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Der Herr Pate.
Novelle von Ernst Wichert

Es ist das eine recht altmodische Geschichte, die ich erzählen will. Man könnte glauben, daß sie noch im vorigen Jahrhundert passiert sei, so altväterisch mutet uns »der Herr Pate« an. Und doch darf ich versichern, daß es sich um eine jüngste Begebenheit handelt, und der liebenswürdige Mann, dessen Porträt ich zu zeichnen beabsichtige, auch heute noch kein Greis ist, der mit dem Kopf wackelt.

Es ist wahr, der Begriff »Pate« hat sich im Laufe der Zeiten nicht unwesentlich geändert. Man zieht zur Taufe seiner Kinder noch immer einige Freunde und Freundinnen des Hauses zu, damit sie als Zeugen des feierlichen Aktes in das Kirchenbuch eingetragen werden. Sie bejahen für den Täufling die Frage, ob er in die Gemeinschaft aufgenommen werden wolle, beteiligen sich an einem zu Ehren des Tages gegebenen Schmause und schenken entweder sogleich oder bei Gelegenheit des ersten Geburtstages einen silbernen Becher oder Papplöffel, eine Klapper, ein Serviettenband oder sonst eine Kleinigkeit zum Andenken. In besonders günstigen Fällen erkundigen sie sich wohl auch später noch gelegentlich einmal nach ihrem »Patchen«. Aber eine ernstliche Bedeutung hat das alles für die meisten kaum noch. Es ist ebenso hergebracht, daß man guten Freunden eine Gefälligkeit erweist, die ja gewöhnlich auf dieselbe Weise »abgegeben« werden kann. Ernstlich eine Verpflichtung zu übernehmen, fällt keinem ein, und die wenigsten wissen auch nur noch, worin sie zu bestehen hat.

Das war früher sicherlich anders, als das kirchliche Leben überall vorherrschte und die bürgerlichen Beziehungen Generationen hindurch örtlich dieselben blieben. Da konnte das Kindlein nicht früh genug Christ werden, und der Pate war sich seiner Pflicht bewußt, für sein geistiges und leibliches Leben sorgen zu müssen. Die Taufe brachte beide in eine Art von Verwandtschaftsverhältnis. Nicht nur ein stets bereiter Helfer in allerhand Gewissensnöten sollte der Pate sein, sondern seinem Patenkinde auch mit Rat und Tat beistehen, daß aus ihm ein gesundes Glied der bürgerlichen Gesellschaft würde. Er trat für Vater und Mutter ein, wenn das Unglück sie schwer heimgesucht oder gar der Tod sie allzu früh hingerafft hatte. Darum galt's auch als ein besonderer Vorzug, einen wohlangesehenen und reich begüterten Paten zu haben. Der »Herr Pate« und die »Frau Patin« waren Respektspersonen und erfreuten sich ehrerbietigster Begegnung. Man denkt sich gern einen alten Herrn in Kniehosen und Strümpfen, den Dreimaster unter dem Arm und den langen Stock mit silbernem Knopf in der Hand, oder eine alte Dame mit großer Faltenhaube und weitem Reifrock, die Finger mit Ringen besteckt und die Füße in Stelzschuhen. Vergangene Zeiten!

Der Herr Pate, von welchem ich spreche, ist denn auch durchaus nicht ein Mann von so zopfiger Art, eher ein recht jovialer alter Junggeselle mit stets glatt rasiertem Kinn und munteren Augen, rasch in allen seinen Bewegungen und immer nach der besten Mode gekleidet, wenn auch »in gemessenen Grenzen«, wie sie sich ungefähr für sein Alter schicken. Er hat noch sein volles Haupthaar, freilich bereits stark ergraut, und behauptet, daß er es seinem »soliden Leben« verdanke. Das kleine Bärtchen unter der runden Nase ist an den Spitzen ein wenig aufgedreht und gibt seinem sonst gutmütigen Gesicht ein keckes Ansehen. Man möchte ihn für einen pensionierten Offizier halten, und er hat es wirklich einmal bis zum Premierleutnant gebracht gehabt, wenn auch nur in der Reserve und Landwehr. Mit der Pension ist's ungefähr ebenso richtig: er bezieht sie nicht für geleistete Militärdienste, sondern als Entschädigung für eine Stelle in der Eisenbahnverwaltung, die er aufgeben mußte, als die Anlage verstaatlicht wurde. Von Hause aus war er Jurist, aber schon als junger Assessor »zur Verwaltung abgeschwommen«. Er besaß einiges Kapitalvermögen, das er in Aktien der Bahn anlegte, und zwei Häuser in einer damals, als er sie erbte, weltentlegenen Gegend Berlins, von denen er das eine später vorteilhaft verkaufte. Nun lebt Herr Breckenberger als Rentier, mit der Verwaltung seines nicht ganz unbeträchtlichen Vermögens beschäftigt und in mancherlei städtischen und sonstigen Ehrenämtern tätig. Er hat irgendeine Kasse »unter sich« und wird deshalb mitunter auch »Herr Rendant« genannt. Das hörte er aber nicht gern.

Daß Herr Breckenberger unverheiratet geblieben, kann für um so verwunderlicher gelten, als er eigentlich alle Anlagen zu einem guten Hausvater mitbrachte. Er besaß ökonomische Tugenden, hatte seine Wohnung stets so eingerichtet, daß er sich »zu Hause« behaglich fühlen konnte, gab gern kleine Gesellschaften, bei denen die Frauen seiner zahlreichen Freunde nicht fehlen durften, hatte am liebsten Umgang in Familien und war ein großer Kinderfreund. Es hatte denn auch nicht an Versuchen gefehlt, ihn unter den Pantoffel zu bringen, aber es schien ihm doch nichts »nahe genug ans Herz« gegangen zu sein. Als er die Vierzig überschritten hatte, erklärte er nach einem längeren Reiseaufenthalt so ernstlich, mit diesen Wünschen abgeschlossen zu haben, daß man sich wohl daran gewöhnen mußte, ihn als Familienonkel seine Bestimmung erfüllen zu sehen, und nur noch in scherzhaften Geburtstagstoasten der Hoffnung seiner Bekehrung Ausdruck gab.

Es hatte sich ganz von selbst verstanden, daß Herr Breckenberger, wenn einer seiner jung verheirateten Freunde ein glückliches Familienereignis zu melden hatte, unter den Taufpaten nicht fehlte. Er selbst würde es als eine Kränkung angesehen haben, wenn man ihn übergangen hätte. Durfte man sich nun auch in jeder Familie anständigerweise nur einmal »die Ehre geben«, so war doch der Umgangskreis groß und erweiterte sich noch immer mehr. Und nachdem der liebenswürdige Herr einmal in den Ruf gekommen war, schon »gute Übung zu haben« und »seine Sache vortrefflich zu machen«, wurden ihm nun auch schon die Enkel seiner alten Freundinnen »zum Halten« bei der Taufe anvertraut. Er meinte die Versäumnis, selbst keine Kinder zu haben, nicht besser entschädigen und ausgleichen zu können, als durch die Betätigung väterlicher oder mindestens onkelhafter Gesinnung für fremde. So führte er denn über seine Paten ordnungsmäßig Buch und vergaß nicht nur ihren ersten, sondern auch ihre weiteren Geburtstage nicht. Seine Weihnachtsbescherung erforderte immer viel Kopfzerbrechen, und im Monat Dezember sah man ihn kaum anders auf der Straße oder im Pferdebahnwagen als mit einem geheimnisvollen Päckchen im Arm. Auch zu anderer Zeit machte er sich gern das Vergnügen, mit seinen Kleinen zum Konditor oder in den Zoologischen Garten zu gehen, den größeren Knaben das Eintrittsgeld für den Zirkus, den Heranwachsenden Fräulein ein Theaterbillett zu schenken. Kam er zum Besuch, so brachte er immer etwas mit, wär's auch nur eine Tüte mit Süßigkeiten oder eine für die Jahreszeit seltene Blume. Und bei so kleinen Ausgaben blieb es nicht. Einige seiner Freunde waren in mißliche Vermögenslage gekommen. Da trat er nun ganz im stillen für seine Patenkinder ein, übernahm die Sorge für Schulgeld, Bücher und Kleider, die an das Kadettenhaus zu zahlende Pension oder den nicht erschwinglichen Teil des Wechsels für den Herrn Studiosus. Auf den Herrn Paten konnte man sich in der Not immer verlassen.

Es blieb nicht bei eigentlichen Freundschaftsdiensten. In seiner unverwüstlichen Gutmütigkeit ließ Herr Breckenberger Anforderungen an sich herantreten, die mitunter schon unverschämt genannt werden konnten. Da erhielt er von dem Portier des Hauses, in dem er wohnte, die Einladung zur Taufe seines Jüngsten, da war bei dem Kassenboten das siebente Kind eingetroffen, dessen sich »der Herr Rendant« doch wohl gütigst annehmen werde. Inserate der Art: Edle Herrschaften werden gebeten, bei einer unglücklichen Waise Patenstelle zu übernehmen, versetzten ihn stets in mitleidige Erregung, und mitunter widerstand er wirklich der Versuchung seines guten Herzens nicht, zur bestimmten Zeit in der angezeigten Kirche anzusprechen und wenigstens eine milde Gabe ins Taufbecken gleiten zu lassen. Es kam vor, daß ihn ein Freund auf der Suche nach einem Handwerker traf, der einen Jungen in die Lehre zu nehmen gewillt wäre, oder daß er bei den Bekannten herumfragte, ob ein Kindermädchen gebraucht würde. Immer waren es Paten, für die er zu sorgen hatte.

Enthob ihn auch öfters der Tod jeder weiteren Sorge, so standen zur Zeit doch noch nicht weniger als 14 Namen auf seiner Patenliste. Er durfte scherzhaft behaupten, das Patenstehen sei nun einmal seine Spezialität. Kein Wunder, daß er überall »der Herr Pate« hieß.

Er war stolz darauf, in der Welt, soweit er mit ihr Fühlung hatte, als ein Unikum etwas zu bedeuten, und soviel er auch seiner merkwürdigen Passion wegen gehänselt wurde, er hatte doch das sichere und sehr wohltuende Gefühl, daß er Freude bereitete und sich nützlich machte. Das Leben war ihm selbst so vergnüglich, daß er sich gewissermaßen moralisch verpflichtet fühlte, etwas zu tun, was ihm als ein Verdienst angerechnet werden könnte.

Er hatte Verwandte, sogar ziemlich nahe Verwandte, wenn auch nicht Geschwister, aber sie wohnten auswärts, und er sprach nicht gern von ihnen, bekümmerte sich wohl auch recht wenig um sie. Das hatte seinen guten Grund. Ein jüngerer Bruder seines Vaters hatte als Kaufmann durch leichtsinnige Spekulationen und liederliches Leben sein Vermögen durchgebracht, eine Kellnerin geheiratet, darauf die Frau mit mehreren Kindern in bedrängtester Lage verlassen und in Amerika seinem Leben gewaltsam ein Ende gemacht. Die Frau taugte auch nichts. Eine ältere Schwester seiner Mutter war gegen den Wunsch der Familie Schauspielerin geworden, beim Mangel an Talent und festen Grundsätzen auf eine abschüssige Bahn geraten, dann mit einem Dekorationsmaler verheiratet gewesen, von ihm wieder geschieden und mit ihren Kindern in Not geraten. Aus den Cousins und Cousinen war dann auch nicht viel geworden. Breckenberger erhielt von da her stets nur Bettelbriefe unerfreulichen Inhalts. Seine Mildherzigkeit wurde selten vergeblich angerufen, aber er war doch froh, wenn es ihm gelang, die lieben Verwandten wenigstens von seiner Person fernzuhalten.

Es war ihm lange Zeit gelungen. Eines Tages aber, als er gerade hinter seinen Rechnungsbüchern saß und zu Hause bleiben mußte, weil aus einer von ihm verwalteten milden Stiftung Pensionen an alte Fräulein zu zahlen waren, wurde ihm von der Aufwärterin eine Dame gemeldet, deren undeutlich gesprochenen Namen er nicht verstand. Er glaubte sie von einer der Stipendiaten abgeschickt. Wie verwundert war er aber, als er »Lieber Onkel« angeredet wurde.

»Ich hatte bisher nicht das Vergnügen ...« stotterte er, zugleich mechanisch den an langem Bande hängenden Klemmer nach der Nase bewegend.

»Das glaube ich,« fiel die unvermutete Nichte lächelnd ein. »Ich bin zum ersten Male in dieser Stadt, und meine erste Droschkenfahrt vom Bahnhof aus war zu Ihnen, lieber Onkel. Ach Gott! wie weit sind wir die Kreuz und Quer gefahren. Es muß sehr schwer sein, sich hier zurechtzufinden, wenn man ganz fremd ist.«

Herr Breckenberger nötigte sie in wenig rosiger Laune durch eine Bewegung der Hand zum Niedersitzen auf einen der Fauteuils am Sofatisch und drehte sich von seinem Platz aus ihr zu wie jemand, der auf dem Sprunge ist und nur eine Minute Zeit hat. Die Dame trug einen breiten Hut mit Blumen, den hellblauen Schleier unter dem Kinn zusammengezogen. Das Gesicht dahinter schien ihm jugendlich, die Augen leuchteten in lebhaftem Glanz. Er genierte sich seiner bunten Pantoffel wegen und zog die Füße unter den Stuhl. »Darf ich um Ihren Namen ...« sagte er. »Ich verstand ihn vorhin nicht recht.«

»Adele Schmidt ...« antwortete sie, indem sie sich verbeugte.

»Adele Schmidt ...« wiederholte er langsam und wie in seinem Gedächtnis nach einer Erinnerung suchend. »Schmidt – Schmidt ... Es gibt so viele Schmidt.«

»Ganz recht,« bemerkte sie, »und es kann wohl sein, lieber Onkel, daß Sie mich im Augenblick nicht recht unterzubringen wissen.«

»Nein, nein, ich weiß wohl ...« versicherte er und brach ab, da er in Wirklichkeit trotz aller Bemühungen die rechte Spur nicht treffen konnte.

Sie kam ihm zu Hilfe. »Es erklärt sich leicht. Ihre selige Tante, die zur Bühne ging –«

»Ah! Tante Marianne.«

»Ja. Um es mit einem Wort zu sagen: sie war meine Großmutter.«

»So, so! Ihre ... Hm! jawohl. Sie war fast zehn Jahre älter als meine Mutter und der Familie etwas – entfremdet. Sie hat einen Maler Schneefeld geheiratet, und die Kinder aus dieser Ehe ... Hm, hm! ich wußte nicht, daß eine Schneefeld mit einem Schmidt ...«

»Es ist auch nicht so.« Sie senkte die Augen und drehte den Sonnenschirm. »Es mag Ihnen entfallen sein, daß Ihre Tante in die Ehe mit Schneefeld eine Tochter einbrachte, die sich damals auf Kosten des Vaters, eines reichen Mannes, der später wieder bankrott gemacht hat, in einer Pension befand. Mein Gott, es ist ja nicht wunderbar, wenn von diesem Kinde möglichst wenig gesprochen wurde.«

»In der Tat, es klingt mir ganz neu. Wenigstens erinnere ich mich nicht –«

»Die Papiere können vorgelegt werden. Diese Tochter nun – sie war Ines getauft worden – fühlte sich, als die Unterstützungen aufhörten, im Hause ihres Stiefvaters so unglücklich, daß sie noch sehr jung die Bewerbung eines Eisenbahnbeamten Schmidt annahm, der eine Anstellung bei den rumänischen Bahnen erhalten hatte. Ich spreche von meinem Vater. Außer mir sind noch fünf Geschwister –«

Er sah sie erschreckt an. »Noch fünf ...«

»Von denen zwei jung starben. Da meine Mutter ihren Kindern eine bessere Erziehung zu geben wünschte, bestimmte sie ihren Mann, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Er mußte sich hier mit dem Posten eines Schaffners begnügen. So fleißig meine Mutter – eine sehr brave Frau, lieber Onkel – für Fremde arbeitete, hatte er doch mit schweren Sorgen zu kämpfen, die ihm ein Nervenleiden zuzogen. Er verrichtete doch seinen Dienst. In einer stürmischen Nacht, als er am Trittbrett entlang kletterte, um die Billetts abzunehmen –«

»Es ist so streng verboten,« rief Breckenberger ärgerlich hinein. Sie zuckte kaum merklich mit den Schultern.

»Kurz, mein armer Vater glitt aus, zog sich durch den Fall eine schwere Verletzung zu und starb daran. Das geschah bereits vor 17 Jahren. Ich war damals fünfzehn alt.«

Er rechnete schnell die Zahlen zusammen. Zweiunddreißig also! »Hm – hm – hm,« brummte er in mitleidigem Ton.

»Meine Mutter blieb mit vier unversorgten Kindern zurück,« fuhr sie fort. »Sie hat sie von ihrer Hände Arbeit kümmerlich, aber ehrlich ernährt, bis sie selbst ihr Brot suchen konnten. Ich habe ihr treu zur Seite gestanden, solange sie lebte –«

»Sie ist tot?«

»Vor drei Jahren allzufrüh verstorben. Sie war einmal sehr schön gewesen. Ihre zweite Tochter sah ihr ähnlich. Sie ist, wie die Großmutter, zur Bühne gegangen, aber Tänzerin geworden.«

»Tänzerin –«

»O, Sie dürfen darüber nicht erschrecken, lieber Onkel; Selma ist eine sehr achtbare Künstlerin, deren Ruf –«

»Ich zweifle nicht, liebes Kind, ich zweifle nicht.«

»Meine Mutter hatte sie in die Ballettschule gegeben, um einen kleinen Nebenverdienst zu haben. Von meinen Brüdern dient der eine beim Militär als Unteroffizier, der andere ist Seemann geworden und fährt auf einem Bremer Schiff. Ich selbst habe mich in verschiedenen Stellungen versucht.« Sie schlug die Augen nieder. »Ich hätte heiraten können – o, es fehlte mir nicht an Anträgen, aber die Bewerber waren kleine Leute, denen ich nicht helfen mochte, leichtsinnig einen Hausstand zu begründen. Das Beispiel meiner armen Mutter schreckte ab.«

Sie zog aus einem Ledertäschchen ein Paket zusammengebundener Papiere und legte es in seine Hand.

Herr Breckenberger hatte während dieser Mitteilungen Zeit gehabt, sich die Nichte näher anzusehen. Sie war schlank gewachsen, blond und trug das Haar glatt. Der Hut hatte zwar eine moderne Fasson, schien aber schon oft aufgeputzt zu sein. Vielleicht war der große Schleier mit dazu bestimmt, allerhand kleine Schäden zu verdecken. Das Jäckchen, das sie über die helle Bluse gezogen hatte, war etwas zu kurz und enge geraten. Eine vorgesteckte Brosche mit unechten Steinen war jedenfalls sehr billig erstanden; an einem dünnen, silbernen Armreif bammelten und rasselten einige kleine Anhängsel, ein Kreuzchen, ein Herzchen, eine Münze. Die gelben Glacéhandschuhe hatten an den Fingerspitzen und über den Knöcheln die Farbe gewechselt. Über den etwas ausgeschossenen Sonnenschirm war eine Spitze gelegt, und als sich einmal der Fuß etwas zu dreist unter dem dunkeln Rock vorstreckte, zeigte sich ein kleiner Riß unweit der Spitze genäht. Das ganze Dämchen sah so aus, als ob es Mühe gehabt hätte, die einzelnen Stücke der Visitentoilette zusammenzubringen. Vielleicht handelte es sich zugleich um den ganzen Besitz.

