janes und unter Aufsicht einiger Nonnen die glänzenden Kleider auszog und die schmucklose Tracht der Nonnen anlegte; die herrlichen Haare fielen unter der erbarmungslosen Schere, Haupt und Antlitz wurden mit Asche bestreut – so zeigte man sie dem Volke zum letzten Male. Noch ein stummer Gruß Margarets an den König, und ein sehr wortreicher von der, beide Novizen an der Hand führenden, Äbtissin: dann öffnete sich das Klostertor und die schöne weiße Rose und das kleine bescheidene Veilchen waren der Welt entschwunden.
Jane, so sagt man, ist der Liebling des Klosters gewesen. Ob Margaret den gehofften Frieden fand? Nicht so schnell, wie sie gedacht hatte. Auch sie glich dem Lichtlein, das erst ruhelos umherflackert, bis es die Stille um sich her verspürt. Aber sie fand ihn endlich doch, wenn auch nicht in dumpfer Trauer und träumerischer Untätigkeit, sondern, nachdem ihr beruhigter Geist neue Bahnen fand, sich für das Wohl und Wehe der Menschheit aufzuopfern.
Nur einmal noch erwachte das eingesargte alte Leid mit Allgewalt aus seinem künstlichen Schlafe. Das war an dem Tage, da man die irdischen Reste des Herzogs nach Glocester brachte.
»An dem Orte, wo meine Liebe wohnt, wo ich ihre Schönheit zuerst erblickte, da will ich ruh'n,« das waren die letzten Worte Roberts von der Normandie gewesen.