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Der Narr im Schiefer.
Novelle von Arthur Achleitner

In dem abgelegenen Bergwinkel, »Schiefer« genannt nach der Gesteinsformation, dunkelte es, der Lusnerhof stand bereits im tiefen Schatten. Auf den hochgelegenen Matten aber war es noch ziemlich hell, und die Zinnen der gewaltigen Granitberge leuchteten rot im letzten Strahle der sinkenden Sonne. Still war es im »Schiefer«, totenstill, als der kleine, schmächtige Andreas Malfertheiner, genannt der Lusner Anderl, der Bruder des Hofbesitzers Joseph Malfertheiner, die Dengelarbeit beendet hatte und nun den Blick in den Talgraben richtete.

Die Miene des etwa achtundzwanzigjährigen Jungbauern zeigte Unentschlossenheit, gemischt mit sehnsüchtiger Erwartung. Gern würde Anderl den Abend im Taldorfe verbringen, ein Plauderstündchen in jenem Söldnerhäuschen halten, das sein Liebstes auf Erden birgt, die junge, zierliche Annamirl, seine erklärte Braut, sobald es gelingen sollte, die zur Selbständigmachung nötigen Mittel aufzutreiben. Zunächst bestand freilich keine Hoffnung hierfür, und deshalb war an Heirat und Erwerb eines kleinen Bauernanwesens nicht zu denken. Da Sepp, der Hofbesitzer, abwesend war, wagte es Anderl nicht, das Gehöft zu verlassen, obwohl die zwei Knechte und die drei Dirnen treue, bewährte Hausgenossen waren.

Seufzend wollte Anderl eben dem Hause zuschreiten, da kam der Bruder Sepp, ein überaus magerer, hochgewachsener Mann von dreißig Jahren, ganz unerwartet den Steilhang zur Linken des Gehöftes herab, geräuschlos, mit der Sicherheit des berggewohnten Steigers. Der Tritt wurde erst hörbar, als die Nägel der schweren Bergschuhe auf einer Schieferplatte knirschten.

»Oha,« rief Anderl, »von oben kommst, und ich hab' das Straßl abgesucht!«

Der hagere Sepp nickte und trat auf den Bruder zu. »Ich hab' was zu reden mit dir, Anderl, was derweil die Leut' nit zu hören brauchen.«

»Red', Sepp!« erwiderte Anderl respektvoll.

»Ist es wahr, daß du mit der Lackner Annamirl im Verspruch bist?«

»Ja, aber heimlich und ohne Hoffnung.«

»Sell muß ein End' nehmen!«

»Wohl – wohl! Ich seh's selber ein, aber die ehrliche Lieb' kann ich mir nit aus'm Herzen reißen!«

»Sell ist auch nit nötig! Sind die Leut' der Annamirl einverstanden, wenn es möglich wär', daß du das Dirndl heiraten tätest?«

»Wohl – wohl! Aber derweil heißt es halt warten! Sein tu' ich nichts, haben tu' ich zu wenig, und die Annamirl ist grad' so reich wie ich!«

»Dummes Geschwätz!«

»Aber wahr, Sepp!«

»Du gehst jetzt ins Dorf und sagst dem Lackner, er soll dich und die Annamirl auf den Rosenkranzsonntag von der Kanzel schmeißen lassen Volkstümlicher Ausdruck für die pfarramtliche Ankündigung in der Kirche, daß ein Brautpaar die Ehe schließen wolle. D. B.! Und morgen gehen wir zwei zum Notari!«

Anderl blieb in grenzenloser Überraschung stehen und sah mit weit aufgerissenen Augen seinem Bruder nach, der ruhig und gelassen, als sei nichts von Bedeutung erfolgt, dem Hause zuging. Was sollte werden? Wollte Sepp den Bruder auf den Lusnerhof heiraten lassen? In diesem Falle müßte Sepp doch auf sein Recht als Erstgeborener und Eigentümer zugunsten des Zweitgeborenen verzichten! Wenn Sepp das täte, müßte man ihn aber einen – Narren nennen! Aus brüderlicher Liebe schenkt man doch nicht ein stattliches Bauernanwesen her? Der Sepp aber hatte davon gesprochen, daß zum Notar gegangen werden würde! Soll er nun rennen und springen zum Lackner und der Annamirl die Freudenbotschaft noch in dieser Nacht überbringen?