Es war dem alten Herrn ganz lieb, daß er die Papiere durchsehen konnte und so das Gespräch zunächst nicht fortzusetzen brauchte. Adele mißfiel ihm nicht, aber die Frage: was wird sie von dir wollen? beschäftigte ihn doch viel zu sehr, um eine ganz unbefangene Prüfung des Eindrucks zuzulassen. Was wird sie von dir wollen? Es war doch sonderbar, daß ihm da etwas ins Haus lief, von dessen Dasein er keine Ahnung gehabt hatte. Auf der anderen Seite sprach vielleicht gerade dieser Umstand zugunsten des ungebetenen Gastes. Wenn Frau Ines Schmidt, die in so großer Not sie viele Jahre lang war, ihn nie um eine Unterstützung angegangen war, keins von ihren Kindern je an ihn geschrieben hatte, mußte dieser abseits gewachsene Zweig der Familie sich doch kräftig genug gefühlt haben, seine Wohltaten entbehren zu können. Es lagen auch Zeugnisse bei, die auf Adele Bezug hatten und sich über ihre Tüchtigkeit und Führung sehr lobend äußerten.

Sie hielt sich nun in ihrem Sessel ganz still und wartete ab, bis er das letzte Blatt umgewandt hatte. »Na ja –«, sagte er endlich, »das ist schon richtig, liebes Kind – wie ich auch gar nicht zweifelte. Und jetzt sind Sie also nach Berlin gekommen –«

»Um da ein wenig mein Glück zu versuchen,« fiel sie ein, da er stockte. »Ich habe Schneidern und Putzmachen gelernt, aber damit ist an kleinen Orten nicht viel zu verdienen, und es fehlt mir auch noch, wie man zu sagen pflegt, der höhere Schliff, den ich mir nur hier verschaffen kann, da ich an Paris doch nicht denken darf. Ich habe auch schon eine Stelle als Jungfer bei einer vornehmen Dame angenommen gehabt und eine Weile im Hause eines Witwers mit acht Kindern die Wirtschaft geführt. Aber man ist da so abhängig, und ich habe die größte Lust, mit der Zeit selbständig zu werden.«

»Und was soll ich ...?« fragte er schüchtern.

»Ach, glauben Sie doch nur nicht, lieber Onkel, daß ich Sie um Geld anbetteln komme. Nein, Sie brauchen deshalb gar keine Angst vor mir zu haben. Gott sei Dank bringe ich einige Ersparnisse mit, von denen ich schon eine Weile zehren kann, wenn es mir ganz schlecht geht. Ich wollte Sie nur bitten, mir meinen kleinen Schatz aufzubewahren, da man doch an dem fremden Ort nicht wissen kann, wem man vertrauen darf. Und dann ...« Sie zirkelte mit dem Sonnenschirm um ihren Fuß herum.

»Nun? Und dann –?«

»Ich habe mir's so gedacht, daß ich an Ihnen einen guten Halt haben könnte, wenn Sie sich so weit meiner annehmen wollten. Ich bin gar nicht unbescheiden. Nur daß ich sagen darf, der Herr Breckenberger ist mein Onkel ... Dann merken die Leute schon auf.«

»Sie überschätzen meinen Einfluß, liebes Kind –«

»Nein, nein! Ich weiß, mit wem ich's zu tun habe. Sie können sich wohl vorstellen, daß in unserer Familie immer viel von Ihnen gesprochen ist. Es war uns eine Ehre, so einen Verwandten zu haben. Wir haben auch gelegentlich nach Ihnen gefragt und erfahren, daß Sie allgemein der Herr Pate heißen, und wie das zusammenhängt. Da meinte ich denn – aber nehmen Sie mir's nicht übel – da meinte ich, wenn Sie ein so gutes Herz für fremde Kinder hätten, möchten Sie sich vielleicht auch einer armen Verwandten freundlich annehmen, deren Sie sich doch gerade nicht zu schämen brauchen. Und so ließ ich mich gleich zu Ihnen fahren.«

Das klang alles recht gut; er hatte gar nichts einzuwenden. Nun ging es ihm schon im Kopfe herum, was er mit dem vertrausamen Dämchen anfangen solle, und so war's denn nicht mehr weit bis zu dem Entschluß, Adele vorläufig bei sich zu behalten. Zu seiner Wohnung gehörte ein abgesondert, hinter der Küche gelegenes Zimmer für die Wirtschafterin. Er hatte vor kurzem die alte Person, die ihm mit ihren Sonderbarkeiten unleidlich wurde, Knall und Fall entlassen müssen. Nun stand das Zimmer leer. Er bot es Adele an, bis sie ein anderes Unterkommen gefunden hätte, und sie nahm ohne Bedenken an. Auf so viel verwandtschaftliches Entgegenkommen hatte sie gar nicht gerechnet.

Seitdem waren einige Monate vergangen, ohne daß sich eine recht passende Stelle für Adele, wenigstens den Wünschen Breckenbergers ganz entsprechend, gefunden hätte. Er hielt es für seine Pflicht, sie auf ihren Gängen durch die ihr unbekannte Stadt zu begleiten, sie mittags in ein Restaurant, abends in irgendein Vergnügungslokal zu führen und ihre Garderobe so zu vervollständigen, daß er sie gelegentlich einem Freunde als seine Verwandte vorstellen konnte. Sie war so dankbar für den geringsten Beweis von Wohlwollen gewesen, so bescheiden in ihrem Auftreten, so verständig in ihrer ganzen Denkweise und dabei recht kurzweilig. Sie beobachtete gut und fand überall so viel Neues, daß ihr der Unterhaltungsstoff nie ausging. Tausende Dinge, die dem alten Herrn gleichgültig geworden waren, erregten nun wieder sein Interesse, und es schmeichelte ihm sogar ein wenig, fortwährend um Auskunft gebeten zu werden und sich als den kundigen Mann beweisen zu können.

Adele betrachtete sich aber auch nicht nur als Vergnügungsgast, sondern suchte sich in der kleinen Junggesellenwirtschaft nützlich zu machen, soviel Gelegenheit ihr dazu geboten war. Die Aufwärterin schlief nun – dies hatte Herr Breckenberger gleich ausgemacht – in der Küche; Adele war aber meist noch vor ihr auf, beim Reinigen der Zimmer und Ausstäuben der Möbel behilflich, und besonders dem Onkel einen schmackhaften Kaffee zu bereiten, wie er ihn seit langer Zeit nicht vorgesetzt erhalten zu haben sich erinnerte. Sie revidierte die Rechnungen und ermittelte leicht, daß sich die frühere Wirtschafterin bei jedem Einkauf einen Vorteil zugerechnet hatte. »Wir wollen das aber geschehen sein lassen,« sagte sie, »und nur künftig besser aufpassen«; das war so ganz nach seinem Sinn.

Sie gab dann zu bedenken, ob es ihm nicht lieb sein möchte, hin und wieder einmal abends zu Hause zu essen, da das Frühstück, das sie ihm aufstellte, ihm doch immer so gut mundete. Er fand, daß diese Veränderung zu seiner Behaglichkeit wesentlich beitragen könnte. Nun war der Tisch immer zierlich gedeckt, die Lampe regelmäßig gefüllt und beschnitten, der Lehnstuhl vor seinen Platz gestellt, und er konnte da im bequemen Hausrock bei der Zeitung sitzen, solange es ihm gefiel. Adele war über die Äußerungen seines Wohlbefindens so glücklich, tat einen Schritt weiter und bat um die Erlaubnis, auch einmal einen häuslichen Mittag einrichten zu dürfen. Eine kräftige Suppe, ein gutes Stück Fleisch und eine schmackhafte Mehlspeise dürfe sie versprechen. Das sei mehr wert, als sechs Gerichte mit französischen Namen und ohne Saft und Kraft, meinte er, die Unbequemlichkeit für sie aber ... Sie nahm gleich den nächsten Sonntag in Aussicht. Vielleicht wolle er ein paar Herren einladen. Nun widerstand er nicht.

Es hatte ihm lange nicht so gut geschmeckt, und nun plauderte er in einer schwachen Stunde aus, daß es ihm schon längst als ein Ideal vorgeschwebt habe, einen eigenen Tisch mit guter Hausmannskost zu führen. Ganz allein essen zu müssen, sei freilich eine zu verdrießliche Sache. Da er sie ja doch auch im Restaurant neben sich leide, meinte Adele, könnte er wenigstens so lange, als sie bei ihm sei, den Tisch im Hause für zwei decken lassen. »Aber wie gern!« fuhr er heraus; und als das nun einmal unvorsichtig gesagt war, nützten auch alle einschränkenden Erklärungen nicht mehr. Schon am anderen Tage speiste er zu Hause und trank dazu den Wein aus seinem Keller, den er so gut kaum für teures Geld im Gasthause hätte haben können.

Schon bei der dritten Mahlzeit unter vier Augen – Adele hatte ihm ein delikates Hühnchen gebraten und dazu eine Schale mit ganz jungem Salat gestellt – sprach er die Ansicht aus, es sei eigentlich gar nicht in der Ordnung, daß so nahe Verwandte einander mit Sie anredeten. Wenn es sie also nicht geniere ... Sie stand sogleich auf, stieß mit ihm an und besiegelte die neue Duzbrüderschaft, auf die sie längst sehnlichst gehofft hatte, mit einem herzhaften Kuß. So war's recht!

Er fing an zu überlegen, ob nicht am Ende ein ungeheuer glücklicher Zufall ihn in die Lage versetzt habe, sich sein Dasein auf die Dauer viel gemütlicher als bisher einzurichten. »Es wäre doch eigentlich das Gescheiteste, liebe Adele,« begann er eines Tages, »du bliebest ganz bei mir.«

»Wie das, Onkelchen?« fragte sie anscheinend doch überrascht.

»Na –« schmunzelte er, »du bist zwar nicht hergekommen, deine wirtschaftlichen Talente nutzbar zu machen, aber da du dir nun schon aus verwandtschaftlicher Liebenswürdigkeit so viel erfolgreiche Mühe gegeben hast, mir gleichsam probeweise ein menschenwürdiges Heim zu schaffen, so ist es von meiner Seite jedenfalls ein sehr erklärlicher Wunsch, diesen angenehmen Zustand verlängert zu sehen. Solltest du mir daher auch ferner die Wirtschaft führen wollen – hm, hm! über die Bedingungen würden wir uns gewiß rasch einigen. Es versteht sich von selbst, daß dabei verwandtschaftliche Rücksichten ein Wort mitzusprechen hätten.«

»Ich könnte ja nirgend besser aufgehoben sein,« bemerkte Adele ein wenig zögernd und auf ihre Handarbeit hinabblinzelnd, »wenn wir ...«

»Was – was?« fiel er gleich aufgeregt ein.

»Wenn es dir dabei nur nicht unbequem wird, daß ich deine Nichte bin!«

Er merkte verwundert auf. »Wieso denn? Das ist mir ja gerade besonders lieb.«

Adele antwortete nicht gleich. Sie hatte die Augen gesenkt und stach mit der Nadel ins Zeug, ohne zu nähen. »Du bist der Herr Pate, lieber Onkel,« sagte sie dann in ihrer bedachten Weise, »hast viele Freunde und Freundinnen, und es kommen deiner Ämter wegen allerhand Personen in dein Haus. Nun weiß ich freilich nicht, ob die sich darum kümmern, was du für eine Wirtschafterin da hinten in der Küche hast; aber wenn deine Nichte dir die Wirtschaft führt, so ist das doch etwas anderes. Und darauf, siehst du – darauf möchte ich doch nicht gern verzichten, deine Nichte zu sein.«

»Aber wie kannst du nur denken –«, rief er. »Also weiter hast du kein Bedenken. Gut! Abgemacht denn.« Er reichte ihr die Hand. »Es bleibt, wie es ist.«

Adele nickte. »Solange es dir gefallen wird. Sage nur ganz ehrlich, wenn du mich wieder los sein willst. Ich mag auch nicht gebunden sein. Es gilt beiderseits tägliche Kündigung.«

»Gut, gut!«

»Und wenn es bleibt, wie es ist, führt dir also deine Nichte die Wirtschaft.«

»Wer denn anders, Kind?«

»Ich sag's nur, damit in unserm Verhältnis keine Unklarheit bleibt.«

Er schien einen Augenblick zu überlegen, ob damit noch etwas Besonderes gemeint sein solle. Dann aber antwortete er nur kurz: »Einverstanden,« und reichte ihr nochmals die Hand.

So war denn die beste Ordnung hergestellt, wie er täglich von neuem zu rühmen Gelegenheit hatte. Einen glücklicheren Zufall als den, der ihm Adele ins Haus gebracht, konnte es gar nicht geben, und einen gescheiteren Einfall, als sie an dasselbe zu fesseln, hätte er gar nicht haben können. Daß er stets ein weibliches Wesen um sich hatte, mit dem ein freundschaftlicher Verkehr sich aus dem verwandtschaftlichen Verhältnis heraus gewissermaßen ganz von selbst verstand, gab ihm die heiterste Stimmung. Er blieb Junggeselle, hatte aber doch eine Art von Häuslichkeit, wie ein verheirateter Mann. Es blieb überhaupt alles beim alten, war aber dennoch ganz anders geworden. Er meinte, jetzt erst sein Leben recht genießen zu können. Und er tat doch auch ein gutes Werk! Ja, ja, es war nicht recht gewesen, daß er seine Verwandten so lange vernachlässigt hatte. Nun konnte er an dieser Nichte alles Versäumte wettmachen.

Mit solcher Begründung brachte er denn auch meist die Sache an die befreundeten Familien. Es mußte ihm auffallen, daß man sich da nicht ganz so entgegenkommend äußerte, als er's erwartet hatte. Man lächelte so sonderbar und schien etwas im Rückhalt zu haben. Er erhielt wohl die Erlaubnis, Adele einzuführen; als er dann aber wirklich mit ihr Besuche abstattete, mußte er bemerken, daß die Damen sich wie auf Verabredung in einem sehr förmlichen Wesen gefielen, das ihnen sonst fremd war.

Einladungen ließen unvermutet lange auf sich warten und blieben an manchen Stellen ganz aus, und als Breckenberger dann ungeduldig selbst die guten Freunde zu sich zu bitten beschloß, erfolgten so viele Absagen unter den nichtigsten Vorwänden, daß er sich erschreckt fragen mußte, was denn geschehen sei, diese unartige Behandlung erklärlich zu machen.

Es schien ihm durch die Umstände geradezu geboten, sich hierüber Gewißheit zu verschaffen. Nun gehörte zu seinem vertrautesten Umgang die Witwe eines Rittmeisters von Torsten, dessen jetzt neunzehnjährige Tochter, übrigens das einzige hinterbliebene Kind, seine Pate war. Seine liebste Pate, konnte dreist behauptet werden. Tausendmal hatte er scherzend, aber doch anscheinend ganz ernst gemeint, versichert, Wanda werde einst seine Erbin werden. Man wußte, daß Torsten sein bester Freund schon von der Schule her gewesen war, und daß er nach dessen frühem Tode – Torsten hatte sich kaum ein Jahr nach der Geburt des Kindes wegen gänzlich zerrütteter Vermögensverhältnisse erschossen – Wanda ganz auf seine Kosten hatte erziehen lassen, auch jetzt noch so ausreichend für ihre Bedürfnisse sorgte, daß Frau von Torsten ihren Haushalt standesgemäß einrichten konnte, ohne doch für sich selbst eine Unterstützung annehmen zu müssen. Der Herr Pate behauptete, nur seine Schuldigkeit zu tun. Daß sie hier so außerordentlich weit bemessen war, mußte wohl seinen guten Grund haben, aber er versteckte sich auch seinen nächsten Bekannten. Die Freundschaft konnte da nicht allein das Wort geführt haben. Es war sogar nach Torstens Verheiratung mit der schönen, aber ganz armen Martha Elbeck irgend etwas geschehen, das ihr einen starken Stoß gab. Breckenberger mied eine Weile das Haus. Erst die Taufe Wandas, bei der er das unvermeidliche Patenamt übernommen hatte, mußte wohl eine vollständige Versöhnung veranlaßt haben. Längere Zeit erwartete man ziemlich allgemein, er werde der jungen, schönen und liebenswürdigen Witwe ein Bündnis fürs Leben anbieten. Darin schien man aber geirrt zu haben. Denn Frau von Torsten hätte sich in ihrer bedrängten Lage schwerlich bedacht, die Hand eines Mannes anzunehmen, dessen Wohltaten sie sich des Kindes wegen gefallen ließ. Es blieb da vieles dunkel. Da die Beteiligten aber keine nähere Aufklärung gaben und ihr Verhältnis untadelig blieb, gewöhnte man sich daran, dem »Herrn Paten« auf Rechnung zu stellen, was er selbst darauf geschrieben wissen wollte, und nun erst recht seiner Menschenfreundlichkeit und Uneigennützigkeit Lob zu singen. Wanda hatte nicht einmal soviel von der Vergangenheit erfahren und ihren Kopf nie mit Fragen beschwert, weshalb Onkel Breckenberger ihr ein so väterlich gesinnter Vormund sei. Sie wußte es gar nicht anders, als daß sie sich ganz wie seine Tochter fühlen sollte, und fand es daher auch durchaus nicht wunderbar, daß er ihr eine reiche Erbschaft in Aussicht stellte.

Sein Verkehr im Hause der Freundin hatte ein wenig unter der Veränderung gelitten, die in seinem eigenen durch Adelens Zutritt vor sich gegangen war. Je mehr ihn die Nichte fesselte, um so seltener und kürzer wurden seine Besuche dort. Er hatte sie natürlich Frau von Torsten sogleich zugeführt und warm empfohlen, bald aber herausfühlen müssen, daß die gnädige Frau sie mit einer ihr sonst gar nicht eigenen kühlen Förmlichkeit in gemessener Entfernung zu halten bemüht war. Es konnte ihm auch auffallen, daß Wanda, die ihn bisher öfters durch einen Besuch »im Vorübergehen« erfreut hatte, jetzt plötzlich Bedenken zu haben schien, die Schwelle des Junggesellen zu überschreiten. Als er sich darüber scherzhaft beschwerte, ließ sich die Mama ihm ziemlich schleierhaft über das aus, was sich für ein junges Mädchen, das doch kein Kind mehr sei, schicke und nicht schicke. Er wurde nicht fertig damit.

Frau Martha war unter den geladenen Gästen gewesen, die ihm abgesagt hatten; das war von ihm als ein schwerer Verdruß empfunden worden. Er hatte Adele sonst immer nicht genug Rühmenswertes von dieser verehrten Freundin mitteilen können. Nun zum ersten Male hörte sie ihn über Undank klagen. Sie hatte schon die meisten seiner »Paten« kennen gelernt und oft genug Gelegenheit gehabt, sich über die »geradezu unvernünftigen« Besteuerungen seiner Gutmütigkeit zu entrüsten. Es war ihr aber auch nicht entgangen, daß Wanda von Torsten und ihre Mutter in seinem Herzen eine ganz bevorzugte Stelle hatten. Deshalb hütete sie sich wohl, seinen Unmut zu reizen. Es war vielleicht schon unvorsichtig, daß sie das Wort fallen ließ: »Glaube mir nur, es geschieht meinetwegen.«

Breckenberger hatte, wennschon er ihren Verdacht ablehnte, doch ein bestimmtes Gefühl, daß etwas Wahres daran sei. Es drängte ihn, Gewißheit zu erhalten. Deshalb beschloß er, eine Aussprache herbeizuführen.

Es war Winter und die frühe Dämmerstunde des Nachmittags, als er sich zu Frau von Torsten begab. In die Straße nahe dem Tiergarten einbiegend, in welcher sie wohnte, sah er Wanda mit einem ihm unbekannten jungen Offizier langsam an dem Hause vorübergehen, in einiger Entfernung umkehren und dann eintreten. Sie trug auf dem dunkelbraunen Haar, das in üppigen Löckchen ihre Stirn beschattete, eine Kappe von kostbarem grauem Pelzwerk, die er ihr nebst dem kleinen Muff, in den sie die Hände einschob, zu Weihnachten geschenkt hatte. An ihrem linken Arm hingen Schlittschuhe. Der rechte wurde mitunter von dem weiten Ärmel des Offiziers gestreift, der sich dicht an ihrer Seite hielt. Er schien lebhaft auf sie einzusprechen, während sie den Kopf gesenkt hielt. Das war denn auch der Grund, weshalb sie Breckenberger nicht bemerkte.

