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Aschenbrödel.
Novellette von C. Eysell-Kilburger

d.i. Clara Blüthgen

1.

Wie an einem solchen Frühlingsnachmittag in Berlin das Straßenleben hastet, wie von der prickelnden Nervosität des Frühlings miterfaßt! Und nun gar am Potsdamer Platz, diesem Zentrum allen Verkehrs!

Mitten durch das Gewirr schlängelt sich ein junges Mädchen, den linken Arm voller Pakete, einen Tazettenstrauß noch eben mühsam dazwischengeklemmt. So hastig ist sie, daß es fast wie ein Wunder erscheint, daß sie noch glücklich die nach dem Alexanderplatz gehende Bahn erreicht.

Der Wagen hat sich schon in Bewegung gesetzt, aber dem Mädchen scheint viel am Mitkommen zu liegen. Sie hat das Trittbrett erklommen, dabei bleibt ihr Fuß hängen, der Schuh löst sich vom Fuße und fällt, während der Wagen weiter fährt, einem Herrn vor die Füße.

Er nimmt das zierliche Ding auf und schaut dem Straßenbahnwagen nach. Das muß die Besitzerin sein, die sich dort über die Brüstung lehnt, von dem Schaffner und ein paar Herren beschwichtigt. Er empfängt nur noch den Eindruck eines jungen, sehr hellen Gesichtchens, das von einem weißen Sporthütchen durch einen Streifen tiefdunkeln Haares geschieden wird.

Der Herr macht nun den Versuch, den Wagen zu besteigen, um der Dame nachzufahren, denn selbstverständlich wird sie an der nächsten Haltestelle auf ihr Eigentum warten.

Jedoch es ist zur Zeit des Hauptverkehrs, der Wagen ist besetzt, der zweite und der dritte ebenso. Nun nimmt er eine Droschke und fährt durch die Leipziger Straße, an jeder Haltestelle anhaltend und dabei das Schühchen deutlich von sich streckend, damit die Eigentümerin sich melden kann. Man lacht hinter ihm her, macht Witze.

Er gehört nicht zu jenen, die eine Frau wie ein Pferd nach der Feinheit der Gelenke schätzen, aber er müßte kein Mann sein, wenn ihn dieser Schuh nicht lebhaft interessierte. Der Größe nach nicht viel mehr wie ein Kinderschuh, dabei aber von einem feinen Schwung des Spanns, von einer graziösen Schmalheit der Sohle. Der Absatz nur halbhoch, das weiche, schmiegsame braune Leder über dem Spann zu einem hohen Blatt aufsteigend, das eine matt polierte Bronzeschalle gegen den Schuh hin begrenzt. Wirklich sehr, sehr niedlich und schick.

Der junge Mann weiß, was er zu tun hat: den Schuh auf dem Polizeibureau abgeben. Für heute ist es freilich zu spät geworden, er hat eine Verabredung mit zwei Herren, für die er eine Patentsache auszufechten hat, denn er ist seines Zeichens Patentanwalt.

* * *

Am anderen Vormittag fällt Doktor Lohmann ein, daß von Rechts wegen der Schuh längst auf dem Polizeibureau hätte abgeliefert werden müssen. Er selbst hat jedoch keine Zeit, und die beiden Bureaudiener sind gerade unterwegs.

Wahrhaftig, zu niedlich, gar nicht wie ein wirklicher Gebrauchsschuh, nur ein allerliebstes Spielzeug! Bei einem so reizenden Dinge versteht man allenfalls, wie die Polen aus dem Schuh ihrer Schönen den Huldigungstrunk schlürfen konnten. Wäre man Eigentümer dieses Schühchens, so könnte man es auf den Schreibtisch stellen, Papierzettel und Postmarken darin verwahren. Es sieht, besonders jetzt, nachdem er mit dem Taschentuch das bißchen Straßenstaub abgetupft hat, wirklich wie eine Attrappe aus, wie ein hübscher Bronzeguß etwa, und ist dort auf dem Aufbau des Schreibtisches unter all dem häßlichen kleinen Krimskram von Schrauben, Klammern, Knöpfen und unverständlichen einzelnen Modellteilen geradezu ein Schmuck.