»Sell tust nit, Anderl,« murmelte der Bursch, »erst muß ich mich bedanken für die narrete Guttat des Sepp!«

In der von einer Öllampe schwach beleuchteten Wohnstube saß der Sepp am Tische und betrachtete die von der Höhe herabgebrachten Steinbrocken. Für Mineralien und Alpenpflanzen hegte Joseph Malfertheiner von Jugend auf großes Interesse, wie er auch einen stark ausgeprägten Hang zur Absonderung und Einsamkeit hatte, geräuschvolle Vergnügungen mied und lieber in den Felsen umherstieg, auf einsamen Plätzen hoch oben seinen Gedanken nachhing, die sich gern mit der zierlichen Söldnerstochter Annamirl beschäftigten. Sepp hegte schon seit Jahren Neigung für das Mädchen, doch wollte er dem Bruder die Braut nicht streitig machen. Also, so sagte er sich, laß dem Anderl den Hof, daß er heiraten kann, und du hast dann deine Freiheit und kannst tun, was du magst.

Als Anderl mit brennrotem Kopf eintrat, huschte ein schwaches Lächeln über die Lippen Sepps, ein Lächeln der Befriedigung.

»Sepp, verstehn kann ich nit, was du g'sagt hast, aber ich möcht' dir danken für den guten Willen! Sei so gut, Sepp, und erklär mir die Sach'!«

Sepp lächelte, strich liebkosend mit den Fingern über ein Sträußchen Gamsrosen und schwieg.

»Ich bitt', Sepp, willst du wirklich mich Lusnerbauer werden und einheiraten lassen?«

Sepp nickte.

»Aber da müßtest du ja auf dein Recht verzichten!«

»Will ich ja!«

»Warum denn? Doch nit aus reiner Bruderlieb'?«

»Sell nit!«

Erschrocken starrte Anderl den Bruder an.

Sepp weidete sich an dieser Fassungslosigkeit, und nach einer kleinen Pause sprach er: »Ganz g'wiß nit aus bloßer Lieb' zu dir geb' ich den Hof her. Ich mag halt nit länger Bauer sein! Mich freut mehr das Wandern in der Höh'! Glaub aber nur nit, daß ich hintersinnig bin, ich weiß ganz gut, was ich tu'!«

»Ich versteh's aber nit!«

»Du kriegst den Hof, heiratest die Annamirl und wirst hoffentlich ein fleißiger Bauer!«

»Und was wird aus dir?«

»Ich bleib' noch auf'm Hof, will aber nur arbeiten, wenn's mich danach g'lustet! Das ist meine einzige Bedingung! Alle Woch' verlang' ich drei Gulden! Willst so, oder magst nit?«

»Freilich will ich! Vergelt's Gott vieltausendmal für die Guttat!«

»Ist schon recht! Morgen wird's abgemacht!«

In seiner Erregung sprudelte Anderl heraus: »Wird das ein Gered' geben! Die Leut' werden dich einen Narren heißen!«

»Sell ist mir gleich! Und nun, gut Nacht, Lusner!«

Gelassen verließ Sepp die Stube.

Deutlich fühlte Anderl die Anerkennung aus dem einzigen Worte »Lusner« heraus, und trotz der späten Stunde eilte nun Anderl, nachdem er das Licht verlöscht und die Haustür abgesperrt hatte, in den Graben hinunter, in das reichlich eine Wegstunde entfernte Taldorf zum Lackner. Die Freude trieb Anderl in rasendem Tempo vorwärts, und das Pflichtgefühl jagte ihn, nachdem er den alten Lackner geweckt und von seinem Glück verständigt hatte, im Dauerlaufe wieder bergan zum einsamen Lusnergehöfte.

Eben wollte er das Haus betreten, doch als er den freistehenden, vom Mond schwach beleuchteten Backofen erreichte, befiel ihn plötzlich ein krampfhafter Hustenreiz. Taumelnd mußte er sich am Gemäuer stützen, und nur mit Mühe erreichte er seine Kammer. Der Husten quälte ihn die ganze Nacht. Müde und matt begrüßte er am nächsten Morgen den Bruder.

Sepp nickte und begann sogleich: »Also wollen wir zum Notari! Und gleich über die Höh', der Weg ist freilich nit gut, aber näher!«

»Wie du willst, Sepp!« erwiderte ergeben Anderl, der mühsam den Hustenreiz unterdrückte und nicht merken lassen wollte, daß er lieber den weiteren, aber bequemeren Weg durch den langen Graben hinaus zum Amtssitze des Notars wandern würde.