Dieser überlegte, als die beiden in der Tür verschwunden waren, ob er folgen solle. Durch die Glasfenster sah er sie im Vorbeigehen auf dem Treppenabsatz stehen und anscheinend das Gespräch fortsetzen. Als er zurückkehrte, waren sie schon hinaufgegangen. Er schritt noch ein paarmal auf und ab in der Meinung, der Begleiter würde sich vielleicht bald entfernen. Da dies nach gut zehn Minuten noch nicht geschehen war, nahm er für gewiß an, daß dieser Wanda auch in die Wohnung gefolgt sei, und zog die Glocke des Portiers, da er seinetwegen den Weg nicht umsonst gemacht haben wollte.

Er täuschte sich nicht. Das Mädchen sagte ihm, die gnädige Frau habe Besuch. Er hörte auch im Salon sprechen und lachen. Das Fräulein habe ihr zwar einen Wink gegeben, daß niemand vorgelassen werden solle; aber der Herr Pate ...« Sie öffnete die Tür und meldete. Sogleich erschien Frau von Torsten auf der Schwelle, ihn zu bewillkommnen. »Sie sind's, lieber Herr Breckenberger,« rief sie ihm zu; »treten Sie gütigst ein.«

»Wenn ich stören sollte –«, murmelte er, ihr die ausgestreckte Hand schüttelnd.

»O, gewiß nicht,« antwortete sie in rascher Abwehr. »Ich bitte.« Sie schien ihm doch unruhig, als ob er überrascht hätte.

»Herr Leutnant von Stresow –« stellte sie die Herren einander vor, »unser alter Hausfreund, Herr Breckenberger, der freilich jetzt ein seltener Gast ist.« Das Letzte fügte sie im Ton schalkhaften Vorwurfs hinzu, indem sie ihm mit dem Finger drohte. Der großgewachsene brünette und schwarzäugige Offizier verbeugte sich vornehm. »Ah – habe schon so viel von Ihnen gehört ...«

»Herr von Stresow hatte die Güte,« fuhr die Dame sogleich fort, »Wanda von der Eisbahn nach Hause zu begleiten, da sein Weg ihn hier vorüberführt. Es dunkelt jetzt schon so früh, und wenn auf der belebten Straße durch den Tiergarten auch keine Gefahr ist, muß ich doch für den Schutz dankbar sein. Übrigens der Sohn des Obersten von Stresow, der ein lieber Kamerad meines Mannes war. Sie erinnern sich gewiß seiner.«

»Jawohl, jawohl,« versicherte Breckenberger, der merkte, daß ihm der Besuch gleichsam erklärt werden solle, etwas verlegen. Jener Stresow war ihm nicht sympathisch gewesen. Er wußte, daß er das Vermögen seiner Frau durchgebracht und Torsten zu unsinnigem Spiel verleitet hatte. Martha selbst nannte ihn damals ihres Mannes bösen Engel. Und nun ...

Wanda stand am Fenster einige Schritte entfernt und streichelte einen Seidenspitz, der sich's auf dem Plüschsessel bequem gemacht und bei Breckenbergers Eintritt kaum den Kopf erhoben hatte. Es war eine allerliebste kleine, rosige Hand, die über das weiche Seidenhaar hinglitt. Wangen und Kinn mochten noch von der frischen Winterluft gerötet sein. Sie stand ein wenig gebückt und blinzelte unter den langen Augenwimpern vor, wie neugierig, was der Herr Pate zu dieser jüngsten Bekanntschaft sagen werde.

»Nun, guten Tag, Wanda,« sprach er sie an.

»Guten Tag, Onkelchen,« antwortete sie mit freundlichem Kopfnicken. »Ist die Vorstellung glücklich beendet? Ich wollte das nur abwarten, ehe ich dich begrüßte.«

Sie eilte nun auf ihn zu und bot ihm den Mund zum Kusse. Er nahm den gewohnten Tribut ohne Zögern in Empfang und klopfte dann väterlich ihre Wange. »Du läßt dich ja aber nicht mehr blicken,« schalt er gutmütig. »Die Eisbahn nimmt wohl zu viel Zeit in Anspruch?«

»Ach –!« sagte sie und wendete dabei den Kopf zur Seite. Ihr Blick streifte den Leutnant und blieb wie fragend an den unruhigen Zügen der Mama hängen, die ihr doch keinen Wink geben wollten.

Der Leutnant empfahl sich bald unter irgendeinem Vorwande, der unangefochten blieb. »Lebt denn der Alte noch?« fragte Breckenberger.

»Als Pensionär in Görlitz,« antwortete Frau von Torsten. »Er hat schon vor einigen Jahren seinen Abschied erhalten.«

»Weshalb?«

»O, in allen Ehren. Das Reiten ist ihm bei seinem gichtischen Leiden schwer geworden. Sie wissen ja, beim Militär ...«

»Ja, ja,« bestätigte Breckenberger mit einer Miene, als ob seine Gedanken abschweiften. »Mich wundert's, daß er sich noch so lange gehalten hat. Hm – hm ... Was ist denn der Sohn für ein Mensch?«

»Ich kenne ihn zu wenig –«

»Und öffnen ihm doch Ihr Haus.«

»Er lernte Wanda auf dem Eise kennen und machte uns seine Visite. Da er Adjutant ist, muß er wohl das besondere Vertrauen seiner Vorgesetzten genießen.«

»Er ist auch sehr klug, Onkelchen,« versicherte Wanda, der die Wangen glühten, »und hat viel gelesen, was gar nicht in sein Fach schlägt – sogar philosophische Bücher. Wir unterhalten uns meist über sehr ernste Dinge.«

»Das kann ich mir denken,« sagte Breckenberger gefällig, »vertieft euch nur nicht gar zu sehr. Die Stresows ...«

Er brach ab, und Frau von Torsten brachte das Gespräch mit einer geschickten Wendung auf ein anderes Gebiet. Wanda erinnerte sich, daß sie noch einer Freundin zum Geburtstag schriftlich zu gratulieren habe, und zog sich bald in ihr Stübchen zurück.

Breckenberger versuchte nicht, sie zu halten. »Es ist mir ganz recht, liebe Frau Martha,« sagte er, seinen Stuhl näher an das Sofa heranrückend, »daß wir ein Weilchen miteinander allein bleiben. Wissen Sie, was mich eigentlich zu Ihnen führt?«

»Sie haben also einen besonderen Grund?«

»Ja – das will ich nicht in Abrede stellen. Nämlich ... Aber Sie müssen mir ganz offen die Wahrheit sagen.«

»Lieber Freund –.«

»Sehen Sie, das ist's. Ich denke, wir sind gute Freunde.«

Sie lächelte. »Wir dürfen einander wohl dafür halten.«

»Und haben auch Beweise. Ich glaubte, ein Mißverständnis könnte unter uns gar nicht mehr möglich sein.«

Die schöne Frau senkte die Augen. »Und jetzt sind Sie anderer Meinung?«

Er zog eine Hand durch die andere. »Ich will nicht sagen ... Aber es muß mich doch stutzig machen, daß Sie – seit einiger Zeit – gewissermaßen eine veränderte Haltung gegen mich einnehmen, und offenbar auch Wanda –«

»Sie täuschen sich gewiß, lieber Breckenberger.«

Er schüttelte den Kopf und bewegte den Zeigefinger hin und her. »Nein, nein! Ich bat Sie, mir ganz offen die Wahrheit zu sagen: Sie sind nicht die einzige, die ich so verändert finde. Ich habe wohl bemerkt ... Aber lassen wir das. Nur von Ihnen soll die Rede sein, denn da tut mir's wirklich weh. Sagen Sie mir, was haben Sie gegen mich?«

Er legte seine Hand auf die ihre und sah sie treuherzig an. Frau Martha schwieg eine kleine Weile, dann sagte sie verlegen lächelnd: »Es läßt sich schwer darüber sprechen, lieber Freund.«

»Warum aber?« wendete er ein. »Habe ich Ihnen schon je etwas übel genommen? Kann ich Ihnen je etwas übelnehmen? Sie sind mit mir aus irgendeinem Anlaß unzufrieden. Sollte ich den nicht wissen können?«

»Unzufrieden!« rief sie. »Wie dürfte ich das? Habe ich auch nur freundschaftlichen Anspruch darauf, Ihre Handlungen zu kritisieren? Zu dem, was Sie tun, haben Sie gewiß stets besten Grund. Ich kann für meine Person nur zu dem Fertigen Stellung nehmen. Da freilich müssen Sie mir gestatten –«

»Nun?«

Sie blickte entschlossen auf. »Sie finden unser Verhalten gegen Sie verändert, lieber Breckenberger; aber sind es nicht die veränderten Umstände, die ganz von selbst ihren Zwang üben?«

Er horchte auf. »Die veränderten Umstände – hm? Sie meinen, weil ich – meine Nichte Adele ins Haus genommen habe? Denn sonst wüßte ich wirklich nicht ...«

»Das ist's in der Tat,« erwiderte sie wie erleichtert, »und ich denke, es reicht aus, uns zu entschuldigen, wenn wir dieses Ereignis nicht unbeachtet lassen.«

»Aber –«

»Nein, nein, bester Freund,« redete sie sich nun schnell in Eifer, »Sie werden es niemand, der bisher bei Ihnen ein und aus gegangen ist, verargen, wenn er sich die Frage vorlegt, was Fräulein Adele in Ihrem Hause zu bedeuten hat. Daß sie Ihnen die Wirtschaft führt, sagt doch nicht alles, und daß sie Ihre Nichte ist, ebensowenig. Beide Umstände zusammen genommen aber geben der Vermutung Raum –«

»Welcher Vermutung?« fuhr er auf, da sie ein wenig zögerte.

»Ich weiß natürlich nicht, was Sie beabsichtigen,« fuhr Frau von Torsten vorsichtiger fort. »An der Ehrenhaftigkeit des Fräuleins zu zweifeln, habe ich nicht den mindesten Grund, und Sie kenne ich doch am Ende gut genug, um darüber beruhigt sein zu können, daß der Schein trügt –«

»Also –!« Er fing an zu begreifen.

»Den Schein hat man aber doch zu vermeiden, wenn man sich achtet. Er ist in unseren abstrusen gesellschaftlichen Beziehungen geradezu alles. Es handelt sich ja hier nicht um die persönliche Wertschätzung, die man Ihnen und Fräulein Adele schuldet, sondern allein um die Frage, wie man sich rein äußerlich zu dem Abkommen, das Sie beide miteinander getroffen haben, zu stellen hat. Verzeihen Sie mir, wenn ich da den Standpunkt aller Damen aus unserem Bekanntenkreise teile. Sie haben sich's, glauben wir, in Ihrer harmlosen Menschenfreundlichkeit nicht gut überlegt, daß doch nur ein einfaches Entweder – Oder möglich war. Kam es Ihnen auf eine tüchtige und vertrausame Wirtschafterin an, so mochten Sie dazu immerhin auch eine noch ziemlich jugendliche und recht hübsche Nichte wählen – wer da draußen die Schlüsselgewalt hatte, ging niemand etwas an. Wollten Sie aber eine liebe Nichte, die Sie großmütig unterstützten, in die Gesellschaft einführen – ja, bester Freund, dann mußten Sie auf häusliche Vorteile verzichten und die liebenswürdige Dame irgendwo in Pension geben. Man würde sich dann sicher überall beeilt haben, durch den Empfang, den man ihr bereitete, freundschaftlichste Gesinnung gegen Sie selbst zum Ausdruck zu bringen.«

Frau von Torsten schöpfte nach dieser langen und mit einiger Hast vorgetragenen Rede ein wenig Atem, und Breckenberger benutzte die Gelegenheit, durch ein paar nicht zu Worten ausgewachsene Laute sein Erstaunen über diese Auffassung der Dinge kenntlich zu machen. Es blieb ihm aber keine Zeit, sich zu einer Entgegnung zu sammeln, denn sie fuhr sogleich fort: »Lassen Sie mich völlig aussprechen, da ich mich einmal dazu ermutigt habe, Ihnen auf die Gefahr einer augenblicklichen Verstimmung hin meine Ansichten mitzuteilen. Das alles, was ich Ihnen gesagt habe, hat die Voraussetzung, daß Sie sich wirklich nur in den Bedingungen irrten und noch irren, unter denen Sie eine Wohltat üben konnten, ohne Ihrem Freundeskreise eine unliebsame Verpflichtung aufzulegen. Fühlen Sie sich in Ihrer jetzigen Häuslichkeit so wohl, daß Sie von jeder Änderung absehen, so werde ich die letzte sein, die Ihnen das verdenkt. Sie müssen sich nur auch entschließen, die gesellschaftlichen Konsequenzen mit philosophischem Gleichmut hinzunehmen. Wenn Sie aber, wofür ja mancherlei Anzeichen sprechen mögen, in der trefflichen Pflege der Ihnen anscheinend wirklich sehr treu ergebenen Nichte Ihr Herz entdeckt haben sollten und sie zu heiraten beabsichtigen –«

»Heiraten!« rief Breckenberger aufspringend und mit der Hand nach seinem Kopf greifend. »Heiraten –! Aber das ist ja ein Gedanke ... Oh, oh, oh!«

Sein Gegenüber schien durch die ganz unerwartete Heftigkeit dieser Einsprache erschreckt. »Aber der Gedanke liegt doch am Ende nicht so fern. Warum sollten Sie nicht heiraten, wenn eine passende Partie –«

»Das trauen Sie mir zu – Sie?«

»Es kann kein Mensch Ihnen lieber Gutes wünschen,« begütigte Frau von Torsten. »Und es kann ja sein, daß Adele wirklich eine Frau für Sie ist. Für das arme Mädchen würde es ein großes Glück bedeuten, wenn es so versorgt würde. Sie könnten sich zeitlebens des wärmsten Dankes versichert halten. Und wer hätte Ihnen dreinzureden? Offen gesagt, ich würde mich wundern, wenn ich Sie da wirklich auf eine ganz neue Fährte brächte.«

»Ich versichere Sie hoch und teuer, verehrteste Frau –«

»Nun gut, ich fordere keine Geständnisse. Mag dem sein, wie ihm wolle, ich halte mich freundschaftlich für verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie, wenn Sie dergleichen Absichten hätten, wirklich nichts Törichteres tun könnten, als Adele in Ihrem Hause als Wirtschafterin zu beschäftigen –«

»Aber –«

»– und daß Sie, wenn auch nur ein Schatten von Möglichkeit vorhanden sein sollte, der ketzerische Gedanke könnte am Ende doch künftig in Ihnen auftauchen, am klügsten schleunigst eine häusliche Gemeinschaft aufgeben, von der man doch nicht sagen soll, daß sie später nur den Namen geändert habe. Wer Sie lieb hat, muß so raten.«

Sie hatte sich feuerrot gesprochen. Breckenberger meinte aus ihren Worten, so wohlwollend ihr Inhalt schien, einen verärgerten Ton herauszuhören. Offenbar hatte sie längst jeden Satz überlegt und nur auf die Gelegenheit gewartet, ihn von Grund aus abzukanzeln. Er setzte sich nicht wieder, legte die Hände übereinander und wiegte unaufhörlich den Kopf. »Ei, ei, ei – ja, ja, ja.« Wenn er Adele zu heiraten beabsichtigte, oder auch nur künftig eine solche Absicht ... »Hm, hm, hm.« Das also war der eigentliche Grund ..., die Befürchtung vielleicht ..., das Wort kam ihm so in den Sinn. Nicht einmal das Wort, nur die unbestimmte Vorstellung, es handelte sich da um etwas Unerwünschtes. Erst nach einigen Minuten hatte er sich so weit innerlich beruhigt, daß er mit einem »schönen Dank für die gütigen Fingerzeige« Abschied nehmen konnte. Er wollte sich's überlegen. Es widerstand ihm, jetzt noch zu beteuern, daß man ihn ganz unschuldig in Verdacht habe, Torheiten zu begehen. »Grüßen Sie Wanda,« sagte er, schon im Flur. Daß er bei ihr anklopfen könnte, schien ihm nicht einzufallen.

Was die verehrte Frau ihn so eifrig als ihre freundschaftliche Meinung hatte wissen lassen, beschäftigte ihn ungewöhnlich auf dem Heimwege und dann in seinem Junggesellenstübchen. Sie hatte ihm so oft auf seine Bitte und auch ungebeten »ihre offene Meinung gesagt«, aber dann war der »gutgemeinte Rat« stets leicht humoristisch gefärbt gewesen, und er hatte sich lächelnd mit einem Handkuß dafür und manchmal auch »für gütige Straf'« bedanken können. Diesmal sprach sie erregt, fast als hätte sie eine Kränkung abzuwehren. Wenn sie wirklich recht hatte, die Empfindlichkeit war deshalb doch sehr überflüssig. Was er auch für Adele tat, ihr geschah dadurch kein Abbruch. Und unzweifelhaft verkannte sie ihn. Er wußte das ja am besten. Sie hielt es für denkbar, daß er in seinem Hause Heimlichkeiten berge und seinen Freunden zumute, darüber hinwegzusehen oder gar den deckenden Schild zu breiten! Das war eine Kränkung für ihn. Es mußte sich doch von selbst verstehen, daß die Sache genau so lag, wie er sie darstellte!

Und was Frau von Torsten denn schließlich von der Heirat gesprochen hatte – das ging ihm nun ganz besonders beunruhigend im Kopfe herum. Ja, daß Adele ihm gewissermaßen eine Frau ersetzte, das mochte er wohl gelegentlich einmal ausgesprochen haben. Aber daß er sie heiraten könnte, darauf war er noch nicht gefallen. Er wunderte sich jetzt, daß er darauf noch nicht gefallen war. Der Gedanke lag eigentlich so nahe. Er würde ihn wahrscheinlich längst selbst schon gehabt haben, wenn es ihm überhaupt als eine greifbare Möglichkeit erschienen wäre, daß er heiraten könnte. Und nun überlegte Frau Martha, seine beste Freundin, für ihn in allem Ernst ... Hm, vielleicht auch nur in der Meinung, ihn rechtzeitig vor einem gefährlichen Schritt warnen zu müssen. Aber war ein solcher Schritt wirklich so gefährlich? Hatte er nicht ausreichend Gelegenheit gehabt, seine Nichte kennen und schätzen zu lernen? Und wäre es nicht in seiner Lage Torheit gewesen, von einer Frau etwas anderes zu verlangen, als was Adele ihm bieten konnte?