Was doch die Leute alles erfinden! Warum erfindet niemand etwas Praktisches, das solch niedrigen, ausgeschnittenen Schuh dem Fuße unverlierbar anschließt? Armes Ding – welche Verlegenheit, auf dem Straßenbahnwagen zwischen lauter Herren dazustehen mit nur einem Schuh! Wie wird sie nach Hause gekommen sein, welche Unannehmlichkeiten dabei gehabt haben?! – Er vergegenwärtigt sich ihr weißes Gesicht unter der schwarzen Haarfülle, seine Phantasie versucht, in diese farblose Fläche etwas hineinzuzeichnen: ein Paar großer, dunkler, fragender Augen, einen kleinen, roten, an den Winkeln ein wenig vertieften Mund, ein unregelmäßiges kurzes Näschen, eine feine, weiche Wangenrundung und dazu eines jener märchenhaften schlanken Figürchen, wie er sie so liebt.

Plötzlich hat er das sichere Gefühl: wenn sie ihm in den Weg liefe, würde er sie herauskennen unter Tausenden, obgleich er eigentlich nichts von ihr kennt als ihren Schuh.

* * *

»Endlich, Anita! So spät! Hast du wenigstens daran gedacht, meine Handschuhe und das Nagelemail mitzubringen?«

»Und mir den grünen Satin, um meine Decke zu füttern? Und für Mama den Tee von Rex?«

Das junge Mädchen, das so empfangen wird, ladet eine Menge kleiner Pakete und einen großen Tazettenstrauß auf dem Tische ab.

»Nur den Tee – für das andere langte es nicht mehr.«

»Es langte nicht mehr?« Anitas elegante Cousinen, Eugenie und Emma, scheinen etwas ungnädig. Emma, die ältere, nimmt den Strauß in die Höhe: »Aber für Blumen langte es natürlich.«

»Das ist nun mal meine Passion und zudem mein Handwerkszeug. Eine angehende Blumenmalerin –«

»Einstweilen noch eine sehr angehende!«

»Da will ich euch nur erst Rechenschaft ablegen, sonst glaubt ihr am Ende an eine Unterschlagung!« sagte Anita und wird ein wenig rot. »Ich habe nämlich ein Abenteuer gehabt, ein ganz böses.«

»Ah –«

»Ich habe beim Einsteigen in die Straßenbahn meinen Schuh verloren, und da – da mußte ich mir natürlich doch ein anderes Paar kaufen. Dafür habe ich einstweilen die Anleihe bei euch hinter eurem Rücken gemacht.«

»Das ist aber stark, so etwas bringst nur du fertig, Anita! Na – so erzähle uns wenigstens, wie sich das zutrug.«

Anita erzählt, und die Gesichter der Cousinen verschatten sich in immer tieferer Mißbilligung.

»Aber du brauchtest doch nicht gleich neue Schuhe zu kaufen, der verlorene wird sicher im Fundbureau abgeliefert werden.«

»Und inzwischen? Ich war froh, daß gerade an der Haltestelle ein Schuhladen war. Meinst du, daß es ein Vergnügen ist, auf einem Bein wie ein Storch durch Berlin zu spazieren? Aber reizend sind die neuen! Seht einmal her!«

Indem sie das kurze Kleid noch höher zieht, streckt sie den rechten Fuß vor.

»Natürlich von der teuersten Sorte,« wirft Emma hin. »Freilich, du kannst dir ja dergleichen leisten.«

Über Anitas Gesicht zuckt es, eine heftige Entgegnung schwebt ihr auf den Lippen, aber sie bezwingt sich und sagt ziemlich ruhig: »Gönne es mir doch. Es ist das einzige, was ich mir leiste. An Schuhen und Handschuhen erkennt man bekanntlich die Dame.«

»Das ist eben dein alberner Hochmut. Du in deinen Verhältnissen –«

»Nun, so ganz esse ich doch nicht das Gnadenbrot bei euch, dafür hat ja mein Vater vor seinem Tode noch gesorgt, und wenn ich mit meiner Blumenmalerei nur irgend Glück habe, so sollt ihr sehen – –« Die Stimme versagt ihr plötzlich, und die Tränen treten ihr in die Augen.

»Na, na, Kleine, sei nur gut, böse war's ja nicht gemeint,« versucht Eugenie zu begütigen. »Hoffentlich bekommst du deinen Schuh wieder, irgend jemand muß ihn doch gefunden haben.«

»Jawohl, ein Herr.«

»So – und wie sah er denn aus? Jung? Angenehm?« forschen sie.

»Ja, jung und vornehm, außerordentlich vornehm!« prahlt Anita, obgleich sie nur eine ganz dunkle Vorstellung von dem Finder hat.