Gleichsam zum Abschiede und letzten Male als Hofbesitzer erteilte Joseph die nötigen Befehle an das Hausgesinde, dann steckte er etliche Dokumente zu sich und trat die Wanderung an, indem er sogleich den pfadlosen Steilhang in Angriff nahm.

Anderl folgte dem Bruder, doch bald mußte er stehen bleiben, Atem schöpfen und den Schwindel überwinden.

Ohne sich umzusehen, stieg Sepp aufwärts in stetigem, gleichmäßigem Schritt, berggewohnt und elastisch, völlig mit Gedanken beschäftigt, die auf die Zukunft gerichtet waren. So gewann Joseph einen erklecklichen Vorsprung und erreichte am sogenannten »gachen Blick« das von ihm errichtete Kruzifix, wo er eine Weile stehen blieb und auf den Bruder wartete.

Erschöpft, bleich und schwitzend schleppte sich Anderl heran, und Sepp sprach halblaut, gedämpften Tones, als wollte er die weihevolle Ruhe dieser einsamen Stelle auf lichter Bergeshöhe nicht stören: »An dem Platzl mußt nach der Verbriefung und nach der Hochzeit beten, Anderl! Da ist mir's eingefallen, dir den Lusnerhof zu überlassen! Halt das Platzl fürder in Ehren!«

Das gelobte Anderl stumm und dankbar mit einem Handschlag, sprechen konnte er nicht wegen des quälenden Hustens.

Jetzt erst bemerkte Sepp die Erschöpfung des Bruders. »Mußt dir Zeit lassen! Bei der Hitz' heut ist schlecht steigen! Mir macht's freilich nichts!«

Beide wanderten weiter der Grathöhe zu, Sepp mit raumen Schritten voraus, Anderl in größerem Abstande mit rasselndem Atem hinterdrein.

Der Abstieg gestaltete sich leichter, doch kam Anderl arg ermüdet im Amtssitze des Notars an, so erschöpft, daß Sepp, der ein bedürfnisloser Mensch war, doch erst ein Gasthaus aufsuchte und dem Bruder Wein zur Stärkung reichen ließ.

Dann ging er zum Notar, der freilich große Augen und eine Miene machte, die Anderl gut zu deuten wußte, und die zu sagen schien: »Joseph, du bist ein – Narr!«

Ohne Schwierigkeiten wurde aber dann das notarielle Geschäft erledigt. Als Hofeigentümer, als der nunmehrige »Lusner« verließ Anderl die Kanzlei. Draußen im Gange gab er dem sein Herz erfüllenden Gefühle nach, indem er in überquellender Dankbarkeit dem Bruder die Hand gab.

»Mach keine G'schichten! Ist ja gern geschehen. Mir ist jetzt wohl! Du bist nun der ›Lusner‹, und ich bin frei.« Ohne sich weiter um den Bruder zu kümmern, lief Sepp sogleich bergan und verschwand im Fichtenwalde.

Anderl aber nahm ein Fuhrwerk und ließ sich auf dem Grabensträßlein heimfahren.

* * *

Die Hochzeit wurde im engsten Kreise mit einem kleinen Mahle beim Kirchenwirte im Grabendorf gehalten. Annamirl war im Myrtenschmucke eine entzückende Braut, überglücklich ob der Wendung des Schicksals. Immer wieder dankte sie dem Schwager Sepp, der sich als ein sonderbarer Hochzeitsgast zeigte, indem er sehr wenig aß und nur Wasser trank. Die Dankesworte der Braut wehrte er mit einer Handbewegung ab, ebenso die Versuche Anderls, den tiefgefühlten Dank für die brüderliche Guttat in Worte zu kleiden. Und ehe noch die unvermeidliche große Hochzeitstorte zum Süßweine aufgetragen wurde, war Sepp aus dem von neugierigen Dörflern umlagerten Wirtshause verschwunden.

Dieser Weggang ohne Abschied wirkte bedrückend auf die Hochzeitsgäste, besonders auf den vom Weingenuß bereits erhitzten Brautvater Lackner, dem im Ärger über die unerwartete Störung des Festes wie über das Gebahren Josephs die Bemerkung herausrutschte: »Der Sepp ist halt doch ein Narr!«

Die Hochzeitsgäste schienen völlig gleicher Meinung zu sein und flüsterten Lackner zu, daß der Sepp »spinnen« müsse.