Beim Abendessen sah er sie sich nun darauf an, ob sie ihm unter Umständen wohl etwas mehr werden könnte, als eine entfernte Verwandte und treue Wirtin. Er meinte, sie überhaupt bisher noch gar nicht recht angesehen zu haben. Sie war wirklich hübsch und hatte merkwürdig kluge Augen, mit denen sie schien in ihn hineinblicken zu können, um auch seine unausgesprochenen Wünsche abzulesen. Und das geschah gar nicht zudringlich, sondern aus der natürlichen Freundlichkeit ihres Wesens heraus. Es machte ihr offenbar Vergnügen, ihn in allem zufriedenzustellen, und es war ihr gewiß noch nie in den Sinn gekommen, daß sie dafür auf besonderen Dank zu rechnen hätte. Sie hatte ihm heute eine Gänseleber mit Apfelstücken gebraten, wofür er schwärmte. Er ruhte nicht, bis sie sich auch einen Teil auflegen ließ, um zu kosten, wie delikat ihr das Gericht geraten sei. Er nannte sie wiederholt »Delchen« und warf ihr so vergnügte Blicke zu, daß sie meinte, es müsse ihm etwas besonders Erfreuliches begegnet sein. »Im Gegenteil,« versicherte er, »im Gegenteil! Oder wie man's nehmen will ... Jedes Ding hat zwei Seiten, und wenn man's nur auf die rechte Seite kehrt ... Na! es läßt sich darüber noch nicht reden.«

Er redete auch darüber nicht weiter, sondern beschloß, durchaus nichts zu übereilen, vielmehr sich und Adele zu beobachten, ob sie beide wirklich die erforderlichen Eigenschaften für eine engere Verknüpfung ihrer Schicksale hätten. Es kamen ihm Zweifel, ob Adele ihn nicht auslachen würde, wenn er sich in den Liebhaber umwandelte. Mit seiner Person konnte er ihr doch wenig Eindruck machen, und so reich war er doch lange nicht, daß Gut und Geld sie verblenden mußte. Das wußte sie auch. Er hatte öfters mit ihr ganz offen über seine Verhältnisse gesprochen und ihr geklagt, daß seine Gutmütigkeit ihm fast schon zu schwere Verbindlichkeiten aufgeladen hätte. Warum sich an den alten Mann mit den vierzehn Patenkindern binden? Sich hier einen Korb zu holen, wäre ihm sehr ärgerlich gewesen.

So mußte er nun noch mehr als bis jetzt seine vielen freien Stunden in Adelens Gesellschaft verbringen. Nach einiger Zeit glaubte er sich das Geständnis schuldig zu sein, daß seine Liebe sich kaum noch steigern könne, und auf seiner Seite jedes Bedenken für erledigt gelten dürfe. Adele war die richtige und einzig mögliche Frau für ihn! Stand dies einmal bei ihm fest, so kam es nun nur noch darauf an, auch bei ihr die Überzeugung zu wecken, daß sie in der Ehe mit ihm glücklich werden könne. Das ging nicht so flink.

Daß er auf kein eiliges Entgegenkommen zu hoffen habe, hatte er schon eingesehen. Sie war immer gleichmäßig freundlich geblieben, hatte aber kein Verständnis für seine Zeichensprache bewiesen und ihn jedenfalls nicht aufgemuntert, sich deutlicher zu erklären.

Unter solchen Umständen lag ihm nichts ferner, als den Rat der Frau von Torsten zu befolgen und sich vorläufig von Adele zu trennen. Wenn er ganz unnütz den behaglichen Zustand störte, in dem er sich so wohlfühlte – das hätte er sich nie verzeihen können. Er fing an, ganz leichtsinnig zu denken. Was gehe es am Ende irgendeinen Menschen an, wenn er heirate? Wolle man ihn und Adele durchaus verdächtigen, so möge man doch tun, was man nicht lassen könne. Jeder sei seines Glückes Schmied, und wolle man ihm's nicht gönnen, wie er sich's schmiede, so dränge er ja auch seine Freundschaft niemand auf. Wozu Komödie spielen? Gerade seine Wirtschafterin werde er heiraten, damit alles nur so beim alten bleibe, gerade sie!

Da er nun so weit in seinen trotzigen Entschlüssen gekommen war, meinte er, auf sein Ziel gerade lossteuern zu können. Fast den ganzen Tag über war er nun zu Hause. Adele mußte mit ihrer Arbeit in seinem Zimmer sitzen. Er las ihr die Zeitungen vor, besprach mit ihr seine Angelegenheiten und spielte mit ihr Karten oder Domino. Er streichelte gelegentlich ihre Hand und ihre Wange oder bat sich ganz dreist für einen Veilchenstrauß, den er ihr mitbrachte, einen schönen Kuß aus. Ein ganz toller Eifer überkam ihn, Geschenke zu machen; Adele sollte sich immer durchaus etwas wünschen und mußte sich wegen ihrer Bescheidenheit ausschelten lassen. Er faßte sie bei den runden Schultern, oder legte, wenn er mit ihr durchs Zimmer ging, seinen Arm in den ihrigen oder zog sie bei zufälligem Vorbeigehen an sich heran. Die Courage freilich, mit dem Heiratsantrag herauszurücken, fand sich noch immer nicht.

Eines Tages, als er ihr gar ein seidenes Kleid mitgebracht und sie dann beim Kopf gekriegt hatte, schien ihr doch bange zu werden. »Ja, was ist das denn mit dir, Onkel?« sagte sie, ihn abwehrend, »ich werde seit einiger Zeit aus dir nicht mehr recht klug. Solche Geschenke macht man doch nicht einer armen Verwandten, auch wenn sie sich alle redliche Mühe gibt, eine Wohltat zu verdienen. Es freut mich ja auch, daß ich dir gefalle, und so spröde bin ich nicht, jede kleine Liebkosung streng abzuwehren. Aber wenn du's so treibst ... ja, was soll ich am Ende davon denken? So unmündig will ich mich nicht stellen, als merkte ich bei dir keine Veränderung. Ich möchte nicht gern in die Lage kommen, dir garstig zu erscheinen oder mir selbst garstig zu werden, und deshalb wird es nun doch bald das beste sein, wenn ich dich um meine Entlassung bitte.«

»Wa – wa – was?« stotterte er mit ganz entsetztem Gesicht. »Du könntest – mich – verlassen wollen, Delchen?«

Sie mußte lachen. »In aller Freundschaft natürlich, Onkelchen. Gerade weil sie nach meinem Wunsch nicht gestört werden soll, und damit ich dich immer in gutem Andenken behalten kann, möchte ich dir jetzt aus den Augen kommen. Nicht wahr, du wirst deine Hand nicht von mir abziehen?«

Sie streichelte ihm das Kinn und sah ihn bittend an.

Das brachte ihn nun um alle Fassung. »A – a – aber, Kind, das ist ja rein unmöglich,« sagte er in kläglichem Ton. »Ich dich – von mir lassen? Meine ganze Freude – meine Stütze und meinen Stab im Alter? Das hast du dir doch nicht gut überlegt, Delchen. Nachdem wir uns so gut miteinander eingelebt haben ... Nein, nein – unmöglich!«

»Es wird mir ja auch sehr schwer werden,« versicherte sie. »Denn ich kann es ja nirgend auf der Welt so gut haben, wie hier. Und gleichgültig ist mir's auch gar nicht, daß ich dich nun gegen mich so schwach sehe. Aber wer weiß, wozu die Eitelkeit mich noch verleiten könnte. Und das möchte ich dir nicht zu verantworten geben, weil ich dich wirklich liebhabe und hochachte. Laß mich also fort, und sei mir nicht böse, daß ich dich darum bitte.«

Sie reichte ihm die Hand zu. Er aber nahm sie nicht, sondern schüttelte nur immer den grauen Kopf. »Nein – du sollst nicht, du darfst nicht,« sagte er, wie vor sich hinsprechend. »Was soll ich denn ohne dich anfangen? Ich habe mich so an dich gewöhnt – und wirklich, es geht nicht. Es ist ja richtig, daß wir an so etwas damals nicht gedacht haben. Aber mit der Zeit ... Und warum es durchaus nicht sein soll, dafür weiß ich eigentlich keinen vernünftigen Grund. Auf meiner Seite wenigstens –«

»Aber lieber Onkel,« fiel Adele streng ein, »du mußt doch einsehen, daß ich recht habe. Wie kann ich bei dir bleiben, wenn solche Wünsche ... Und mit einem Wort: Dafür bin ich nicht zu haben.«

»Wofür, wofür?« rief er, den Kopf aufrichtend, als ob ihm jetzt auf einmal das Verständnis der Lage gekommen wäre. »Wofür, Delchen? Herr Gott, du wirst doch nicht glauben ... a – a – ah! so etwas! Aber wenn ich dir doch von Herzen gut bin, und du ... Ja, das weiß ich eben nicht, darüber wollt' ich mir erst Gewißheit schaffen. Du mußt nur denken, bei meinem Alter – und – und ...«

Er fing wieder merklich zu stottern an und blickte hilflos zu Adele hinüber, ob sie ihm nicht gefällig beispringen wolle. Sie verriet aber eine solche Absicht gar nicht, sondern sah ihn eher verwundert an und äußerte zögernd: »Ja, nun verstehe ich dich erst recht nicht, Onkelchen. Darüber hat dir doch gar kein Zweifel sein können, daß ich dich sehr liebhabe; und wie du dir auf diese Weise Gewißheit –«

»Ach, Onkelchen, immer Onkelchen!« unterbrach er eifernd. »Das ist's ja eben. Mit dem Onkelchen soll's nicht abgetan sein. Hier nicht. Und ob du ... Das ist's ja eben. Man springt doch nicht gern ins Blaue. Ich hoffe, nun wirst du begreifen.«

Es ist möglich, daß er recht vermutete; aber außer einem blitzartigen Aufleuchten ihrer klugen Augen gab sich in ihrer ganzen Haltung nichts zu erkennen. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und sagte leise: »Noch immer nicht.«

»Ja, dann –«, rief er ganz verzweifelt, »dann weiß ich eigentlich schon, woran ich bin, dann lohnt's kaum noch zu fragen. Ach! es ist ja auch Unsinn!« Er kehrte sich ab, ging rasch die paar Schritte bis zum Fenster und trommelte mit den Fingern auf der Scheibe.

Nun schien ein klein wenig Entgegenkommen doch wohl ratsam. »Ja, was wolltest du mich denn fragen?« ließ sie sich wispernd vernehmen.

»Natürlich, ob du meine Frau werden wolltest,« fuhr's ihm heraus. »Da ist's nun gesagt.«

»Deine Frau? Ach, Onkelchen ...« Sie lief auf ihn zu, umarmte ihn von hinten her, zog seinen Kopf herum und gab ihm einen schallenden Kuß. »Ist das denn dein Ernst?«

»Natürlich,« versicherte er, sie an den Händen herumziehend.

»Aber das will ich ja so gern, Onkelchen,« sagte sie und lehnte sich an seine Brust.

»Das willst du – so gern?« wiederholte er wie betäubt. »Ja – dann ist ja alles gut, bis auf das Onkelchen. Wenn du wirklich meine Frau werden willst –«

»Ich sag's kein einziges Mal mehr,« versicherte sie. »Ach – deine Frau soll ich werden! Das hab' ich mir ja gar nicht träumen lassen.« Sie fing vor Freude zu weinen an.

Dieser Tag verging in eitel Glück und Wonne. Breckenberger meinte, sich mit dreißig Jahren nicht so jung gefühlt zu haben. Nun sollte aber auch weiter keine Zeit verloren gehen. Der Heirat stand nichts im Wege, nur einige gesetzliche Formalitäten waren zu erfüllen; dafür konnte die kürzeste Frist bemessen werden. –

Am nächsten Morgen brachte ihm Adele mit dem Frühstück auch einen Brief. »Von Fräulein Wanda,« sagte sie, auf die ihr bekannte Handschrift der Adresse deutend.

Er hätte sich von dem Inhalt bereits unterrichtet haben können, zögerte aber, als ob irgend etwas Bedenkliches erwartet werden müsse. »So lies doch,« sagte Adele.

Er brachte etwas ungeschickt den kleinen Finger in den Umschlag und riß Stücke davon ab. »Ja – gleich ... Die kleine Person ... na! so ganz in Ordnung war das nicht. Ich wünschte nur ...«

»Was war nicht in Ordnung?«

Er hatte schon das zierliche Blättchen mit dem Vergißmeinnicht oben in der Ecke aufgeschlagen und antwortete nicht, rasch in die Lektüre vertieft. Er las:

»Lieber Herr Pate! Ich sollte eigentlich schreiben: Lieber Herr Vormund, denn den geht's wohl an. Aber ich habe doch, aufrichtig gesagt, zu dem lieben Herrn Paten mehr Vertrauen und wende mich deshalb an ihn mit der Bitte, bei dem Herrn Vormund ein gutes Wort einzulegen. Ich habe nämlich etwas zu beichten. Nicht eine Sünde, aber von Deinem Standpunkt aus gewiß einen großen Leichtsinn. Daß ich's nur mit einem Wort sage: ich habe mein Herz verschenkt –«

»Dacht' ich's doch!« rief er dazwischen.

»– ohne jeden Rückhalt und unwiderruflich, was gewiß sehr unbedacht war, da ich ja noch nicht einmal mündig bin. Auch ohne die Mama erst um Erlaubnis zu bitten, und zwar ganz absichtlich, da sie gewiß allerhand Bedenken gehabt und mich vielleicht gar erst an Dich gewiesen hätte.«

»Natürlich,« brummte er.

»Ich war aber meines Gefühls ganz sicher, bestes Onkelchen, und konnte da wirklich von niemand einen Rat annehmen. Denn mit der Liebe ist es so eine eigene Sache. Du magst mir das nicht nachempfinden können –«

»Oho!« fügte er ein, und warf einen Blick hinüber nach Adele, die ihn verwundert beobachtete.

»– aber Du bist ja auch kein junges Mädchen und hast gewiß niemals geliebt, was man so ernstlich lieben nennen kann –«

»Das weiß sie!« rief er.

»– und es ist ja auch nicht bei jedem gleich. Was ich tue, das tue ich ganz. Als er mich gefragt hat, ob ich ihm gut sei, habe ich daher auch nicht geantwortet: lieber Herr Leutnant –«

»Aha! Da haben wir's.«

»– sprechen Sie mit meiner Mutter oder mit meinem Herrn Vormund, sondern ich habe ihm gleich die ganze Wahrheit gesagt, was ihn natürlich sehr glücklich gemacht hat.«

»Natürlich!«

»Jetzt freilich ... Ja, nun ist mein Herz fort, und wiederbekommen kann ich's nur mit dem seinigen, und wenn mir das auch ganz sicher ist, so weiß ich's doch nicht, ob ich's vor aller Welt annehmen darf. Und darauf kommt es jetzt an. Denn daß man sich im stillen verlobt, ist zwar so weit wunderschön. Aber bei der süßen Heimlichkeit kann's doch nicht bleiben. Darum habe ich Berndt auch gleich gesagt, daß ich plaudere und alles in Ordnung zu bringen suche. Darauf ist er dann zur Mutter gegangen. Die scheint aber gar nicht sehr erfreut zu sein und meint, gegen Herrn von Stresow hätte sie eigentlich nichts, aber ... Und das Aber, siehst Du, kommt gar nicht recht heraus, das würdest Du mir wahrscheinlich auseinandersetzen. Deshalb schreibe ich nun an Dich. Das heißt, ich hätte auch ohnedies geschrieben, denn neulich hast Du wohl schon etwas gemerkt. Und ich weiß ja auch, daß Du mich sehr lieb hast, wie mich ein Vater nur liebhaben könnte. Bedenke also gütigst, ob wirklich so ein schreckhaftes Aber dahinter steht. Vor einem kleinen – zum Beispiel, daß wir noch eine Weile warten müßten – habe ich keine Angst. Unglücklich wirst Du mich ja nicht machen wollen, und das glaube nur zuversichtlich, daß ich für mein ganzes Leben unglücklich werden müßte, wenn ich ihn nicht bekäme. So fest sitzt es schon! Schreibe nicht, sondern komm' zu uns. Es erwartet Dich sehnsüchtigst, wie Du Dir wohl denken kannst, Deine treue und dankbare Pate Wanda.«

Den Schluß des Briefes hatte Breckenberger nicht mehr glossiert. Es dauerte lange, bis er damit fertig war; wahrscheinlich las er ihn mehrmals. Und dann klappte er das Blatt wieder zusammen, zog es wiederholt zwischen Daumen und Zeigefinger durch und reichte es endlich Adele mit einem etwas verdrießlichen »Na – lies selbst!« hinüber.

»Ich weiß nicht, weshalb das Fräulein so viele Worte verliert,« antwortete sie, nachdem sie den Inhalt überflogen hatte. »Wenn ein Offizier um ihre Hand anhält, dem sie gut ist –«

»Ja, eben ein Offizier.«

»Ist dir das für Wanda nicht genug? Er ist auch von Adel.«

»Jawohl, von Adel.«

»Du scheinst trotzdem bedenklich zu sein.«

»Herr Gott!« platzte Breckenberger ungewöhnlich derb heraus. »Er hat nichts, und sie hat nichts. Das ist doch schlimm genug!«

Er rückte seinen Stuhl näher zu ihr heran. »Bedenke doch, Delchen,« fuhr er etwas ruhiger fort, »ein Offizier! und einer vom alten Adel dazu! Was will der mit einer Frau ohne Geld? Viel Geld muß sie haben, sonst ist's ein Elend. Überhaupt unmöglich, ganz unmöglich!«

Adele entgegnete darauf nichts, überlas aber noch einmal den Brief. »Ach so –« sagte sie, den Kopf aufrichtend. »Und sie erwartet nun von dem Herrn Paten ...«

»Ich weiß nicht, was sie erwartet,« bemerkte Breckenberger. »Sie ist so ein Kindskopf ... Na, ich werde mit ihr sprechen –« Er zauste sein Schnurrbärtchen. »Ach! das kommt mir sehr in die Quere – sehr.«

Weiter ließ er sich darüber nicht aus. Aber wenn er sich im Laufe des Vormittags alle Mühe gab, seine Gedanken von diesem Gegenstand abzubringen, und Adele ihm dabei in liebenswürdigster Weise behilflich war, es schien nicht zu gelingen. Endlich sagte sie: »Geh doch nur gleich zu Frau von Torsten und sprich dich aus. Dir wird dann gewiß freier zumute sein. Du denkst ja doch nur an Wanda.«

»Das arme Ding tut mir so leid,« antwortete er. »Nach dem ganzen Inhalt des Briefes kann man doch nicht zweifeln, daß sie ihn liebt. Und es geht doch nicht – es geht wahrhaftig nicht.« Adele half ihm den Rock anziehen und bürstete ihm den Hut; als sie ihm an der Haustür den Stock reichte, bat sie ihn, recht aufzupassen, da es sehr glatt sei. »Was ich noch sagen wollte –« fügte sie an: »wenn du überzeugt bist, lieber Fritz, daß es nicht geht, sprich sofort das entscheidende Wort. Das ist auch für Fräulein Wanda so das beste.«

Breckenberger nickte, sah aber dabei nicht so aus, als ob er auf besonders energische Entschlüsse gestempelt sei. Auch auf dem ganzen Wege ging er mit gesenktem Kopf und in sich gekehrt – gar nicht wie ein glücklicher Bräutigam. Sein Lieblingspatchen kam ihm keinen Augenblick aus dem Sinn. Das arme Ding!

»Ja, was sagen Sie nun dazu, bester Freund,« sagte Frau von Torsten sogleich, nachdem sie ihn in den kleinen Salon geführt hatte. »Ich war so erschreckt! Sie können mir das gar nicht nachempfinden.«

»O doch – doch,« versicherte er, ihre Hand küssend, »doch! Sie sind die Mutter – und eine verständige Frau. Ich begreife nur nicht, daß Sie's so weit haben kommen lassen.«

»Mein Gott! wer konnte solche Unvernunft für möglich halten? Wanda hat schon so viele Verehrer gehabt, und es ist immer bei unschädlicher Galanterie verblieben. Ich glaubte ihr durchaus das Vertrauen schenken zu können, sie werde ihr Herz zu hüten wissen. Nun komme ich erst dahinter, was für eine leidenschaftliche Natur sie ist. Sie hat mir schon eine Szene gemacht –! Als ob ich mich ihrem Glück widersetze.«

»Aber was soll daraus werden, verehrteste Frau?« gab Breckenberger kleinlaut zu bedenken.