»So, so, also der echte Prinz in diesem Aschenbrödelmärchen.«

* * *

Es ist eine ganz alltägliche Geschichte: Anita van der Breek, das Töchterchen eines holländischen Malers, wird nach dem Tode beider Eltern in Berlin im Hause ihres Onkels Kleinert erzogen. Sie ißt eben »nicht ganz« das Gnadenbrot, aber manche Ausgaben für sie fallen den vermögenden Verwandten zu, manche Gefälligkeiten, Besorgungen, Hilfe im Haushalt werden dafür von ihnen beansprucht. Das gibt von vornherein eine schiefe Stellung, und manches andere hilft mit; Anita ist ein bißchen hochmütig wegen des kurzen Ruhms ihres Vaters und ihres Namens, denn das »van der«, das in Holland so wenig zählt, gibt in Berlin immerhin etwas Relief. Herr Kleinert fabriziert Brauselimonaden; Anita zählt 17 Jahre, Eugenie deren 23, Emma sogar 25; Anita ist brünett, mittelgroß, sehr anmutig gebaut, und manchem gefällt das besser als die junonische, etwas aus dem Vollen gearbeitete blonde Schönheit der beiden Cousinen; Anita hat alle Hände voll zu tun, um die kleinen, von ihr verlangten Dienstleistungen mit ihrer Malerei zu vereinigen; die Cousinen warten auf den Mann und sticken mittlerweile Decken.

Bei so viel Verschiedenheiten sind Reibungen nach den verschiedensten Seiten unausbleiblich.

Zuweilen, in schwachen Stunden, wenn die kleinen Widerwärtigkeiten und Sticheleien sie mürbe gemacht haben, träumt Anita wohl auch von dem Prinzen, der kommen soll und sie erlösen.

2.

Dreiundfünfzig Jourfixen zu besuchen, hatte Doktor Lohmann sich vorgenommen, um dort möglicherweise der Verliererin des kleinen Schuhs zu begegnen.

Vergebens hatte er den Sommer hindurch dem blinden Zufall vertraut, hatte seine freie Zeit auf der Straßenbahn verbracht und die Umgebung Berlins durchstreift. Sogar in verschiedene Damenkonditoreien hatte er sich wie durch Zufall verirrt, schließlich sogar es mit einem Inserat im »Lokalanzeiger« versucht. Als letztes war ihm der Jourfix eingefallen, und plötzlich hatte diese Dreiundfünfzig vor ihm gestanden; ein halbes Hundert und zur Sicherheit noch drei extra. Solch ein Jourfix ist eine famose Einrichtung, um Massenmusterung über das Ewig-Weibliche abzuhalten. Herren so gut wie keine – dafür aber Damen, viele Damen, würdige Damen, viele Kapotten und kostbare Pelzmäntel, üppige junge Frauen in raschelnder Seide, junge Mädchen, bei denen das Gesicht schon die müden Linien der Altjungfernschaft angenommen hat, und dann vor allem das entzückende junge Grünzeug!

Und dazu kostet glücklicherweise die Sache nicht viel Zeit. Man ist da, mischt sich unter die Jugend. In einer unverfänglichen Art – die Routine unterstützt dabei wesentlich – bringt man das Gespräch auf Damenschuhe. Irgendeine neue Schuhmode, eine Zeitungsnotiz über den Schuh einer Königin, einer berühmten Sängerin gibt den Ausgangspunkt. Daran spinnt man den Faden weiter. Unwillkürlich – das ist eine alte Erfahrung – strecken bei solchem Gespräch die Besitzerinnen niedlicher Füße sie kokett vor, während die über Nummer sechsunddreißig hinausgehenden sich sofort schamhaft unter den Rocksaum zurückziehen. Damit ist schon eine Auswahl gegeben, und dazu kommen nur die Brünetten, Schmächtigen in Betracht. Hat man das Feld abgegrast, so empfiehlt man sich einfach wieder.

Doktor Lohmann wurde in der Gesellschaft mit Auszeichnung behandelt. Wenn er auch nicht gerade das Äußere eines Märchenprinzen aufwies, so war er doch ein hübscher, schlanker junger Herr und wirklich, wie Anita aufs Geratewohl behauptet hatte, vornehm aussehend. Von Haus aus vermögend, hatte er noch mit seinem Patentbureau Glück gehabt; einige Patentverwertungen waren ins Große gegangen und hatten ihm ein Vermögen eingebracht.