Vergeblich trat das junge Ehepaar für den Abwesenden ein, den es warm und dankbar verteidigte und entschuldigte. Die Gäste, denen sich mählich auch neugierige Dörfler ungeladen beigesellten, ließen sich von der Meinung nicht abbringen; laut und heftig wurde von Sepp als dem »Narren im Schiefer« gesprochen, ihm ein schlimmes Ende prophezeit.

Ein Mißton war in die Hochzeitsfeier gekommen. Weinend bat die Braut, Anderl möge sie heimführen. Der junge »Lusner« gab endlich schweren Herzens sein Einverständnis mit einer heimlichen Entfernung kund.

So schön der Morgen dieses Tages gewesen war, ein richtiger Festesmorgen für die Hochzeit eines glücklichen Paares, so trüb gestaltete sich der Abend, als das junge Paar dem Lusnerhofe zuwanderte. Grauschwarze Wolken hingen am Firmamente, kühl wehte der Schroffenwind, einen Wettersturz kündend. Stolz im eigenen Gefährte war Anderl ins Dorf am Morgen gefahren; als Ehemann schlich er nun mit der Braut zu Fuß der Heimat zu. Das Gefährt hatte er zurückgelassen, um ohne Aufsehen aus dem Gasthause verschwinden, den Wunsch Annamirls erfüllen zu können.

Die Braut weinte still, Anderl hing seinen Gedanken nach, die sich wider Willen mit dem Bruder und seinem sonderbaren Verhalten beschäftigten. Ein gewisser Groll stieg im Herzen auf und verdrängte die Dankbarkeit; die Störung des Festes hätte der Bruder doch vermeiden, Rücksicht üben sollen. Der weite Marsch, ähnlich einer Flucht, ärgerte Anderl ebensosehr wie die lieblose Art, in welcher die Leute und seine Verwandten über den Bruder hergefallen waren. Ganz unberechtigt fand Anderl den Ausdruck »Narr« allerdings nicht; er selbst hatte ja denselben Ausdruck gebraucht, als Sepp erstmals die Absicht äußerte, den Hof dem Bruder zu übergeben. War diese Handlung die Tat eines Narren, den Gewinn hatte er doch selbst, der nun die Liebste ganz unerwartet heiraten konnte.

Leise setzte der Regen ein, als das Brautpaar im Dämmer des Herbstabends den Mattenhügel erklomm, auf dem in einer Schieferbuchtung der Lusnerhof behäbig stand. Hüstelnd stieg Anderl bergan, und besorgt fragte Annamirl nach seinem Befinden.

»Früher hast doch den Husten nit gehabt?« sagte sie.

»Wird nichts bedeuten. Ich hab' das Gerassel in der Brust erst seit der Nacht, in der ich zu euch mit der Freudenbotschaft gerennt und wieder zurückgelaufen bin. Kann sein, daß ich mich verkühlt hab'. Aber ich nehm' den Husten gern in Kauf für den Lusnerhof; seller ist die Husterei wahrlich wert.«

»Wenn's nur nit schlimmer wird!« meinte die junge Frau in banger Sorge.

Das Paar hatte endlich den Hügel erstiegen. Gespannt und voll Interesse richtete Annamirl den Blick auf das Gehöft, die neue Heimat für das Leben im Ehestande. Und plötzlich schrie sie überrascht auf: »Guck, Anderl, wie schön! Sell hat g'wiß der Sepp gemacht! Ist halt ein lieber, herzensguter Mensch – dein Bruder!«

Die Front des Gehöftes war mit Fichtenkränzen geschmückt, in deren Mitte farbige, mit brennenden Kerzchen versehene Lampions wundersam leuchteten. Den Hauseingang zierte eine kleine Triumphpforte, dicht mit Lampions besteckt, und auf einem hellflammenden Transparent waren die Worte zu lesen: »Willkommen! Gott segne euren Eingang!«

Auch Anderl war freudig überrascht ob dieser sinnigen Aufmerksamkeit. Er fand jetzt die Erklärung gegeben für das vorzeitige und heimliche Verschwinden des Bruders von der Hochzeitstafel.

Im Hause mochte man die Ankunft des Brautpaares noch nicht erwartet haben. In der schwacherleuchteten Wohnstube hockte das Gesinde plaudernd beisammen, und Sepp hing seinen Gedanken nach. Ein Gefühl der Reue wollte ihn fast beschleichen.