»Ja, was soll daraus werden?« wiederholte sie und wischte eine Träne von der Wange fort. »Das habe ich Wanda auch schon vorgestellt. Aber sie hat dafür gar kein Verständnis. Wie können zwei Menschen, die einander lieben, auch nach irgend etwas in der Welt sonst fragen? Ihr lieber Herr Pate werde schon Rat schaffen, meint sie leichtsinnig –«

»Ich – ich? Ja, wie denkt sie sich das?«

»Sie denkt sich's eben gar nicht. Die alte Gewohnheit, Ihre Güte unbegrenzt zu sehen ... Sie haben ja selbst nicht gewünscht, daß sie erfahre, wieviel sie Ihnen verdankt.«

»Aber –«

»Es versteht sich ja von selbst, daß der Herr Pate diesmal nicht helfen kann. Sagen Sie ihr's nur gerade heraus – mir glaubt sie's doch nicht.«

»Ja – hm – ja,« murmelte er, »das wird nötig sein – das wird unumgänglich nötig sein. Wenn es sich darum handelte, ihr eine Hochzeit auszurichten ...«

»Aber sprechen Sie doch davon gar nicht weiter,« bat Frau von Torsten. »Sagen Sie nur Wanda ganz ernst ... Da ist sie schon.«

Eben öffnete das Fräulein die Seitentür, eilte auf den alten Herrn zu und schüttelte ihm die Hände. »Hast du meinen Brief bekommen?« fragte sie.

»Freilich,« hüstelte er.

»Nun –? Und wann dürfen wir unsere Verlobung bekanntmachen?«

»Wann? Ich denke, es ist noch nicht einmal so gewiß –«

»Ganz gewiß, Onkel!« Sie legte die Hand aufs Herz und sah ihn mit großen Augen an.

»Da hören Sie's nun,« bemerkte Frau von Torsten.

»Aber, liebstes Kind –«

»Nein, nein, Onkelchen! Das schrieb ich dir auch schon: in meine Herzensangelegenheiten lasse ich mir nicht dreinreden. Wenn du als Vormund deine Genehmigung nicht gibst – so lange dauert's ja nicht mehr, bis ich großjährig bin, und dann tue ich doch, was ich muß. – Ach – sei doch so gut und laß es nicht auf eine so garstige Widersetzlichkeit ankommen! Du kannst doch auch gegen Berndt nichts haben, wenn ich dir versichere, daß er ein ganz prächtiger, lieber, durchaus zuverlässiger Mensch ist.«

Dabei klopfte sie ihm mit den kleinen weichen Händchen die Backen.

»Aber einen Leutnant kannst du doch nicht heiraten!« platzte er heraus.

»Warum nicht?« fragte sie herausfordernd. »Auch mein Vater war Offizier. Übrigens glaube nur nicht, daß ich mich in seine Uniform verliebt habe.«

»Herr von Stresow hat, soviel ich weiß, kein Vermögen.«

»Das behauptet er auch gar nicht. Ach, er ist so ehrlich!«

»Von seiner Leutnantsgage könnt ihr aber doch nicht leben.«

»Mama zieht gewiß zu uns. Dann ist im Haushalt doch eigentlich nur einer mehr ... Nicht wahr, Mama?«

Frau von Torsten entgegnete nichts darauf, warf aber Breckenberger einen hilflosen Blick zu.

»Und es braucht ja auch nicht sogleich zu sein,« fuhr Wanda eifrig fort. »Ein paar Jahre –«

»Das reicht lange nicht,« fiel er polternd ein. »Auch noch nicht nach zehn –«

»Ach –«

»Jawohl. Das ist alles Unsinn.«

Wanda fing an zu weinen. »Mein armes Kind,« sagte die Mutter, ihr das lockige Haar streichelnd.

Nun schluchzte sie heftig. »Ich weiß nicht, Onkel – wie du heute bist. Noch nie im Leben – hast du mir etwas – abgeschlagen – und jetzt, wo es einen Herzenswunsch gilt – bist du so grausam – und nennst alles Unsinn ...«

»Aber Mädchen,« begütete er aus einer milderen Tonart, »überleg's doch nur ein bißchen vernünftig. Ein Leutnant ist nun einmal darauf angewiesen, eine wohlhabende Frau zu heiraten, wenn er durchaus heiraten muß. Zu einem standesgemäßen Leben gehört –«

Wanda zog das Taschentuch von den verweinten Augen fort. »Nun sprichst du so! Und sonst hast du immer gesagt, ich sollte einmal deine Erbin sein –«

»Wanda!« rief Frau von Torsten.

»Ich habe doch recht. Hast du das nicht gesagt, Onkel? Weil ich doch dein liebstes Patenkind bin! Und in allem Ernst, nicht wahr?«

Der alte Herr schob verlegen die Füße abwechselnd unter den Stuhl. »Ja – allerdings – jawohl. So etwas mag ich wohl ... Aber ich lebe doch noch.«

Wanda sprang auf und fiel ihm um den Hals. »Ach, mein, liebes, gutes Onkelchen – denke doch nur nicht, daß ich so schlecht bin, dir auch nur einen einzigen Tag kürzen zu wollen. Aber was hilft mir's, wenn ich künftig einmal eine reiche Erbin bin und habe längst all mein Lebensglück verloren? Und du könntest so viel Freude davon haben, wenn du mich mit viel weniger schon bei deinen Lebzeiten furchtbar glücklich machtest! Ach, mein lieber, goldener Herr Pate –«

Sie kauerte neben ihm nieder und küßte seine Hand, litt auch nicht, daß er sie ihr entzog. »Na – na – na,« winkte er ab, »laß nur, laß –! Du bist wirklich ein rechtes Närrchen. So reich bin ich gar nicht ...«

Frau von Torsten trat hinzu, hob Wanda auf und sagte: »Du weißt gar nicht, was du sprichst. Belästige Herrn Breckenberger nicht weiter.«

»Nu, nu, belästigen ...« wendete derselbe ein, ohne Wanda jedoch zurückzuhalten. »Ich finde es ja ganz begreiflich, daß mein liebes Patchen auf mich gewisse Hoffnungen ... Ja wohl! begreiflich finde ich das schon. Und es tut mir auch aufrichtig leid, daß ich diesmal ... Aber Vernunft muß doch bei allem sein, nicht wahr? Und es sind auch noch besondere Umstände – hm, hm –, von denen ich im Augenblick nicht gut sprechen kann ...«

Wanda schluchzte heftig. Ihre Mutter führte sie ins Nebenzimmer und schloß die Tür, aber das laute Weinen blieb doch vernehmlich. »Man muß ihr Zeit lassen, sich zu beruhigen,« sagte sie. »Wenn Sie gütigst bedenken wollen, lieber Freund, daß es eine erste, echte Leidenschaft ist – da geht's ohne Sturm nicht ab, und er will austosen. Es werden nun recht schlimme Tage für mich kommen. Stehen Sie mir bei, sie zu überwinden.«

»Das will ich,« versicherte er, ihre kalte Hand drückend. »Gott, Sie wissen ja nicht, wie gern ich Wanda ... Nein wirklich! ich täte ihr gern den Gefallen. Ich kann mich aber doch nicht ganz derangieren. Das werden Sie einsehen. Und ich hoffe auch, es ist so ein Frühlingssturm, der bald vorüberbraust –«

»Nachdem er die Blüten abgerissen hat,« setzte Frau Martha seufzend hinzu. »Aber das ist nun nicht zu ändern.«

»Das ist – nun nicht – zu ändern,« wiederholte er sehr kleinlaut und dabei zur Erde blickend. »Dieser Herr von Stresow – ich habe kein Vertrauen zu ihm. Will mich aber doch noch erkundigen, vielleicht erfahre ich etwas, das Wanda schnell ernüchtert. Ich rechne darauf. Inzwischen sorgen Sie nur dafür, daß die jungen Leute einander nicht sehen. Bei so verliebtem Volk ... Es läßt sich gar nicht absehen, was für Dummheiten das geben kann. Verliert man doch selbst in gesetztem Alter einigermaßen das Gleichgewicht, wenn so eine Leidenschaft ... Na, ich will nichts weiter sagen. Vorsichtig, verehrteste Frau, vorsichtig!«

Er war mit sich wenig zufrieden, als er auf die Straße kam. Gar nicht energisch genug meinte er die Unmöglichkeit, helfen zu können, betont zu haben. Viel zu mitleidig hatte ihn Wanda gestimmt. Und warum benutzte er denn nicht diese sehr passende Gelegenheit, Frau von Torsten zu eröffnen, daß er selbst in den Stand der heiligen Ehe zu treten entschlossen sei? Dann wäre ja doch mit diesem einen Worte eigentlich alles gesagt gewesen. In jeder Minute wurde er mißgelaunter. Was sollte er Adele berichten? So oft er sich auch einwarf: es geht so beim besten Willen nicht – es ist ja Unsinn – Strich darunter! im nächsten Augenblick schon ertappte er seine Gedanken bei allerhand Kreuz- und Quersprüngen.

Er hatte versprochen, über den Leutnant von Stresow nähere Erkundigungen einzuziehen. Wenn er sich's recht überlegte, war er gar nicht darum gebeten worden. Es hatte eigentlich gar keinen rechten Sinn, daß er's tat, wenn er doch unter allen Umständen von dieser Partie nichts wissen wollte. Aber es zwang ihn, zu seiner moralischen Beruhigung irgend etwas zu tun. Für Wanda zu tun, wie er meinte. Und so hielt er sich selbst Wort.

Zu seiner unangenehmsten Überraschung erfuhr er dann aber nur das Allergünstigste. Stresow war einer der tüchtigsten von den jüngeren Offizieren des Regiments, berechtigte zu den besten Hoffnungen, erfreute sich bei den Kameraden großer Beliebtheit, galt für solide und hatte keine lockeren Liebschaften gehabt. Breckenberger machte sich den stillen Vorwurf, dem jungen Manne unrecht getan zu haben. Auch Wanda! Sie hatte eine gute Wahl getroffen – bis auf den einen Punkt. Und dieses Versehen war ihr doch kaum übelzunehmen. Was versteht so ein junges Ding, dem nie Sorgen nahe getreten sind, von den dummen Geldangelegenheiten!

Breckenberger wurde immer nachdenklicher und zerstreuter. Statt das Band, mit dem er sich an Adele geheftet hatte, fester anzuziehen, schien er sich eher Mühe zu geben, das Geschehene in Vergessenheit zu bringen. Von Fräulein von Torsten sprach er mit ihr gar nicht.

Es ging ihm im Kopf herum, ob es nicht seine Pflicht sei, als Wandas Vormund und Freund der Familie mit Herrn von Stresow zu sprechen. Der brave Offizier hatte doch wohl Anspruch darauf, freundschaftlich von der Unmöglichkeit einer Verbindung mit Wanda überzeugt zu werden. Damit war sicher auch bei dieser selbst viel gewonnen. Er beschloß, ihm ein Paar Zeilen zu schreiben und einen »geschäftlichen« Besuch anheimzustellen.

Leutnant von Stresow kam pünktlich. Er befand sich augenscheinlich in nervöser Aufregung und gab sich keine Mühe, sie zu verbergen. Breckenberger nötigte ihn, Platz zu nehmen. Er setzte sich auch, stand aber bald wieder auf, da der alte Herr den Fall etwas breit zu erörtern anfing. »Sagen Sie mir nur, was wir von Ihrer Seite zu erwarten haben,« bat er mit merklicher Hast. »Ich erfuhr durch Frau von Torsten, daß Sie Ihre Genehmigung zu Wandas Verlobung mit mir versagen. Indessen haben Sie Erkundigungen über meine Person eingezogen –«

»Die mich sehr beruhigen könnten, mein lieber Herr Leutnant,« fiel Breckenberger feuerrot ein. »Gestatten Sie mir nur die Frage, wie Sie sich die Zukunft eigentlich gedacht haben.«

»Ich liebe Wanda.«

»Das setze ich als selbstverständlich voraus. Weiter aber ... Sie besitzen kein Vermögen.«

»Nein.«

»Ihr Herr Vater –«

»Kann für mich nichts tun.«

»Und wußten Sie, daß Wanda ebenso unbemittelt ist?«

Herr von Stresow hielt eine kleine Weile die Antwort zurück. »Nein,« sagte er dann. »Ich habe allerdings wenig darüber nachgedacht, aber die ganze Lebenshaltung der Familie schien mir dies auch entbehrlich zu machen. Ich hielt Frau von Torsten gewiß nicht für reich, aber ich zweifelte nicht, daß sie ihrem einzigen Kinde, wenn auch vielleicht mit Opfern, die unerläßlichen Bedingungen für die Verbindung mit einem Offizier würde schaffen können. Wenn ich gewußt hätte, daß sie – es muß gesagt sein – daß sie von den Wohltaten eines Freundes ihres verstorbenen Mannes lebte –«

»Nun? dann würden Sie sich als ein kluger Mann in das hübsche und liebenswürdige, aber arme Fräulein nicht so voreilig verliebt haben.«

»Herr Breckenberger!« brauste der Leutnant auf. »Sie sind Wandas Vormund und Wohltäter, aber Sie haben nicht das Recht, mich zu beleidigen. Es hing nicht von meinem Willen ab, ob ich Wanda liebte oder nicht. Vom ersten Augenblick ab, als ich sie sah, war mir dies eine unumstößliche Gewißheit. Aber ich gebe zu, daß ich, wenn ich die näheren Verhältnisse gekannt hätte, mein Gefühl besser in Schranken zu halten bemüht gewesen wäre, daß ich Wanda meine Liebe nicht so offen zu verstehen gegeben, daß ich ihr kein Jawort abgefordert haben würde. Ich wäre lieber selbst tief unglücklich, als an des geliebten Mädchens Unglück schuld geworden.«

»Das ist brav gedacht,« murmelte Breckenberger, »das gefällt mir.« Er reichte ihm die Hand. »Aber gesprochen haben Sie nun einmal, und jetzt wissen Sie, wie die Sache steht. Da darf ich denn gewiß von Ihrer Ehrenhaftigkeit erwarten, daß Sie einen Schluß machen und Wanda das sehr unvorsichtig gegebene Wort zurückgeben werden, damit sie wieder zum Frieden mit sich selbst kommt.«

Der Offizier beugte sich erstaunt vor. »Aber Wanda liebt mich.«

»Wie? Sie wollten trotz alledem –«

»Gewiß.«

»Aber ...«

»Herr Breckenberger, ich werde mein Versprechen halten, nicht nur weil mir dies eine Ehrenpflicht ist, sondern weil ich es auch als tiefstes Herzenbedürfnis empfinde. Ich bin mit Leib und Seele Soldat, stamme aus einer alten Soldatenfamilie, werde der erste in ihr sein, der es nicht wenigstens zum Major bringt. Trotzdem und obgleich ich ein schweres Zerwürfnis mit meinem elterlichen Hause für unvermeidlich halte, werde ich nicht zögern, meiner Liebe ein Opfer zu bringen. Ich werde um meinen Abschied bitten und mir eine Lebensstellung gründen, die mir erlaubt, frei meiner Herzensneigung zu folgen.«

Der alte Herr nahm jedes seiner Worte mit wachsendem Erstaunen auf. »Herr Leutnant –« rief er, immer den Ton steigernd, »Sie wollten –? Aber das ist ja – Donnerwetter! ich muß sagen –«

Er ergriff wieder des jungen Mannes Hand und schüttelte sie kräftig. »Aber das ist doch mit der Gründung einer neuen Lebensstellung eine schwierige Sache,« fuhr er bedenklicher fort. »Darf ich Sie fragen – hm, hm –, wie Sie sich das etwa vorgestellt haben?«

»Man braucht verabschiedete Offiziere bei der Polizei, bei der Feuerwehr, beim Telegraphenamt, bei der Eisenbahn. Was sich da im besten Falle erreichen läßt, ist vielleicht nicht viel und fordert jedenfalls den Verzicht auf die gesellschaftliche Auszeichnung, deren sich jeder jüngste Leutnant zu erfreuen hat. Es fallen aber auch mancherlei Rücksichten auf den Stand fort, und einen Konsens zur Verheiratung habe ich mir nicht mehr zu erbitten.«

Breckenberger schien indes wieder sehr beunruhigt. »Und Sie glauben, daß Wanda mit dieser Veränderung – hm, hm ...«

»Wenn sie mich liebt!«

»Und Sie, Herr von Stresow, Sie selbst – werden Sie nicht nach einiger Zeit – wenn die jetzige Spannung nachgelassen hat, meine ich, werden Sie nicht bereuen, sich die Tür verschlossen zu haben?«

Der Leutnant zuckte die Achseln. »Das muß abgewartet werden.« Er richtete sich in den Schultern auf. »Und jedenfalls bleibt mir kein anderer Weg – das erleichtert mir sehr die Entscheidung.«

Breckenberger fühlte, daß die Unterredung damit ihr Ende erreicht hatte. Ein ganz unerwartetes Ende. Er hätte mit dem Ergebnisse zufrieden sein können, wenn er entschlossen war, das junge Paar sich selbst zu überlassen. Gleichwohl hielt er den Leutnant noch mit allerhand Fragen über seine persönlichen Verhältnisse zurück. »Sie werden Schulden gemacht haben – hm?« fragte er.

Herr von Stresow schien durch diese Frage unangenehm berührt. »Ich weiß nicht, mit welchem Recht –«

»Eine ganz freundschaftliche Erkundigung. Es könnte doch sein, daß jemand –«

»Nun gut denn, ich will auch hierin ganz aufrichtig sein. Man braucht als junger Offizier nicht gerade unsolide zu leben und nimmt doch mit der Zeit Verbindlichkeiten auf, deren Tilgung man einem Glücksfall überlassen muß. Ein Lotteriegewinn, eine unerwartete Erbschaft, eine reiche Heirat schweben als Nothelfer vor.« Er zog ein kleines Notizbuch vor, schlug es auf und reichte es Breckenberger zu. »Wenigstens können Sie sich überzeugen, daß ich über meine Schulden ganz ordnungsmäßig Rechnung führe.«

»Das ist schon immer etwas,« meinte der alte Herr. Er schien die einzelnen Posten sehr aufmerksam zu prüfen. »Na – ganz unbedeutend ist der Betrag nicht,« sagte er, das Büchelchen zurückgebend, »aber ich muß gestehen, daß ich Schlimmeres befürchtet hatte. Wenn nun gleichwohl kein Lotteriegewinn und keine unerwartete Erbschaft und auch keine reiche Heirat –«

»Die Gläubiger werden sich zu einem Arrangement verstehen müssen.«

»An dem Ihre neue Wirtschaft sofort krankt. Ah – ah – ah! Das Exempel stimmt immer weniger ...«

Der Leutnant erhob sich rasch und verabschiedete sich militärisch. »Ich habe Sie also als einen Gegner zu betrachten,« sagte er sehr kühl, »und werde meine weiteren Schritte danach einrichten. Empfehle mich.«

Breckenberger folgte ihm nach der Tür. »Wenn Sie mich durchaus verkennen wollen, lieber junger Freund –«

»Ersparen Sie sich alle solche Versicherungen, die für mich doch keinen Wert haben.«

»Aber Sie wissen nicht ... Herr des Himmels! so sehr eilt's doch nicht. Überlegen Sie ruhig – lassen Sie mir Zeit zur Überlegung. Ich mein's gut mit Ihnen! Es kann ja sein, daß mir etwas einfällt –«

»Darauf werde ich schwerlich warten können. Adieu!«

»Jedenfalls fordern Sie nicht eher Ihren Abschied, bis –«

»Adieu. Ich weiß, was ich zu tun und zu lassen habe.«

Er entfernte sich schnell, und Breckenberger blieb in jämmerlicher Stimmung zurück. Es war seine Absicht gewesen, entschieden durchzugreifen, und nun hatte er noch allerhand Verhandlungen, am Schluß sogar alle Mühe aufgewendet, den Leutnant zu überreden, daß noch Hoffnung sei. Wäre die ganze Geschichte nur ein paar Tage früher an ihn herangetreten – wer weiß, wozu er sich doch noch entschlossen hätte? Aber jetzt, nachdem er mit Adele gesprochen – da war doch in der Hauptsache gar nichts mehr zu bedenken. Daß er's trotzdem nicht lassen konnte! Er ward mit sich innerlich mehr und mehr unzufrieden.