Noch immer stand der kleine braune Schuh auf dem Aufbau seines Schreibtisches.

Es war ihm damit wunderlich ergangen. Verschiedentlich hatte er den Entschluß gefaßt, das Schühchen nun ernsthaft ins Fundbureau zu tragen, aber immer empfand er ein ausgesprochenes Unbehagen, wenn er an die Trennung dachte. Im Fundbureau – was sich da alles an verloren gegangenem Krempel zusammenfindet: Regenschirme, Zigarrenetuis, Maulkörbe, Hausschlüssel, falsche Zöpfe, Taschentücher! Und nun gar an Schuhen! Diese ausgetretenen Latschen, die nicht mehr am Fuße festhalten, alte Gummischuhe, Arbeiterstiefel, die sich fast in ihre Atome auflösen, Kinderschuhe, greuliche Pantoffeln! Und zwischen dieser gemischten Gesellschaft sollte nun die kleine Schuharistokratin ihren Platz finden? Es kann ihm vor, als würde damit das Schühchen, zugleich auch die Besitzerin degradiert. Da war es doch wohl am besten, es behauptete hier weiter seinen Ehrenplatz.

3.

Inzwischen war der Winter ziemlich weit vorgeschritten, Doktor Lohmann bei seinem siebenundvierzigsten Jourfix angelangt, und auch dieser ließ sich wenig versprechend an.

»Hierher, bester Doktor, hier ist noch ein hübscher, niedriger Sessel für Sie. – Sie als einziger Herr müssen uns nun allesamt unterhalten. – Vielleicht haben Sie wieder eine Ihrer allerliebsten Schuhanekdoten auf Lager?«

Während der Doktor schon verärgert auf Flucht sann, öffnete sich die Tür und ließ zwei stattliche Damen ein, beide in farbigen weiten Seidenkleidern. Ein zierliches Figürchen im einfachen grauen, eben den Boden berührenden Kleide folgte ihnen. In einem weichen, blassen Gesichtchen lag ein Paar großer dunkler Augen, eine kühne Welle tiefschwarzen Haares legte sich um Stirn und Wangen.

»Ein paar reizende Mädchen, nicht wahr?« sagte, nachdem die Vorstellung vorüber, die Hausfrau leise zu dem Doktor. »Der Vater schwer wiegend, wenn auch vielleicht etwas zäh, seine Brauselimonaden sind ja weltbekannt.«

»Und die kleine Schwarze?« sagte Doktor Lohmann.

»Ah, eine Cousine der Kleinerts, die dort im Hause lebt, ein armes Ding, Waise, ein Aschenbrödelchen. Sie ist dabei, sich in der Blumenmalerei auszubilden, um selbständig zu werden. Wenn es Sie interessiert – ich habe da ein kleines Blumenstück, das ich ihr abgekauft habe, um ihr Mut zu machen.«

Natürlich etwas Sinniges, wie es den siebzehn Jahren entspricht! Durch die Scheibe eines Fensters sieht man ein Stückchen Garten, auf dem sich ein rotblühender Päonienbusch breit macht, geradezu herausfordernd. Innen im Zimmer, vor der Scheibe, steht ein Primeltöpfchen mit einzelnen blassen Blüten. Sie recken sich auf ihren dünnen Stengeln gegen die Scheibe, zu dem Päonienbusche hin, sehnsüchtig, neidisch. Ein Stückchen gemalter Geschichte, vielleicht der eigenen.

Wenige Minuten später saß der junge Mann inmitten des Kreises junger Damen, eine Situation, die er durch die Übung seiner siebenundvierzig Jourfixe vollkommen beherrschte, zu seiner Rechten das junge Mädchen, das ihn stark beschäftigte. Ein Aschenbrödelchen, hatte die Hausfrau gesagt, und der zufällige Klang des Wortes es ihm natürlich angetan. War sie etwa das gesuchte? –

»Ich habe soeben Ihr Aquarell angesehen, gnädiges Fräulein. Soviel ich beurteilen kann, steckt ein tüchtiges Talent darin. Sie malen schon lange?«

»Solange ich überhaupt denken kann. Meine arme Mama starb, als ich kaum vier Jahre alt war, da bin ich denn ganz in Vaters Atelier aufgewachsen, habe dabei gesessen, wenn er malte, und zugesehen. Puppen mochte ich nicht, aber Papier und farbige Stifte und später Aquarellfarben. O, Sie hätten sehen sollen, was für Kompositionen ich damals ausführte! Aber man lernt sich bescheiden. Jetzt bin ich zufrieden, wenn mir ein paar Blumen leidlich gelingen.«