Wie nun Schritte im Flur laut wurden, fuhren die Knechte und Dirnen auf, und es gab ein großes Gezeter ob der überraschenden Ankunft der neuen Bäuerin.

In der Wohnstube stand der lange Sepp wie ein Kind, das auf einer Übeltat ertappt wurde, mit einem Lächeln hilfloser Verlegenheit auf den zuckenden Lippen.

»Lieber Schwager, laß dir von Herzen danken für die Überraschung!« rief Annamirl und reichte Sepp die Hand.

Doch der wehrte ab. »Nit so lieb sein mit mir, ich vertrag's nit, und es paßt nit für mich!« Und scheu sprang der Sepp zur Stube hinaus.

Der niederprasselnde Regen vernichtete bald den Lichterglanz und den Festesschmuck am Hause; gar traurig hingen die Papierlaternchen zerrissen zwischen den Fichtenkränzen.

In der Wohnstube stotterten die Knechte und Mägde ihre Glückwünsche zum Einzug der neuen Bäuerin, und dann verflüchtigten sie sich.

Hustend erklärte Anderl, sich sofort ins Bett legen zu müssen. Verängstigt folgte Annamirl dem Gatten in die Schlafstube, die beim Kerzenscheine sich ebenfalls geschmückt erwies: mit Fichtenreisern umwunden die Türen, Tannenkränze an den Wänden. Waldesluft wehte würzig durch den stillen Raum.

Annamirl sah wohl diese gutgemeinte Zimmerzier, vermochte aber darüber nicht zu sprechen, sie mußte flink zugreifen, den vom heftigen Hustenanfall gepeinigten, im Gesichte fast blau gewordenen Anderl zu Bett bringen.

In bequemer Lage ruhend, meinte Anderl: »Ist frei aus der Weis', wie mich der Husten plagt. Werd' etliche Täg liegen bleiben müssen, auf daß das Rasseln in der Brust nachlaßt. Sei nit harb, Annamirl, ich kann nichts dafür! Ein zwiderer Einstand für dich im neuen Heimatl!«

»Nit aufregen, Anderl, nit so viel reden! Ich werd' dir Kamillentee kochen, und da wird's schon besser werden. Von nun an hast ja eine aufmerksame Pflegerin.« Anderl nickte dankbar. Als Annamirl mit der Tasse heißen Tees in die Schlafstube kam, war der junge Gatte bereits eingeschlafen. Er lag ruhig im Bette. Aber das Rasseln in der Brust war immer noch deutlich zu hören.

Nun ging auch Annamirl zur Ruhe, aber Sorge und Angst um den Gatten ließen sie nicht einschlafen.

Mehrmals im Laufe der Nacht rief Anderl nach ihr, der Hustenreiz stellte sich des öfteren ein und quälte ihn sehr. Annamirl reichte ihm Tee und hielt Anderl aufrecht im Bette, bis der Anfall wich.

Endlich brach der Morgen an, trüb und grau mit trostlosem Fadenregen. Die Nässe und der Nebel ließen die Gegend im Schiefer düster und schaurig erscheinen, so daß Annamirl erschrak, als sie einen Blick durch das Fenster auf die schwarzen Felswände warf.

Im Flur traf die junge Bäuerin den Sepp, der, zu einer Bergfahrt gerüstet, eben nach dem Bergstock greifen und den Marsch trotz des schlechten Wetters antreten wollte – vielleicht auch ausweichen dem Glück des jungen Ehepaares.

Der Anruf Annamirls bannte ihn; überrascht drehte er sich um und fragte nach den Wünschen der Bäuerin.

»Möchtest heut nit daheim bleiben und nach dem Rechten sehen? Dem Anderl geht's nit gut, er muß im Bett bleiben.«

»Gern will ich bleiben! Wo fehlt's denn beim Anderl?«

»In der Brust ist's nit in Ordnung.«

»Seltsam tät das sein! Ist ja seither nie was zu merken g'wesen!«

Annamirl unterdrückte eine naheliegende Frage, ließ sich vom Schwager die Räume zeigen, und dann bereitete sie für den Gatten ein warmes Frühstück.