Adele konnte nicht klug aus ihm werden. Es war als ob er ganz vergessen hätte, daß er Bräutigam sei. Er hielt sich in scheuer Entfernung von ihr, sprach wenig, wagte sie kaum anzusehen. So fremd hatten sie in der ersten Woche ihres Zusammenseins nicht gestanden. Auf ihre Frage, ob er krank sei, antwortete er nur mit einem mürrischen Kopfschütteln. Manchmal hörte sie ihn aber vom Nebenzimmer aus schmerzlich seufzen, und es entging ihr auch nicht, daß er ihr sehnsüchtige Blicke nachschickte, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Daß seine verdrießliche Stimmung mit Wandas heimlichem Verlöbnis zusammenhing, war klar, und daß die Sache ihren Fortgang hatte, bewies ihr der Besuch des Leutnants. Aber wie konnte dieser Zwischenfall ihren lieben Alten so außer sich bringen, und warum sprach er sich nicht einmal mit ihr darüber aus?

So vergingen einige recht unerquickliche Tage. Dann langte wieder ein Brief von Wanda an. Adele nahm ihn dem Briefträger ab und brachte ihn herein. »Rege dich nicht auf,« bat sie, ihm die Schulter streichelnd.

»Glaubst du ...« fragte er scheu.

»Ich weiß ja ungefähr, um was es sich handelt,« sagte sie und küßte seine kahle Stirn, die sich rasch gerötet hatte.

»Ungefähr,« murmelte er.

»Schenkst du mir so wenig Vertrauen –«

»Jetzt nicht; jetzt nicht,« brach er ab.

Adele entfernte sich traurig.

Der Brief lautete: »Lieber Onkel! Berndt hat mir nun auf meine dringende Bitte mitgeteilt, was ihr beide miteinander gesprochen habt. Er will seinen Abschied nehmen, um mir sein Wort halten zu können. Aber das leide ich nicht. Er ist aus Neigung Soldat geworden und taugt nur zum Offizier. In einem subalternen Posten müßte er sich bald sehr unglücklich fühlen, wenn er auch jetzt glaubt, daß meine Liebe ihm Kraft geben würde, jedes Mißgeschick zu überwinden. Ich habe nicht den Mut, mich auf die Probe zu stellen, ob ich einer solchen Aufgabe gewachsen sein würde. Wäre ich's nicht, käme alle Erkenntnis zu spät. Der Gedanke, mit ihm in den Tod zu gehen, hätte für mich nichts Schreckhaftes, aber vielleicht täglich und stündlich Zeuge sein zu sollen, wie er sich in widerwärtiger Arbeit abmüht, wie er gegen den Vorwurf ankämpft, ein hoffnungsreiches Leben durch eine unselige Leidenschaft zerstört zu haben – nein! das könnte ich nicht ertragen. Ich liebe ihn zu sehr! Darum habe ich ihm gesagt, daß ich nicht seine Frau werden kann. Er wollte den wahren Grund nicht gelten lassen, und so bin ich genötigt gewesen, mich recht häßlich zu machen, als hätte ich als ein rechtes Weltkind Furcht vor einer Ehe voll Sorgen und Einschränkungen. Das wird ihm, hoffe ich, die Entsagung erleichtern. Was ich selbst darunter leide – laß mich davon schweigen. Du kannst mir nichts davon abnehmen. Ich weiß jetzt, daß ich über meine Lage in einem schweren Irrtum befangen gewesen bin. Alles, was mich in heiterer Fülle umgab, ließ mich ja gar nicht einmal zu der Frage kommen, auf welchem Grund es ruhte. Du hattest nicht gewollt, daß ich's erführe, und die Mutter sah mich so gern unbefangen glücklich. Ich werde nicht heiraten, und deshalb ist's gut, wenn ich mir recht bald eine Stellung suche, die meine volle Tätigkeit in Anspruch nimmt und mich zu dummen Gedanken gar nicht kommen läßt. Eine Verwandte meines Vaters ist Vorsteherin in einem Diakonissenhause. Wenn Du's erlaubst, schreibe ich an sie und frage an, ob ich als Schwester aufgenommen werden könnte. Widersprich nicht; ich könnte mich doch davon nicht abbringen lassen. So – nun hab' ich abgeschlossen. Es war ein kurzer, aber sehr schöner Traum des Glückes. Die Erinnerung an ihn wird mich nicht verlassen, und so kann ich nicht ganz unglücklich werden, hoffe ich. Verzeih', daß ich Dich so kindisch mit unerfüllbaren Wünschen bestürmt habe – ich wußte nicht, was ich tat. Und sei für alles Gute, was Du mir getan, des herzlichsten Dankes versichert!

Wanda.«

Breckenberger waren die Augen feucht geworden. Lange ging er im Zimmer auf und ab, und immer sank ihm der Kopf auf die Brust. »Wer weiß, was sie noch für Tollheiten begehen,« murmelte er in sich hinein. »Das glaubt er ihr ja doch nicht, wenn er sie auch nur ein klein bißchen lieb hat – das nicht. Man braucht ihr ja nur in die lieben Augen zu sehen – und das hat er schon gründlich getan. Barmherzige Schwester –! Dummes Zeug. Aber sie wird sich's nicht ausreden lassen. Wenn's nicht gleich gestorben sein kann ... Na ja! sie sind beide jung – gerade in den Jahren, wo man das beste Recht hat, unverständig zu sein. Und nun des elenden Geldes wegen, und weil ich alter Knabe ...«

Er hatte die letzten Worte so laut gesprochen, daß er vor sich selbst erschrak. Und damit hatte der Monolog ein Ende. Nach einer Weile setzte er sich an den Schreibtisch, nahm sein Wirtschaftsbuch aus dem Fach, ließ den Finger über die Zahlenreihen gleiten und schrieb Notizen auf ein Stück Papier, das er dann wieder zerriß und in den Korb warf. »So und so geht's nicht,« rief er ärgerlich, »und so oder so ... ja, da steckt's. Wer soll heiraten?«

Er stand auf, zog den Pelz an und ging fort. Der Wind blies scharf und jagte ihm den aufgewirbelten Schnee ins Gesicht. Auf den Augenbrauen und dem Bart saß er bald in einer dichten Kruste fest. Es war kein Wetter zum Spazierengehen. Und doch schien er anfangs kein sicheres Ziel zu verfolgen. Nach einer guten Stunde erst mochte er so weit mit sich fertig geworden sein. Er kehrte plötzlich um und lenkte seine Schritte nach der Wohnung der Frau von Torsten.

Er fand sie sehr bekümmert. Wanda sei krank, liege zu Bett und fiebere stark. Der Arzt hätte bedenklich den Kopf geschüttelt. Wanda habe Herrn von Stresow einen Brief geschrieben, den er aber mündlich zu beantworten gekommen sei. Er habe sehr aufgeregt Wanda wegen ihres Kleinmuts Vorwürfe gemacht, von einer Trennung nichts wissen wollen und endlich in leidenschaftlicher Aufwallung gedroht, daß er sich erschießen werde, wenn sie ihn abweise. Darauf sei Wanda in einen Weinkrampf verfallen, der mit einer tiefen Ohnmacht geendet habe. Und nun sei sie wohl wieder bei Bewußtsein, liege aber mit gefalteten Händen und spreche kein Wort. In der Nacht werde bei ihr gewacht werden müssen.

»Glauben Sie denn, daß der Leutnant wirklich ...« fragte Breckenberger kreidebleich und brach ab.

»Es wäre schrecklich,« antwortete sie.

»Ah! junge Leute sprechen so etwas hin – es ist nicht ernst gemeint.«

»Hoffen wir. Er war in sehr verzweifelter Stimmung. Ach, lieber Freund, wenn ich an meinen Mann denke ...«

»Ja, ja. Der Fall lag freilich anders, aber immerhin –«

Sie drückte die Hände gegen die Stirn. »Wenn meine Tochter erleben müßte, was ich ...«

»Beruhigen Sie sich nur, beste Frau,« bat er. »Zum Totschießen ist doch auch noch kein rechter Grund. Wanda hat ja ganz verständig gehandelt – ich weiß es aus ihrem Brief an mich –, aber wenn er's durchaus so haben will, es ginge ja allenfalls auch so. Und auch anders ... Das letzte Wort ist doch eigentlich noch gar nicht gesprochen.«

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte Frau von Torsten.

»Das ist kein Wunder,« antwortete er. »Sehen Sie, ich selbst ... Na, sagen Sie Wanda, ich lasse sie grüßen, und es könnte ja alles noch gut werden. Sie möchte erst mal gesund werden, dann könnten wir weiter über die Sache reden. Vielleicht ... Ich will nichts versprechen, es hängt nicht mehr von mir allein ab, und ein Wort ist ein Wort; aber man weiß nie, was unverhofft der andere Tag bringt. Und dem Leutnant schreiben Sie ein paar Worte, er solle kein dummes Zeug machen und morgen oder übermorgen zu mir kommen. Ich hätte mit ihm zu reden. Wollen Sie? Was nicht auf der Stelle geschieht, geschieht oft gar nicht. Und das will ich mir auch merken.«

Er küßte ihr wiederholt die Hand und verabschiedete sich dann rasch, ohne ihren fragenden Blick zu beachten. Unten auf der Straße schlug er den Pelzkragen auf und zog den Kopf tief ein. »Ach,« seufzte er, »es hat nicht sein sollen. Aber schade ist's doch, recht schade.«

Adele half ihm im Flur den Pelz abziehen und klopfte die Schneeflocken vor der Flurtür ab; dann brachte sie ihm die Lampe ins Zimmer, stellte sie auf den Tisch, rückte ihm den Stuhl zurecht, holte die Zeitungen herbei und wollte sich entfernen.

»Delchen,« sagte er mit sehr weicher Stimme, »warte noch ein Weilchen. Da – setze dich zu mir.«

Sie blieb vor dem Tisch stehen. »Lieber Onkel ...«

Es durchzuckte ihn. »Lieber Onkel – ja – da sind wir wieder so weit. Ich hatte dich gebeten ... Du weißt es doch noch?«

»Gewiß. Aber wenn du finster und still für dich bist und mich gar nicht ermunterst, deine Bitte ernst zu nehmen ... Ich habe mir schon gedacht, es tue dir leid.«

»Was?«

»Das Ganze. Wenn du dich übereilt hast ...« Die Tränen rollten ihr über die Wangen.

Er verstand sie, ergriff ihre Hand und zog sie zu sich heran. »Ich habe mich nicht übereilt,« sagte er, »meine Gesinnung ist noch ganz dieselbe. Aber es ist unvermutet etwas dazwischengekommen. Und freilich, wenn ich das hätte mit in Betracht ziehen können – ich weiß nicht ...«

»Fräulein Wanda von Torsten,« sprach sie kopfnickend vor sich hin, »dein Patenkind.«

»Ja,« antwortete er, »Sie und ... Du hast ja den Brief gelesen.«

»Aber du sagtest sogleich, daß du ihr nicht helfen könntest.«

»Ja, leicht wäre mir's nicht geworden, für die Bedürfnisse eines solchen Haushaltes zu sorgen, selbst wenn Frau Martha sich entschlossen hätte, zu den Kindern zu ziehen. Aber ich hätt's am Ende möglich gemacht, wenn ich selbst ... Ich habe das Kind so lieb, als ob's mein eigenes wäre –! Und was braucht ein alter, einsamer Mann auch viel, wenn er sich einschränkt? Allenfalls hätt's reichen können.«

Die Tränen perlten in rascherer Folge. »Und nun meinst du ...«

Er streichelte ihre Hand. »Darüber ist leider kein Zweifel, Delchen. Wenn ich heirate, reicht's nicht. Ein bißchen völlig muß man doch rechnen, es kommen immer unvorhergesehene Ausgaben. Und wenn ich eine Frau habe – was kann ich ihr denn in meinen Jahren bieten, als ein angenehmes Haus und einen gewissen Wohlstand und reichliche Vergnüglichkeiten? besonders wenn sie so viel jünger ist als ich, und doch ihr Leben erst genießen will. Beides zugleich geht also nicht. Und da hab' ich denn in diesen Tagen hin und her überlegt ... Hm, hm.«

Ihre Hand zuckte. »War das wirklich nötig?«

Er blinzelte verlegen. »Das heißt, anfangs war ich mit mir ganz einig. Ich hatte mich nun einmal entschlossen, zu heiraten, und war so glücklich darüber, daß ich mir bei dir keinen Korb holte – du weißt ja, wie glücklich ich war. Nein, sagt' ich mir, das kann kein Mensch von mir verlangen, auch der liebste nicht. Erst hab' ich gegen mich Verpflichtungen! Und doch auch gegen dich. Dann aber ...«

Adele lächelte bitter. »Dann wurdest du schwach.«

»Ja, ich gesteh's, dann wurde ich schwach,« antwortete er, den Kopf senkend. »Wenn man an so einem Kinde von frühester Jugend ab Vaterstelle vertreten und bei ihm Hoffnungen erweckt hat und nun plötzlich von ihm die Hand abziehen soll – und wenn man sieht, wie ein tüchtiger Mensch aus seiner Bahn gerissen wird und auf Abwege kommt – so und so ... Das läßt sich doch nicht leicht abschütteln. Und dann auf der anderen Seite ein alter Junggeselle, der eigentlich mit dem Leben schon fertig sein könnte –«

»Das sollst du nicht sagen,« wendete Adele eifrig ein.

»Na ...« Er zuckte die Achseln. »Die Welt urteilt so. Und ob es vernünftig ist, in so späten Jahren nachzuholen, was zu rechter Zeit versäumt ist – darüber hat sie auch ihre Meinung. Ich will nur andeuten, daß da die Wage nicht gleichsteht. Und was dich betrifft, Delchen ... so närrisch verliebt in mich selbst bin ich doch nicht, daß ich mir einbilde, es wäre dir ein großer Schmerz, wenn aus dieser Heirat nichts würde. Was nach meinem Tode hinterbleiben wird, gehört dir ja doch, und wird immer genug noch sein, dich unabhängig zu stellen. Da dachte ich denn, wenn ich dir das zusicherte, würde ich dich bitten, dein freundliches Herz –«

Ihre Hand zog sich aus der seinigen. »Nein,« fiel sie ihm erregt ins Wort, »da kennst du mich schlecht. So ein freundliches Herz habe ich nicht, daß ich dem liebsten Menschen gefällig bin, sich selbst aus unzeitiger Gutmütigkeit zu schädigen. Es wird dir nicht gelingen, dich bei mir anzuschwärzen, als wärest du nur einer Laune gefolgt, als du mir deine Hand anbotest, und hättest eigentlich dem Schicksal zu danken, daß es dich auf gute Manier zur Vernunft brächte. Und ich ... Ja, das glaubst du doch in Wirklichkeit gar nicht, daß ich dir hätte mein Jawort geben können, wenn ich dir nicht mit ganzem Herzen zugehörte. Ein recht aufrichtiges Glück hat es mir bedeutet, eines so guten und rechtlichen Mannes Neigung gewonnen zu haben und sie freudig erwidern zu können. Und jetzt soll das auf beiden Seiten ein törichter Irrtum gewesen sein? Nein, lieber Alter, davon wirst du mich nicht überzeugen. Wenn du wieder frei sein willst, so läßt sich das ja in einem einzigen Wort aussprechen, und verstehen werde ich es gewiß, aber selbst löse ich das Band nicht, nach dem du dich gesehnt hast, darauf kannst du dich verlassen.«

Breckenberger schien diese Auseinandersetzung mit gemischten Gefühlen anzuhören. Auf seinem Gesicht wechselten Sonnenschein und Wolkenschatten wie auf einer Landschaft bei unzuverlässigem Wetter. Was Adele von ihm und von sich sagte, ging ihm warm bis an das alte und doch noch kräftig schlagende Herz. Und doch stieß es ihn wieder von der Brücke zurück, die er mit schwerer Mühe geschlagen hatte, um dieses Glück hinter sich zu lassen. »So – so – so,« sagte er, immer mit einer längeren Pause zwischen den kurzen Wörtchen, das so gewichtig klang und doch in Wirklichkeit kaum etwas anderes bedeutete, als ein schwächliches Auskunftsmittel, ihm über die eigentliche Herzensnot hinwegzuhelfen.

»Ganz im Gegenteil,« fuhr sie fort, »ich werde mir alle Mühe geben, dich zu überzeugen, daß du dir selbst diesmal denn doch unter allen Umständen die erste Rücksicht schuldig bist. Davon will ich nicht einmal sprechen, daß du mir dein Wort gegeben hast, bevor dies an dich herantrat. Aber was hast du für eine Verpflichtung, den größten Teil deines Vermögens mit warmer Hand an ein junges Mädchen zu verschenken, dem du zufällig der Herr Pate bist? Es mag sein, daß dir diese Menschen besonders teuer geworden sind. Hast du sie nicht auch schon mit Wohltaten überhäuft? Und sollst du aufhören, ihnen ein Wohltäter zu sein? Du bist Wanda väterlich zugetan; aber wenn du wirklich ihr Vater wärst, hättest du nicht allen Grund zu überlegen, ob du deiner Tochter die Verbindung mit einem Offizier gestatten könntest? Ich weiß es doch nicht anders, als daß in solchem Fall auch sehr gütige Väter vernünftigen Einspruch tun. Und hast du nicht noch mehr Patenkinder? Willst du dich diesem einen zuliebe außerstand setzen, ihnen die Unterstützung zukommen zu lassen, an die du sie schon gewöhnt hast? Verträgt sich das mit deinem guten Herzen? Ich will schon glauben, daß es für Wanda ein schwerer Kummer ist, sich von einem geliebten Manne trennen zu müssen; aber so tief ist es in dieser kurzen Zeit doch gewiß nicht gegangen, daß die Wunde nicht mehr vernarben könnte. Bei ihrer Jugend!«

Breckenberger atmete kurz. Eine Weile starrte er vor sich hin, dann hob er ruckweise den schweren Kopf, bis er ganz aufrecht saß. Und nun lehnte er sich in den Stuhl zurück und blickte seitwärts nach Adele, die sich mit der rechten Hand auf den Tisch stützte und kampfmutig auf ihn herabsah. »Du hast ganz recht,« sagte er, »so weit ... ja, das ist's eben – soweit du den Kreis der Dinge übersehen kannst. Aber da ist etwas – ich weiß nicht, ob es etwas ist, aber mir scheint es so – da hinten, ganz verborgen, niemand hat Kenntnis davon, als ich, selbst Frau Martha nicht. Und das ... siehst du, Delchen, darüber komm' ich nicht hinweg. Es mag töricht sein, ganz und gar töricht; aber wie ich nun einmal bin – darüber komm' ich nicht hinweg. Ich habe geglaubt, es ins Grab mitnehmen zu können, aber nun sehe ich wohl, daß ich schuldig bin zu sprechen. Du darfst mich nicht verkennen – du nicht. Es hat manchmal etwas Macht über uns ... eine bloße Einbildung vielleicht, eine Vorstellung, eine immer wache Erinnerung, der Schatten einer Tatsache, der einmal unser Gemüt verfinstert hat ... ich kann's nicht ausdrücken, aber es ist eine Macht, die uns bestimmt, und mit Gründen läßt sie sich gar nicht schwächen. So etwas ... Gut! ich will dir sagen, was davon gesagt werden kann.«

Das kam Adele völlig unerwartet. Blitzschnell zuckte es durch ihre Nerven: was kann es sein? Ihre Augenbrauen spannten sich, der Mund blieb halb geöffnet. Wie gehört das zu ihm – was kann es sein? »Onkel,« rief sie, wie plötzlich erleuchtet, »wäre dir Wanda wirklich mehr, als –«

»Nein, nein,« wehrte er rasch ab, indem er heftig mit dem Kopfe schüttelte. »Das ist's nicht. Aber du sollst doch wissen, daß ich vor länger als 20 Jahren jene Martha Elbeck aus tiefstem Herzensgrunde geliebt habe, die dann meines Freundes Weib wurde. Ich hatte vielleicht zu lange gezögert, mich ihr zu eröffnen, und als ich nun Torsten meinen Entschluß mitteilte, erfuhr ich, daß er dieselbe Flamme nährte und sich mit soldatischer Dreistigkeit bereits Marthas Neigung gesichert hatte. Torsten war mein Jugendfreund. Ich kannte ihn genau und wußte, daß er bei den liebenswürdigsten Anlagen und dem wärmsten Herzen ein leichtsinniger Wirt, ein leidenschaftlicher Spieler und unverbesserlicher Sportsmann war. Seine Verhältnisse befanden sich in traurigster Unordnung, wiederholt habe ich ihn den schlimmsten Verlegenheiten entzogen. Du kannst dir vorstellen, wie mich sein Geständnis erschütterte. Ich bot alles auf, ihn zu überzeugen, daß er Martha nur ins Unglück reißen könne, hielt nicht einmal den Zweifel zurück, ob er wirklich ehrliche Absichten mit dem schönen, aber ganz armen Mädchen habe. Das brachte ihn gegen mich auf. Er warf mir die Freundschaft zu Füßen und erklärte, daß er Martha, die er tausendmal mehr liebe als ich, zum Altar führen werde. Er hielt Wort – sie wurde Frau von Torsten.