»Sie sind nicht mehr die Schülerin Ihres Vaters gewesen, gnädiges Fräulein?«

»Nein – er ist seit vier Jahren tot. Ach, wenn er noch lebte, wäre manches anders.«

Das ist ihr ganz unabsichtlich entflohen, der Doktor aber greift das Wort auf: »Ihr Bildchen hat mir mehr verraten, als Sie wohl denken. Ich kann die Sehnsucht dieses kleinen, blassen Primelchens wohl verstehen, das die prunkvolle Päonie um ihren Platz in der Sonne beneidet. Aber solche Päonien sind nicht jedermanns Geschmack, der Kenner, der Feinschmecker wird wahrscheinlich das weiße Blümchen mit seiner schwächlichen Anmut und seinem feinen Duft vorziehen.«

Himmel! Eine so bilderreiche Sprache hat der Doktor seit seiner Gymnasiastenzeit nicht geredet, und was das beste war: er fühlt dabei eine ganz verdächtige innere Wärme, die ihn angenehm durchstrahlt.

»Anita, du könntest mir eigentlich deinen warmen Ofenplatz überlassen, mir ist ein wenig kühl in meinem leichten Kleide,« ruft da Eugenie, und als Anita mit ihr den Platz getauscht hat, setzt sie erklärend, mit einem schmachtenden Blick hinzu: »Diese seidenen Kleider wärmen so wenig.«

Anita! Der Name umschmeichelt den Mann wie Musik. Welch eigener Wohlklang in den Vokalen, welcher Rhythmus! Man sieht dabei vor sich einen graziösen Tanz, allerliebste kleine Füßchen, die sich im Takte bewegen. – Anita!

»So stumm, Herr Doktor? Alle unsere Hoffnung auf Unterhaltung beruht auf Ihnen. Wissen Sie nichts Neues?«

»Wenn ich als Fachmann erzählen darf, ja. Es ist da nämlich in England ein eigentümlicher Gebrauchsmusterschutz angemeldet. Denken Sie sich: die Goldschmiedekunst soll sich jetzt sogar des Damenschuhes annehmen. Man will für den Absatz –«

»Hört, hört! Also doch! Das Schuhgespräch durfte nicht fehlen!«

»Man will für den Absatz und die Stiefelspitze fein durchbrochene und ziselierte Ornamente anwenden, die den Schuh schmücken, daneben aber der Abnutzung vorbeugen sollen. Bis jetzt ist nur an einfache silberne Verzierungen gedacht, aber demnächst werden Sie Medaillons in Emailmalerei, echte Perlen und Edelsteine auf Ihren Schuhen anbringen. Der Schuh der Elisabeth von England wird gegen den Ihren nichts sein.«

Ein lebhafter Protest erhebt sich: »Ach Sie – Sie machen sich über uns lustig, erfinden Märchen.«

Jedoch der Doktor läßt sich nicht unterbrechen. Nun noch etwas. »Da wir gerade in England sind – haben Sie gelesen, daß man dort ein älteres Ausstattungsstück, ›Aschenbrödel‹ wieder neu aufnimmt, dessen Ausstattung das Kostbarste, was man je erlebt hat, werden soll? Der Schuh, den das kleine Fräulein verliert, soll ganz mit echten Diamanten und Edelsteinen bedeckt sein und einen Wert von tausend Pfund – also zwanzigtausend Mark – haben. Natürlich wird der Augenblick des Verlierens durch einen Strahl schärfsten elektrischen Lichtes erhellt – es muß von geradezu zauberhafter Wirkung sein. Stellen Sie sich das vor, meine Damen, ein Vermögen an Juwelen auf einem Schuh, und noch dazu auf einem Schuh, wie ihn eben nur eine auf der Welt aufzuweisen hat, ein Aschenbrödelchen.«

»Welcher Schwung! Sie berauschen sich ja geradezu an dieser Schilderung,« wirft Eugenie spitzig hin. Die Falten ihres Sezessionsrockes liegen regungslos, wie in starrer Abwehr auf dem Teppich ausgebreitet, ebenso verhalten sich die der Schwester, die der anderen Damen.