Sepp hatte nach seiner Art hinauf in die Felsen wandern wollen, Gebrauch machen von dem ausbedungenen Rechte, nur dann zu arbeiten, wenn ihm der Sinn danach stand. Da nun aber die Schwägerin ihn gebeten hatte, für den kranken Bruder einzutreten, unterzog er sich nicht nur willig, sondern mit allem Eifer den Geschäften und Arbeiten des Hofbesitzers. Die Knechte, die seither von der Anwesenheit des Bauers wenig gespürt hatten, staunten, wie Sepp, der doch nicht mehr Eigentümer war, also eigentlich nichts mehr zu befehlen hatte, in Stellvertretung Anderls zur Arbeit antrieb, selbst tüchtig zugriff und scharf die Ausführung seiner Anordnungen überwachte.

In der Mittagspause und des Abends fragte Sepp in Anderls Stube, wie es stünde, und die Bäuerin bat er jeglichen Tag um ihre Zustimmung zu den nötigen Anordnungen in so ergebener Weise, daß bei aller Sorge und Angst Annamirl lächeln mußte. Es war drollig und tat wohl, von dem sonst so rauhen, bärbeißigen Sonderling so zärtlich behandelt zu werden.

Als der Arzt angefahren kam, grollend und polternd über die durch Steinschlag gefährliche Reise, und als Annamirl ihn geschäftig in die Krankenstube geleiten wollte, trat Sepp dazwischen und gebot der Schwägerin, unten in der Küche zu bleiben.

Dem Arzte erklärte Sepp die Ursache der Fernhaltung Annamirls: »Die junge Frau braucht derweil nit zu wissen, wie es um den Bruder steht! Sie soll sich nit zuviel ängstigen!«

Oben nahm der Arzt eine sorgfältige Untersuchung des Patienten vor und horchte ihn an der Brust und am Rücken ab und fragte schließlich nach der Todesursache des alten Lusner.

»Der Vater selig ist an der Lunglsucht g'storben. Mir fehlt aber nichts, drum glaub' ich nit, daß der Anderl etwa die Lunglsucht geerbt hat.«

Die Konsultation endete mit dem Ratschlag, es solle Anderl den Winter in dem milden Klima Südtirols verbringen und erst im Juni in die Schieferheimat zurückkehren.

»Hat er denn wirklich die Lunglsucht?« fragte Sepp erschrocken.

»Derweil noch nit, aber Anlage dazu ist vorhanden. Demnach muß sich der Anderl sehr schonen, acht geben auf seine Gesundheit wie ein Haftlmacher, sich sorgsam vor allen Aufregungen hüten, körperliche Anstrengungen vermeiden!«

»Saxendi,« meinte Sepp, »vorgestern hat er Hochzeit g'habt und jetzt liegt er im Kobel!«

»Sehr mißlich! Zweifellos spielte beim plötzlichen Ausbrechen der Krankheit eine große seelische Aufregung eine Rolle. Haben Sie etwa den Bruder von Ihren Absichten vorher nicht unterrichtet?«

Sepp schüttelte den Kopf. »Ich hab's lang' überlegt, und wie mein Wille festgestanden hat, hab' ich geredet – eher nit!«

»Und damit dem Ahnungslosen eine seelische Erschütterung gefährlicher Art zugefügt.«

»Wär' mir nit lieb! So wie Sie daherreden, wär' ja eigentlich ich schuld an der Krankheit des Anderl?!«

»Das kann natürlich niemand behaupten. Sorgen Sie jedenfalls dafür, daß der Patient noch vor Wintersbeginn nach Südtirol gebracht wird und dort sorgsame Pflege findet. Vielleicht läßt sich dadurch Heilung und Genesung erreichen.«

Unten im Flur wollte Annamirl den Arzt aufhalten und befragen, doch sie wurde vom Arzt an Sepp verwiesen, der alles wisse.

»Aber ich bin doch die Frau!« rief schluchzend die junge Bäuerin, welche die Verweisung an den Schwager als Kränkung empfand.

Der Arzt zuckte die Achseln und fuhr davon.