»Ich zog mich zurück und mied jeden Verkehr im Hause des früheren Freundes. Auch er suchte längere Zeit in seinem Stolz, vielleicht auch in erklärlicher Eifersucht, keine Wiederannäherung. Erst als das Kind geboren war, und ihm sein häusliches Glück immer stärker zu befestigen schien, sprach auch in ihm das alte Freundschaftsgefühl so stark, daß er mir das Patenamt anbot. Ich hielt Wanda über die Taufe – das Kind der einst geliebten, noch immer verehrten Frau und des Freundes. Als die Zeremonie beendet war, und ich ihm Glück wünschte, zeigte er sich ungewöhnlich bewegt. Ich weiß wohl, sagte er, daß die Patenschaft den meisten Menschen nicht mehr viel bedeutet, aber dir soll sie diesmal eine ernste Pflicht aufgelegt haben. Ich werde Wanda nicht immer ein so guter Vater sein können, als ich möchte; ich bin ein sehr leichtsinniger Mensch – und du kannst recht gehabt haben, daß ich nicht hätte heiraten sollen. Nun suche ich die Folgen von Frau und Kind abzuwehren, aber es kann sein, daß meine Kraft plötzlich erlahmt oder irgendein böser Zufall mir alle Zirkel stört. Wenn es mir schlecht gehen sollte, nimm dich des kleinen Mädchens an um einen Gotteslohn. Willst du mir die Hand darauf geben? – Und darauf gab ich ihm die Hand. Das geschah nicht so leichthin. Ich kannte ja seine zerrütteten Verhältnisse, sah ihn nach wie vor bei Rennen und Wetten beteiligt und wußte, daß der Spieler nur durch fortgesetztes Spiel sich über Wasser halten konnte. Daß freilich ...« Er schluckte ängstlich und suchte die Kehle durch Husten frei zu machen. »Ich komme gleich zum Schluß. Eines Tages trat er bei mir ein und vertraute mir, daß es mit ihm zu Ende sei, wenn ich ihm nicht helfen wolle. Er nannte mir eine sehr große Summe, die auf Ehrenschein fällig sei. Er hatte die ganze Nacht mit sehr reichen Kavalieren gespielt, immer in der Hoffnung, daß ihm endlich das Glück hold sein werde. Die Karten hatten meist gegen ihn geschlagen. Und nun sagte er zu mir: wenn du mir nicht das Geld verschaffst, bleibt mir nichts übrig, als mich zu erschießen. – Was er von mir verlangte, war ungefähr das, was ich damals mein ganzes Vermögen nannte. Das wollte er mir nicht glauben, und wenn schon – ich sei sein einziger Rettungsanker, und er hätte gedacht, daß mich vielleicht Mutter und Kind erbarmten, wenn ich auch den Freund fallen lassen wollte. Übrigens könne er sich noch herausreißen und mir künftig gerecht werden, wenn er über diese Klippe hinwegkäme. Das hielt ich für Selbsttäuschung. Es war eine unsinnige Anforderung, nicht wahr? Mein ganzes Vermögen – und einem Manne, der offenbar schon jeden Halt verloren hatte, sich nicht mehr scheute, den Freund mit ins Verderben zu reißen. Ich überlegte kaum. Es schien unmöglich, im Ernst auf eine solche Hilfe gezählt sein zu können. Hätte es sich um einige tausend Taler gehandelt ... Es war nicht meine Art, das Geld auf die Straße zu werfen, und hier hätt's ungefähr denselben Nutzen geschafft. Und doch! Wäre ihm nach meiner Überzeugung zu helfen gewesen, kann sein, ich hätte mit ihm gleich und gleich geteilt. Ich weiß es nicht – ich bin nicht auf die Probe gestellt, denn er forderte so gut wie alles. Und so tat ich, was man in solchem Fall zu tun pflegt, wenn man die Hand in der Tasche behalten will: bedauerte, gab billigen Rat, er solle seinen Abschied nehmen, ins Ausland gehen. Du willst – also nicht –? sagte er und sah mich dabei mit wilden Augen, wie mir schien, verächtlich an. Und als ich schwieg und nur mit den Schultern eine Bewegung machte, die ausdrücken sollte: es geht nicht – da drehte er kurz um, zog eine Pistole aus der Tasche und jagte sich eine Kugel durch die Schläfe.«

Breckenbergers Stimme hatte einen zitternden Klang, während er die letzten Worte sprach, und dann schien sie ganz zu versagen. Das Kinn sank ihm auf die Brust, und der Rücken beugte sich so tief, daß der Kopf auf den Arm zu liegen kam, der sich auf den Tisch stützte. Adele war tief erschüttert, umfaßte ihn und suchte ihn aufzurichten. Sie lehnte ihn an ihre Brust.

»Es war das traurige Werk einer Sekunde,« fuhr er matt fort. »Der Tod trat sogleich ein – ich hatte nur noch die schmerzliche Aufgabe, die ahnungslose Frau zu benachrichtigen von dem Entsetzlichen, was – in meinem Hause – geschehen war. Den Jammer schildere ich nicht. Und die kleine Waise ... Als ich an das Bettchen trat und das Kind mir lachend seine Ärmchen entgegenstreckte – da war mir's, als ob mir etwas in der Brust springen müßte. Wie ein recht armseliger Sünder kam ich mir vor. Ich wagte gar nicht zu gestehen, daß ich dieses Furchtbare hätte abwenden können. Für alle Zeit, meinte ich, müßte ich Martha und dem Kinde verhaßt sein. Um des elenden Geldes willen! – Wenn ich die Tat jetzt hätte ungeschehen machen können, allen Besitz würde ich hingegeben haben. Gewiß und wahrhaftig! Aber sie war nicht ungeschehen zu machen. Und ich konnte mir nur geloben, der armen Witwe fortan ein Stütze zu sein und für das Kind wie ein Vater zu sorgen. Das gelobte ich mir, und bisher hab' ich dies Gelübde treu gehalten.«

»Du hattest dir nichts vorzuwerfen,« sagte Adele nach einer Weile, als er schweigend vor sich hinstarrte. »Auch der hilfreichste Freund würde nicht anders gehandelt haben. Und wärest du so töricht gewesen, ein solches Opfer zu bringen, wie Torsten es dir in der Verzweiflung zumutete, was hätte es dir genutzt? In kürzester Zeit wäre er wieder am Rande des Abgrundes gewesen, von dem du ihn dann nicht mehr fortziehen konntest, und du hättest dich nur um die Mittel gebracht gehabt, der armen Frau und dem unschuldigen Kinde ein Helfer in der Not zu sein.«

»Vielleicht –« antwortete er, »wahrscheinlich. Aber wer will mit Sicherheit voraussagen, was geschehen wäre, wenn das nicht geschehen wäre, was doch geschehen ist! Und wenn wir auch vernunftmäßig ganz überzeugt sind – der Eindruck des Entsetzlichen, was wir erleben müssen, ist doch nicht fortzuwischen; er bleibt mitbestimmend für alle weiteren Entschlüsse. Er hinderte mich, der Witwe meine Hand anzubieten, mich ihr auch nur mit den Gefühlen zu nähern, die vor ihrer Heirat in mir stark gewesen waren. Torsten stand zwischen uns, nicht der lebende, aber der tote. Als ob ich seinen Tod verschuldet hätte – des elenden Mammons wegen! Und jetzt ... Ich kann nicht über ihn hinweg, da handelt es sich nun um seiner Tochter Lebensglück. Und nichts steht ihm im Wege, als wieder dieses jämmerlichste Nichts, das doch leider im Leben so viel bedeutet. Ich kann helfen, wenn ich will – es kostet nicht einmal meinen ganzen Besitz – was übrig bleibt, reicht für mich aus ... Und da stutze ich und überlege und markte mit allerhand Gründen, und möchte mich freimachen von jeder Verbindlichkeit, die mir ein wirkliches Opfer auferlegt. Aber der tote Freund ... Adele! wenn du ihn mit meinen Augen da liegen sehen könntest, die rauchende Pistole in der Hand, blutüberströmt, die glasigen Augen weit offen ... Und wer sagt mir nun, daß Wanda den Schmerz überwinden und bald wieder gesund sein wird? Wer sagt mir, daß Stresow die Drohung, sich erschießen zu wollen, wenn Wanda ihm verloren ist, nie wahr machen wird? Es mag ja ganz richtig sein, daß ich nicht dafür verantwortlich bin. Aber wenn ich zwei junge Menschen zugrunde gehen lasse – wieder des elenden Mammons wegen ... Nie könnte ich meines Lebens froh werden. Es hat jeder ein Gewissen nach seiner Art. Und nun gar, wenn ich hartherzig wäre, um mir selbst zu schaffen, was ich ihnen versage ... Nein, Adele, das bring' ich nicht über mich. Nachdem du jetzt alles weißt, wirst du meine Bitte begreiflich finden.«

Sie verhielt sich wieder eine Weile schweigend. Die Hand hatte sie geschlossen aufs Herz gedrückt, die noch feuchten Augen blickten trotzig ins Weite, und die Lippe, in die sich die scharfen Zähne eindrückten, war blutleer, während sich auf der Wange ein roter Fleck abrandete. Wenn sie jetzt gesprochen hätte, ihre Worte wären bitter gewesen. Aber sie beherrschte sich. Und allmählich veränderte sich das Gesicht, wie sich die Stimmung veränderte. Der Kampfmut wich, die Ergebung trat an seine Stelle. Sie schien einzusehen, daß jeder Versuch, den lieben Alten auf andere Gedanken zu bringen, vergeblich oder gar sündhaft sein müsse. Und so sagte sie denn zuletzt ganz ruhig und nur ein wenig kühl: »Ich kann mich wohl in dich hineinversetzen, lieber Onkel, und begreife jetzt deine Sorge. Dir die Gewißheit geben, daß alles sich zum Guten wenden würde, wenn du fest bliebest, kann ich leider nicht. Es wäre unehrlich, wollte ich die Macht gebrauchen, die ich schon über dein Herz gewonnen zu haben glaubte. Deine Ruhe ist mir heilig. Und so tue ich denn jetzt, was ich vorhin meinte zu deinem Wohl verweigern zu müssen; ich trete zurück und gebe dir den Weg frei. Mache die Liebenden glücklich.«

Breckenberger seufzte schwer: »Und du zürnst mir nicht, Adele –?«

»Wie könnte ich das?« antwortete sie mild. »Ich bin nur traurig, daß du dir und mir weh tun mußt. Weher vielleicht, als du jetzt meinen magst. Denn daß wir beide, nachdem wir miteinander verlobt gewesen sind, nun nicht länger zusammenbleiben können –«

»Adele –!« rief er erschreckt.

»Aber das versteht sich für mein Empfinden doch ganz von selbst. Und auch du wirst bei ruhiger Überlegung nicht einmal wünschen können, daß es anders wäre. Wir können ja doch gute Freunde bleiben. Morgen, wenn es dir recht ist –«

»Ich kann dich nicht halten,« sagte er. »Gewiß – es versteht sich von selbst.«

Gute Nacht, lieber Onkel.«

»Gute Nacht.« –

Er schlief schlecht. Aber am nächsten Morgen hatte sich doch in seinen Entschließungen nichts geändert. Er frühstückte mit Adele, die schon ihre Sachen gepackt hatte, zum letztenmal und besprach mit ihr, daß er künftig den eigenen Haushalt ganz aufgeben und für sich eine Pension nehmen wolle. Es werde zwar nicht durchaus nötig sein, daß er sich so einschränke, aber Freude an seiner Häuslichkeit könne er doch nicht mehr haben, wenn sie ihm fehle, und so sei's besser, er gehe ganz in die Fremde. Sie mußte ein reichliches Zehrgeld »von dem alten Onkel« annehmen und ihm versprechen, auf einer Karte sogleich Anzeige zu machen, wo sie ein erstes Unterkommen gefunden hätte. »Und das vergiß nicht,« sagte er, »daß ich noch immer so viel habe, um dich unterstützen zu können. Wenn ich nicht fürchtete, daß du zu stolz wärst, Delchen ...« Er schluckte seine Rührung herunter.

»Ich werde nie zu stolz sein, mich in Not an meinen besten Freund zu wenden,« versicherte sie.

Dann gingen beide aus. Auf der Straße reichten sie einander die Hand zum Abschied, als trennten sie sich nur für ein paar flüchtige Stunden. Ihre Sachen werde sie holen lassen, sagte Adele schon mit halb abgewendetem Gesicht.

Breckenberger fühlte das Schwerste hinter sich. Er suchte die Wohnung des Leutnants auf, hörte, daß er im Dienst sei, und gab einen Brief ab, den er für diesen Fall schon ganz früh geschrieben hatte. Damit war er nun wieder einen guten Schritt weiter gekommen; jeder folgende war gegeben. Seine Stimmung erheiterte sich mehr und mehr, und als er bei Frau von Torsten eintrat, leuchteten ihm die alten Augen fast schon wieder in früherem Glanz.

»Na – wie geht's Wanda?« fragte er hastig. »Bestellen Sie ihr nur, daß sie gleich wieder gesund werden kann. Ich hab' ihr eine Medizin mitgebracht, die ihre treffliche Wirkung gar nicht verfehlen kann.«

Frau von Torsten legte die Hand auf den Mund. Er war so wunderlich aufgeregt und sprach ungewöhnlich laut. »Wanda ist trauriger, als Sie zu glauben scheinen, lieber Freund,« bemerkte sie ein wenig empfindlich.

»Ja, ja,« sagte er, ohne den Ton zu ändern, »aber ich kenne ja doch den Grund, und der ist jetzt beseitigt. Wahrhaftig, es ist so. Mit einem Wort: sie soll ihren Leutnant haben.«

»Herr Breckenberger –«

»Sie dürfen seinetwegen ganz ruhig sein. Ich war eben in seiner Wohnung, und nun hat er's ja auch gar nicht mehr nötig. Wie Sie mich ansehen! Als ob Sie fürchten, daß es mir im Kopf nicht ganz richtig wäre. Aber es freut mich nur so ... Herr Gott! es wird doch nicht mit Wandachen –«

»Sie ist wirklich recht krank.«

Er nahm ihre Hand, führte sie zu einem Sessel und setzte sich ihr gegenüber. »Bringen Sie ihr's nur vorsichtig bei,« sagte er nun ganz leise. »Ich habe mir's gründlich überdacht. Herr von Stresow ist ein sehr braver Mensch, und Wanda ist ein sehr braves Mädchen. Und wenn sie so ernstlich ineinander verliebt sind, und wir haben's dazu, sie glücklich zu machen, wär's doch eine rechte Sünde, zu knausern. Wanda ist mein liebes Patenkind und sollte einmal meine Erbin werden. Na – warum soll sie warten, bis ich gestorben bin. Nicht wahr, das ist Unsinn? Ich werde dafür sorgen, daß die beiden lieben Leutchen ganz anständig leben können. Damit sind Sie doch einverstanden?«

Frau von Torsten schien Mühe zu haben, sich in dieses ganz Unerwartete zu finden. »Aber wie dürfen wir Ihre Güte so über alles Maß in Anspruch nehmen?« sagte sie mit zitternder Stimme. »Wanda freilich ... Nein, ich muß für sie Vernunft haben. Sie dürfen sich selbst nicht so vergessen, liebster Freund. Und es gibt doch auch noch jemand, der Ihnen näher steht, als Wanda. Sie haben eine liebe Verwandte –«

»Davon sprechen Sie nur gar nicht,« bat er, schnell einfallend. Dabei zuckte es ihm um den Mund.

»Ich muß doch,« entgegnete sie. »Adele ist Ihnen sehr lieb geworden, und es schien mir wirklich so, daß Sie den stillen Wunsch hegten –«

»Es braucht Sie nicht weiter zu beunruhigen,« wies er sie scharf ab. Sein eben noch so freundliches Gesicht hatte einen finsteren Ausdruck angenommen. Es erhellte sich jedoch rasch wieder. Aufstehend sagte er: »Nein, glauben Sie mir nur, da ist kein Hindernis. Und nun denken Sie als gute Mutter einzig und allein an Ihr Kind. Nicht wahr, das ist Ihre Pflicht? Nichts weiter als das. Grüßen Sie die liebe Wanda herzlich von mir und lassen Sie mir bald gute Nachricht zukommen. Sie soll sich nur sputen, recht fix wieder gesund zu werden. Die Hochzeit kann dann jederzeit sein.«

Als er nach Hause kam, war's ihm, als ob er in eine Sterbewohnung eintreten sollte. Er ging in Adelens Stübchen, das er sonst nicht betreten hatte, und fand es leer. Auf dem Tische lag ein Zettel mit der Anzeige, wo sie sich vorläufig einquartiert habe, »damit er wisse, wohin er sie der Polizei abzumelden hätte.« Die Magd fragte, ob das Mittagessen aus einem Speisehause geholt werden solle. Sie möchte nur für sich sorgen, antwortete er, es sei seine Absicht, jetzt wieder auswärts zu essen. Er ließ aber die Stunde vorübergehen. Ihm war recht schlecht zumute. Abends begnügte er sich mit einer Tasse Tee und den Resten aus der Speisekammer.

Am anderen Tage schon fand Frau von Torsten selbst sich bei ihm ein, um ihm Bericht zu erstatten. Die erhoffte Wirkung sei eingetreten; Wanda habe eine sehr ruhige Nacht gehabt und wünsche heute nichts sehnlicher, als sich »dem goldenen Papa« mit ihrem Bräutigam recht bald vorstellen zu können. Darüber werde freilich noch gut eine Woche vergehen müssen, ein so trefflicher Arzt die Freude sei. Sie sehe so jämmerlich aus, daß Herr von Stresow nicht einmal zu ihr gelassen werden dürfe. Aber gestern sei er gleich nach Mittag dagewesen und habe glückstrahlend den Brief ins Krankenzimmer hineingeschickt, und heute hätten sie schon durch die halb offene Tür länger geplaudert, als es eigentlich erlaubt sein sollte. »Aber wo ist denn Adele?« fragte sie, nachdem sie eine Weile gesessen und offenbar auf ihr Eintreten gewartet hatte. »Ich möchte sie doch gern begrüßen.«

Breckenberger wurde rot. »Adele –« sagte er, mit den Mundwinkeln zuckend, »ja ..., die ist nicht mehr hier.«

»Schon ausgegangen?«

»Nein – überhaupt nicht ...«

»Wie? Sie haben sich von Adele getrennt?«

»Wenigstens ... Hm! Sie rieten ja selbst dazu.«

»Ich –? Aber ...« Sie sah ihn eindringlich an. »Wann ist das geschehen?«

»Gestern.«

»Gestern?« Sie schien den Zusammenhang zu begreifen. »Ich will nicht fürchten, liebster Freund ...«

»Ach nein! Es war auch wirklich so besser.«

»Das heißt, unter gewissen Voraussetzungen.«

»Setzen Sie nichts mehr voraus – gar nichts, wenn ich bitten darf.«

Er wollte dabei lächeln, als ob er auf eine scherzhafte Anspielung antwortete, aber plötzlich wurden ihm die Augen naß. Er wendete sich ab und hustete in die Hand.