Aber dort, ihm gerade gegenüber, sitzt Anita auf einem niedrigen Taburett, streckt wie selbstvergessen beide Füßchen von sich und betrachtet sie mit einem seligen Kinderlächeln. Diese niedlichsten aller Mädchenfüße stecken in Schühchen von weichem, hellgrauem Samtleder, das über dem Spann zu einem hohen Blatt aufsteigt, von einer altsilbernen Schnalle begrenzt. Von diesen feinen Schühchen und dem hellgrauen Seidenstrumpf steigt es auf wie der Duft von Vornehmheit und Eleganz, das armselige graue Aschenbrödelkleidchen zu dem Gewande einer Weltdame, die sich gerade mal auf Einfachheit kapriziert hat, umwandelnd.

Doktor Lohmann starrt und starrt – da ist kaum mehr ein Zweifel möglich! »Verzeihung – was für eigenartige Schuhe Ihre Fräulein Cousine anhat! Trägt sie stets diese Form?« stößt er hervor.

»Warum denn das? – Übrigens mein Kompliment über Ihre Gabe, eine Dame zu unterhalten.«

»Hat – hat Ihre Cousine einmal einen Schuh verloren?«

Fräulein Eugenie schnellt seidenrauschend aus ihrem Sessel empor. Sollte das der vornehme Finder sein?« »Was gehen mich die Schuhangelegenheiten meiner Cousine an! Fragen Sie sie doch selbst!«

Und zum Entsetzen des ganzen Damenkreises wendet sich der Doktor an das junge Mädchen und beugt sich tief, ganz tief über sie. »Sie haben vor einem halben Jahre einen Schuh in der Straßenbahn verloren!«

»Aber Herr Doktor –« wehrte sie ganz verschüchtert.

.

»Einen braunen Schuh, aber von der Form wie diese. – Haben Sie ihn verloren? Ja oder nein!« herrschte er sie an, ganz atemlos vor Erregung.

»Nun ja, aber hier diese Erörterung –«

»Wenn Sie wüßten, wie ich Sie gesucht habe! Und nun sehe ich Sie endlich vor mir!«

Ein gewaltiger Aufstand. »Wie hängt die Sache zusammen?« – »Einen Schuh hat das Fräulein verloren? – Ach, wie komisch!« – »Erzählen, erzählen – also deshalb die ewigen Schuhgeschichten!«

Alle sind sehr interessant, nur Eugenie und Emma blicken sauersüß.

»Wir müssen aufbrechen. – Komm, Anita, es ist die höchste Zeit,« sagt Emma, und dann leise: »Du hast wirklich ein eigentümliches Talent, dich auffällig zu machen.«

Man bricht allgemein auf.

Auf dem Flur steht Anita und sieht ihren Ritter lächelnd an, und dabei kommt ihr dieser Mann, den sie zum ersten Male sieht, ganz vertraut vor, wie seit langer Zeit zu ihr gehörig. Es ist ihr, als habe sie in ihren wenigen schüchternen Mädchenträumen sich ihren Ritter genau so vorgestellt.

»Wo befindet sich mein Schuh jetzt? Ich möchte doch natürlich gern wieder zu meinem Eigentum gelangen.«

»Er steht – seien Sie mir nicht böse, gnädiges Fräulein, auf meinem Schreibtische – als Schmuck auf dem Aufbau.«

Nun wird sie sehr rot, man hätte dem kleinen Gesicht gar nicht so viel rosige Farbe zugetraut. »Aber das ist doch fatal für mich. Bitte, schicken Sie ihn mir nun wieder, aber gleich morgen, bestimmt!« ereiferte sie sich.

»Muß ich wirklich? Ich werde nicht mehr arbeiten können, wenn ich meine kleine Freundin dabei nicht vor mir sehe.«

Anita steht hilflos und sieht zu ihm auf. Dieser Fall ist allzu eigenartig.

»Aber ich muß meinen Schuh doch wiederhaben,« sagt sie endlich zaghaft nach einer Pause.

»Nun, so erlauben Sie mir wenigstens, Ihnen das Schühchen selbst zu bringen. Ich will es, will Sie selbst nicht wieder verlieren.«

»Anita, wo bleibst du? Sollen wir denn ewig auf dich warten?« tönt da Eugeniens scharfe Stimme von der Treppe her.

Anita fährt ängstlich zusammen, aber in dem Kopfnicken, das sie ihrer artigen Abschiedsverbeugung beimischt, liegt eine deutliche Zustimmung. –

Drei Wochen darauf empfehlen sich Anita van der Breek und Doktor Lohmann als Verlobte.


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