Sepp bat Annamirl in die Wohnstube. »Nit harb sein, Schwägerin!« sagte er mild. »Ich hab' dich schonen woll'n, deshalb hab' ich dich nit zum Kranken hinaufg'lassen.«

»Das Eheweib gehört doch zum Mann!«

»Wohl – wohl! Aber das ist ein besonderer Fall. Na, so Gott will, geht's noch gut aus! Daß die Schwagerin es gleich erfahrt: ihr zwei müßt fort – nach Südtirol und in Bozen oder in Meran den Winter über verbleiben!«

Annamirl erschrak. »Also hat der Anderl die Lunglsucht! Heiliger Gott, nur sell nit!«

»Hat er nit! Der Doktor sagt, er hat sie noch nit. Daheim bei uns im rauhen Schiefer könnt' er sie aber kriegen.«

Die junge Bäuerin schluchzte laut auf.

»Nimm's nit zu scharf, Annamirl! Irren können sich die g'scheitesten Dokters, und der unsere ist nit einmal einer von die G'scheiten!«

»Wieso? Was meinst, Schwager?«

»No ja, sonst könnt' er doch nit sagen, daß ich mit schuld wär' an der Krankheit!«

»Du sollst schuld sein?«

»Blitzdumm hat er geschwätzt!« beteuerte Sepp und erzählte der aufhorchenden Schwägerin, was ihm bezüglich der schweren Seelenerschütterung der Arzt mitgeteilt hatte.

Annamirl jammerte: »Da wär' ja das große Glück eigentlich ein fürchterliches Unglück! Und der arme Anderl muß es büßen, weil du so ein – Narr gewesen bist!«

Sepp starrte die Bäuerin an. Ein tiefes Weh zog durch seine Brust, und wie ein geschlagener Hund schlich er davon.

Annamirl aber huschte hinauf zum Gatten, umschlang ihn zärtlich und jammerte unter Tränen so lang, bis Anderl unwirsch ward und nach der Ursache des Geheuls fragte.

»Sie woll'n uns nach Meran schicken!«

»Dumm's Zeug! Ich geh' nit! Wegen dem bißl Husten ist's nit der Mühe wert! Gleich nur ein Paar Täg Ruh' im Bett, aft'n steh' ich wieder g'sund und fest auf den Füßen!«

Wie willig die Bäuerin dies glaubte!

* * *

»Wenn nur die Sonn' bald scheinen tät'!« meinte Anderl nach einigen trostlos trüben Tagen. »Warm's Wetter brauchet ich, an die Luft möcht' ich! Da tät's bald besser werden in der Brust!«

Der Bäuerin waren diese sehnsuchtsvollen Worte wie aus der eigenen Seele gesprochen, doch sie schwieg. Annamirl wollte nicht kundgeben, wie unbehaglich sie sich im neuen Heimatl, im »Schiefer«, fühlte, wie schwer diese Felsenwucht und schauerliche Öde auf die Seele drückte. Unwillkürlich stellte die junge Frau in heimlichen Gedanken Vergleiche an zwischen dem elterlichen Söldnerhäuschen mit seiner Not und dem großen Gehöft, dessen Gebieterin sie geworden war. Fast sehnte sie sich in die ärmlichen Verhältnisse zurück. Aber es hieß ausharren und überwinden.

Einer Empfindung namentlich vermochte Annamirl nicht Herr zu werden: der Abneigung gegen den Schwager, den eigentlichen, wenn auch schuldlosen Urheber der über Anderl gekommenen Krankheit. Der Gedanke daran wirkte wie ein Stachel und wollte die Abneigung steigern bis zum Hasse. Zuweilen stellte sich freilich die bessere Erkenntnis ein, daß Joseph am Bruder edel und gut gehandelt hatte, gänzlich schuldlos sei, und daß Anderl nicht so unsinnig hätte rennen sollen. Diese bessere Überzeugung wich aber rasch wieder der düsteren Sorge. Das Herz hing am Gatten, die Abneigung richtete sich gegen den Schwager, den Sonderling, den Narren im Schiefer.

* * *

Auf dem Lusnerhof ging das Leben seinen Lauf wie früher. Sepp mußte seine Wandergelüste wieder unterdrücken, sich ganz an das Haus und rege Arbeit gewöhnen. Bezüglich üblicher Viehverkäufe und der Beschickung des Spätherbstmarktes fragte Sepp den Bruder, der sich nun zwar außer Bett, aber doch nicht besonders wohl befand und wenig Interesse für Geschäftsangelegenheiten bekundete. Unverkennbar war eine Veränderung bei Anderl vorgegangen, denn die Gleichgültigkeit gegen seine neue Stellung, der Mangel an Selbstbewußtsein war unnatürlich.