»Wollen Sie nicht ganz aufrichtig gegen mich sein?« fragte Frau von Torsten nach kurzem Besinnen. »Ich täusche mich doch wohl nicht, daß Sie mit dem Gedanken umgingen, Adele zu heiraten.«

»Ach, man denkt flüchtig einmal an so etwas.«

»Flüchtig?«

»Na ...« Er rückte gepeinigt hin und her.

»Adele wußte doch davon?«

»Sie ist ein sehr vernünftiges Mädchen.«

»Und gestern –?« Sie nahm seine Hand. »Sie müssen mir alles sagen, lieber Freund. Ja, wenn Adele fortgegangen wäre, um als Ihre Frau wieder hier einzuziehen –«

Er schüttelte den Kopf.

»Vor allem,« bat er, »sagen Sie Wanda kein Wort von Ihrer Vermutung. Es möchte sie ganz unnütz beschweren. Die Sache ist wirklich völlig abgemacht.«

Das sagte er nun so ernst und bestimmt, daß Frau von Torsten wohl daran glauben mußte. Sie erkundigte sich nur noch nach der jetzigen Wohnung seiner Nichte, mit der sie gern in freundschaftlicher Beziehung bleiben wolle. Er gab ihr die gewünschte Auskunft, und sie entfernte sich mit wiederholten Danksagungen.

Als einige Tage darauf aber Breckenberger sich den Mut zutraute, Adele wiedersehen zu können, und in dem bezeichneten Hause nach ihr fragte, erfuhr er zu seiner äußersten Verwunderung, daß sie sich nur kurze Zeit dort aufgehalten habe. Sie hätte erklärt, Berlin ganz zu verlassen und nach ihrer Heimat abreisen zu wollen. Es stieg in ihm der Verdacht auf, daß Frau von Torsten sie beeinflußt haben möchte. Er begab sich sogleich zu ihr, fand sie aber ganz unbefangen.

Breckenberger sah nun auch Wanda, deren Wangen sich wieder zu röten anfingen, und wurde von ihr mit Liebkosungen überhäuft. Sie wolle auch recht knapp wirtschaften, versicherte sie, damit sie gut auskämen. »Das möcht' ich dir auch raten,« sagte er lächelnd, »denn wegen der Erbschaft bist du nun abgefunden.«

Der Leutnant war schon bei ihm gewesen, seinen Dank auszusprechen, und nach einer Woche galt die erste Visite des Brautpaares ihm. Tages zuvor waren die Karten versendet.

Wegen der Hochzeit hatten sie gar keine Eile. Wenn er es wünsche, könnte sie auch ein paar Jahre hinausgeschoben werden. Aber der Herr Pate meinte, ein langer Brautstand sei nicht wünschenswert, und er wolle die Freude haben, sie recht bald in den sicheren Hafen der Ehe einlaufen zu sehen. Sechs Monate seien die äußerste Frist, die er zugestehen wolle.

Es wurden dann fünf Monate daraus, damit vor den Manövervorbereitungen noch Zeit zu einer netten Hochzeitsreise bleibe.

Indessen ordnete Breckenberger nun in Erwartung des frohen Ereignisses seine Verhältnisse. Er verkaufte seinen Grundbesitz und ließ für sich Hypotheken eintragen, die er dann bei einem Notar an Wanda abtrat. Auch sonst wendete er ihr den sichersten Teil seines Vermögens zu. Dann bereitete er das Erforderliche vor, seine eigene Wirtschaft auflösen zu können. Er wollte sich irgendwo einen kleinen, gelegenen Ort aufsuchen, wo er in aller Ruhe seine letzten Jahre verbringen könne. Berlin sei ihm schon viel zu geräuschvoll. Was er für sich übrig behielt, erfuhr niemand. Frau von Torsten durfte nicht zweifeln, daß er noch immer recht wohlhabend sei.

Dieser Annahme entsprechend, richtete er denn auch die Hochzeit aus. Obschon man bei den Einladungen die Grenzen möglichst enge zog, fand sich am Hochzeitstage doch erst in der Kirche und dann in dem ganz in einen Blumengarten umgewandelten Saale eines vornehmen Hotels, eine zahlreiche Gesellschaft von Gästen, Verwandten beider Teile, hohen Offizieren und Kameraden des Bräutigams, Freundinnen der glücklichen Braut zusammen. Breckenberger hatte in seinem langen Junggesellenleben Erfahrungen gesammelt, wie solchen Festen behagliche Vornehmheit zu geben. Kein übermäßig langer Speisezettel, aber ein paar ausgezeichnete Gänge, und dazwischen eine ganz feine Marke Wein, wie sie nur der Kenner auszuwählen und an den richtigen Platz zu stellen vermochte, Blumen und Früchte in reizvoller Abwechslung und in durchweg musterhafter Auswahl. Er saß neben Frau Torsten und schien sehr glücklich zu sein, daß alles so gut gelang. Natürlich wurde auch auf den »Herrn Paten« getoastet, und er erwiderte dann humoristisch mit einem Hoch auf sein »liebstes Patenkind«, das er nun mit wehmütiger Freude und mehr noch freudiger Wehmut seiner Obhut entlasse, wofür er von Wanda durch einen herzlichen Kuß statt der Dankrede belohnt wurde.

Dann gegen Abend entfernte sich das junge Paar, um rechtzeitig zur Bahn zu kommen. Breckenberger hatte sich's ausgebeten, benachrichtigt zu werden, sobald der Wagen bereit sei. Beim Abschied steckte er Herrn von Stresow ein gefülltes Kuvert in die Brusttasche seines Überrocks. »Amüsiert Euch gut,« sagte er, »und nachher recht vernünftig sein. Vorwärts, Kutscher!« Er reichte ihm noch ein Trinkgeld auf den Bock. Und dann bot er Frau Martha den Arm und führte sie in den Saal zurück. »Na, ich denke, es war alles recht anständig,« bemerkte er vergnügt.

Er hielt dann bei ihr stand, bis die letzten Gäste aufgebrochen waren. Als Frau von Torsten sich ebenfalls zur Abfahrt anschickte, sagte er zu ihr: »Lassen Sie mich hier gleich von Ihnen Abschied nehmen, verehrte Frau. Es geht so in einem hin.«

»Abschied?« fragte sie verwundert, denn sie sah es seinem Gesicht an, daß etwas anderes gemeint sein sollte, als das übliche Adieu. »Ich kann Sie doch in den nächsten Tagen bei mir erwarten?«

Er schüttelte den Kopf jetzt auffallend schwermütig. »Erwarten Sie mich nicht. Ich bin hier fertig und will zusehen, was ich anderswo mit mir anfange. Viel wird's nicht mehr sein, aber man muß sich doch verbrauchen. Jedenfalls bleibe ich längere Zeit fort, bis erst alle Fäden so gründlich abgerissen sind, daß an den Versuch des Zusammenknüpfens gar nicht mehr zu denken ist. Der Herr Pate hat nun seine Schuldigkeit getan und kann von der Bühne abtreten. Was von ihm übrigbleibt, wenn seine Spezialität nicht mehr mitspricht, ist ein so unbedeutendes Nichts, daß es sich am besten der Beachtung früherer Freunde und Lebensgenossen gänzlich entzieht.« Er drückte ihre Hand. »Nein, sprechen Sie mir gar nicht dagegen. Ich bin gewillt –« er lächelte dabei, »zwar nicht ein Bösewicht, aber ein Sonderling zu werden. Dergleichen Leute sind unbequem, und ich bliebe gern den wenigen, die ich liebhabe, in gutem Andenken. Ihnen zumal! Darum leben Sie wohl – vielleicht auf Nimmerwiedersehen.«

Frau von Torsten hielt seine Hand fest. »Sie denken sich's im Augenblick so,« sagte sie, »und ich weiß wohl, daß man da auch mit Engelszungen vergeblich einredet. Morgen aber – oder übermorgen meinetwegen – werden Sie merken, daß Sie von sich gar nicht loskönnen, und dann hoffe ich die erste zu sein, die den alten Freund begrüßen darf.«

Da er hierauf nicht antwortete, ging sie einige Schritte, von ihm begleitet, der Tür zu, blieb dann aber nochmals stehen. »Für alle Fälle möchte ich doch nicht verschweigen,« sagte sie leise und mit nicht ganz sicherer Stimme, »daß ich gewünscht hatte, Ihnen heute eine besondere Freude bereiten zu können. Es ist mir leider nicht gelungen. Es war mir geglückt, Adelens Aufenthalt in ihrer Heimat zu ermitteln. Ich hatte sie zur Hochzeit eingeladen, und der eingeschriebene Brief muß sie erreicht haben. Sie ist aber nicht gekommen und hat auch nichts von sich hören lassen.«

Diese Mitteilung überraschte ihn sichtlich; es war nicht sogleich zu entscheiden, ob angenehm oder unangenehm. Erst als Frau von Torsten ihren Weg fortsetzte, bückte er sich tief und küßte ihre Hand. »Dank – Dank!« murmelte er, »ich wußte – ich wußte – Sie sind gut.«

Nachdem er sie in den Wagen gehoben hatte, kehrte er nochmals ins Hotel zurück und ging ins Bureau, um abzurechnen. Er hatte schon am Morgen verlangt, daß alles dazu bereit sei. Es wäre ihm am liebsten so, sagte er, wenn er das Geld gleich los würde und hinterher keine Weiterungen mehr hätte.

Dann begab er sich nach Hause. Es war ein sehr schöner Sommerabend, der Tag nicht zu heiß gewesen, und jetzt die frische Luft nach dem langen Aufenthalt in den geschlossenen Räumen recht erquicklich. Auf mancherlei Umwegen schlenderte er, den Hut in der Hand und den leichten Überzieher auf dem Arm, durch die Straßen. Die Stirn war ihm warm, der feurige Rheinwein zuckte in den Adern. Es war ihm, als ob er noch immer das wirre Durcheinander der Stimmen an der Hochzeitstafel, das Klappern der Teller, das Klingen der Gläser hörte. Wenn er wollte, sah er ganz deutlich das junge Paar mit den glückstrahlenden Gesichtern. Wo sie jetzt wohl sein möchten, dachte er. Ob sie ein Coupé für sich allein bekommen hätten? Wo sie die erste Rast machen würden? Gewiß nicht weit. Er meinte, mit sich zufrieden sein zu können. Es war ein hübscher Abschluß. Und niemand ahnte, was er für ihn bedeutete. »Strich darunter!« Er war fertig mit allem.

Es dunkelte schon, als er auf sein Haus zuschritt. Ohne bestimmte Absicht blickte er zu seinen Fenstern hinauf und bemerkte zu seiner nicht geringen Verwunderung dahinter Licht. Sollte sich die Aufwärterin noch so spät da zu schaffen machen? Es gab für sie gar nichts zu tun. Oder spiegelte sich nur der Mond –? Nein, der stand hoch über dem Hause. Und so viel getrunken hatte er doch wahrlich nicht ...

Er fand sein Zimmer unverschlossen. Als er eintrat, erhob sich jemand von seinem Lehnstuhl am Schreibtisch. »Adele –!« rief er und ließ Rock und Hut Zur Erde fallen.

»Erschrick nur nicht – ich bin's wirklich,« sagte sie, seine Hände fassend. »Und ich warte schon eine gute Weile auf dich. Wer konnte sich auch vorstellen, daß das Diner so lange dauern würde.«

»Aber wenn du hier warst, warum kamst du nicht –«

»Ach nein! Frau von Torsten hatte mich freundlich eingeladen – doch wohl in der Hoffnung, daß ich nicht kommen würde.«

»Du darfst überzeugt sein –«

»Gut, gut! es war sehr freundlich. Ich passe doch da nicht hinein, hätte euch nur Verlegenheiten bereitet. Und meine Garderobe ist auch nicht –«

»Wenn du mir eine Zeile geschrieben hättest, Adele ...«

»Das hätte ich mir nie verzeihen können.«

»Aber sage mir doch nur –« Er schlug in die Hände, faßte sie an den Schultern und drehte sich mit ihr herum, bis das Lampenlicht ihr Gesicht voll beleuchtete. »Wo kommst du denn her? Und heute gerade ... Nein, ist das eine unverhoffte Freude!«

»Dein Gast wollte ich doch sein,« antwortete sie, »wenn auch nicht dort. Ganz allein mußte ich dich für mich haben. Ich war Frau von Torsten sehr dankbar, daß sie mir den Hochzeitstag angezeigt hatte. Denn den wollte ich ja nur abwarten ... Aber setze dich und trinke eine Tasse Tee. Sie wird dir nach der heutigen Ausschweifung wohltun.«

Erst jetzt gab er darauf acht, daß der Tisch gedeckt stand, wie sonst, und die Teekanne darauf dampfte. Eine Serviette war herumgelegt. Sie führte ihn zu seinem Stuhl und setzte sich ihm gegenüber. »Hungrig wirst du nicht sein. Aber ich habe nach der Reise guten Appetit. Erlaube, daß ich zugreife.«

Es war ihm noch immer wie im Traum. Und so starrte er sie denn auch an, als ob sie im nächsten Augenblick wieder in die Luft zerfließen müsse. Wie hübsch sie aussah in ihrem einfachen hellen Sommerkleide, das faltig um den Hals schloß. Als einzigen Schmuck trug sie ein Kettchen mit angehängter Kapsel, das er ihr zum Geburtstage geschenkt hatte, und er wußte, daß sein Bild eingeschlossen war. Sie reichte ihm die Tasse zu, und er streifte ihre warme Hand. »Wie komisch du bist,« sagte sie.

»Nicht wahr?« antwortete er. »Aber es ist auch alles so sonderbar ... Bist du denn wirklich solange fort gewesen – und ich hab's ohne dich aushalten können? Und jetzt –«

»Jetzt kann ich doch wieder bei dir bleiben?« fragte sie neckisch.

»Ja, heut und morgen ...« sagte er ganz verwirrt. »Wenn es dich nicht geniert ... Ja so. Du weißt nicht, daß ich selbst ausziehe – in allernächster Zeit, Delchen. Was sollte ich mit der großen Wohnung – in meinen jetzigen Verhältnissen? Hab' ich recht?«

»Vollkommen. Aber du wirst doch irgendwo sonst bleiben müssen.«

Er schien zu zweifeln, ob er sie verstehen dürfe, und doch nichts sehnlicher zu wünschen. »Und du wolltest –«

»Das hängt freilich von dir ab.«

»Von mir? Was?« Das Gesicht fing ihm an zu glühen. »Es war freilich meine Absicht, mich ganz klein einzurichten.«

»Aber um so mehr wirst du jemand brauchen, der dich ein bißchen bemuttert. Sonst ist's zu ungemütlich.«

Er streckte zaghaft die Hand aus. »Ja, wenn du ...«

»Fortgegangen bin ich, freilich,« fuhr sie lächelnd fort, »und mit gutem Grund. Ganz aus den Augen mußte ich dir kommen, damit du nicht dächtest, ich wollte nur Zeit und Gelegenheit abpassen, dich wieder von deinem Entschluß abzubringen. Denn ich wußte wohl, daß er dir schwer geworden war, weil er deine eigenen Wünsche beiseite schieben mußte, und daß ihre Erfüllung dir doch keine Befriedigung schaffen könnte, wenn du nicht dein Gewissen völlig beruhigtest. Deshalb habe ich in der Ferne abgewartet, bis die Hochzeit gefeiert sein würde. Dann war alles, was du für das junge Paar tun wolltest, unwiderruflich geworden, und du hattest dich dann gar nicht mehr zu beschweren, wenn du dich etwa fragtest, was ich dir noch sein könnte. Verlassen wollte ich dich nur, um zur rechten Zeit wiederzukommen. Und da bin ich nun. Schickst du mich fort, so muß ich's hinnehmen. Erlaubst du mir aber zu bleiben, so wirst du dich jetzt nicht mehr mit Gedanken plagen, daß ich mich in dem täuschen konnte, was du mir zu bieten hast. Und nun entscheide über mich!«

»Du bist gut,« rief er, »du bist engelgut, ich verdien's gar nicht um dich. Aber wie darf ich dich bitten, bei mir zu bleiben, wenn ich künftig nur zwei Stübchen zu meiner Verfügung habe. In solcher Enge ... Das ist doch unmöglich, nicht wahr? Es sei denn ...« Er stockte und blickte hilfebedürftig zu ihr hinüber.

»Es sei denn –?« wiederholte sie herausfordernd.

»Ach, das kann ich ja gar nicht sagen, Delchen,« versicherte er, indem er ihre Hand wie begütigend streichelte.

»So wird mir wohl nichts übrig bleiben, als es zu raten,« bemerkte sie. »Rate ich falsch, so werde ich die Beschämung haben. Aber auf die Gefahr hin! Du hast mich einmal zur Frau haben wollen.«

»Ja, ja!«

»Und für Mann und Frau wären allenfalls auch zwei Stübchen ausreichend.«

»Unter Umständen, Delchen, unter Umständen.«

»Das heißt, wenn die Frau damit vorliebnimmt und sich auch in allem übrigen so bescheiden einzurichten versteht, wie es zu den beiden Stübchen paßt.«

»Das meine ich – ja, ja – das meine ich.«

»Und wenn ich dir nun sage, daß ich ganz zufrieden damit wäre und mir die allergrößte Mühe geben würde –«

Nun hielt's ihn aber auf dem Stuhl nicht länger. Er sprang auf und schloß Adele in seine Arme. »Ja, dann, dann –« rief er, »dann ist ja alles wieder gut und tausendmal schöner, als es je gewesen ist. Wenn du aus reiner himmlischer Güte einen alten Mann nehmen willst, der seine Frau nicht einmal in Gold fassen kann ... Herr Gott! Das ist fast zu viel Glück für meinen schwachen Verstand.«

»Aber gewiß nicht für dein gutes Herz,« antwortete sie und bot ihm den Mund zum Kusse. –

Anderen Tages ging Breckenberger aufs Standesamt, die Trauung zu bestellen. In der kürzesten Frist fand er sich dort mit Adelen ein, den Ehebund zu besiegeln. Nur Frau von Torsten wußte darum, und sie war auch der einzige Hochzeitsgast.

Breckenberger beschenkte an diesem Tage alle seine Patenkinder, und jedem schrieb er einen Abschiedsbrief, in dem er anzeigte, daß er verreise und wahrscheinlich nie mehr zurückkehren werde.

Er war nämlich mit Adele übereingekommen, daß sie die beiden Stübchen irgendwo an einem kleinen hübsch gelegenen Ort mieten wollten, wo sie in stiller Zurückgezogenheit ganz für sich leben könnten. Den wollten sie auf ihrer Hochzeitsreise aufsuchen. Ehe Berndt und Wanda von der ihrigen heimkehrten, hatten sie schon die Stadt verlassen.

Ob Breckenberger sein Wort halten und nie wieder ein Patenamt übernehmen wird –?


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