Diese Wahrnehmung ging Joseph ganz besonders zu Herzen, ängstigte ihn und gab ihm schließlich Veranlassung zu dem Vorschlag, den Rat eines zweiten Arztes einzuholen oder zu einer Untersuchung in die Kreisstadt zu fahren.

Er verstummte aber augenblicklich, als Anderl, die gutgemeinte Anregung falsch deutend, erwiderte: »Kannst es denn nit erwarten, bis du wieder der Lusner wirst?«

Daraufhin verließ Sepp, ohne ein Wort zu erwidern, die Stube. Die Marktbeschickung unterblieb wie jeglicher Viehhandel, denn Sepp wollte jedes Geldgeschäft lieber vermeiden. Unter dem unbehaglich und gespannt gewordenen Verhältnissen litt Sepp am meisten, doch bestrebte er sich, jeden Groll zu überwinden, besonders aber das manchmal aufsteigende Gefühl, das jeden ehrlichen Menschen überkommt, wenn er sich falsch beurteilt sieht.

Etliche schöne Tage im Spätherbst besserten die Stimmung des Ehepaares. Der lachende Sonnenschein erleichterte der verzagten Bäuerin die Eingewöhnung, milderte die Herbheit der Einsamkeit und Öde im Schiefer. Anderl hockte in Decken gehüllt auf der Bank vor dem Hause und sonnte sich. Seltener quälte ihn das Rasseln in der Brust. Verschwand die Sonne und lag der Hof im Schatten, dann mußte der fröstelnde Anderl freilich schleunigst in die geheizte Stube gebracht werden.

Zu Kathrein hieß es aber, Abschied von der Sonne nehmen für etliche Monate. Im Schiefer stellte zu diesem Termine das Weltlicht seine Tätigkeit ein.

Bald darauf verschlimmerte sich auch der Zustand Anderls wieder.

Heftige Regengüsse weckten selbst bei den keineswegs ängstlichen Schieferleuten, die an die rauhen Hochgebirgsverhältnisse gewöhnt waren, gewisse Befürchtungen. Das Geknatter des Steinschlags war der Vorbote kommender Ereignisse. Erst prasselten faustgroße Schieferbrocken von den Höhen herab, dann gefährdeten mächtige Felstrümmer den Verkehr auf dem überschwemmten Sträßlein.

Für den Lusnerhof bestand ja zunächst keine direkte Gefahr, mißlich aber war es, für die Zeit des Steinschlags von der Außenwelt abgeschlossen zu sein.

Die Verschlimmerung im Zustande Anderls veranlaßte Annamirl, Sepp zu bitten, den Bruder im Wagen hinauszubringen, ehe es im Winter zum Schneefall kam.

»Sell geht jetzt nimmer. Der Steinschlag laßt keinen Wagen durch,« erwiderte der Schwager.

»Es muß aber gehen! Um den Anderl steht es nit gut. Wir werden ihn nach Meran bringen müssen, wenn er auch nit will. Ich bitt' dich, Sepp, hilf mir dazu!«

Den Bitten der immer noch heimlich Geliebten, konnte Sepp nicht widerstehen, er wollte die Fahrt wagen. Nur war es für heute der vorgeschrittenen Zeit wegen zu spät, doch gleich morgen früh sollte der Wagen eingespannt werden.

Die Bäuerin war zufrieden, Anderl aber weigerte sich entschieden, das Gehöft zu verlassen; er kannte die Gefahren des Steinschlags.

Nach einer stürmischen Regennacht mit heftigem Schneefall in den Höhen brach trüb ein trostloser Morgen im nebelerfüllten Schiefer an.

Auf das Drängen Annamirls hin zog Sepp die Kutsche aus dem Schuppen, während der Roßknecht im Stalle die Pferde anschirrte. Des öfteren hielt Joseph inne und horchte. Das Geknatter hatte nachgelassen, nur vereinzelt plumpsten große Steine dumpf in die Tiefen. Dafür war aber ein Knacken in der Höhe zu hören, ein Knistern, wie wenn Felsen sich aneinanderreiben. Dann wieder dröhnte es dumpf.

In der Schlafstube bestürmte Annamirl den schwer hustenden Gatten, die Fahrt wenigstens bis zum Gravendorf zu wagen. Aber Anderl weigerte sich. »Steinschlagsicher ist unser Hof auch,« sagte er.

»So fehlt's dir halt an der rechten Schneid!« suchte sie ihn anzufeuern.

»Sell nit, aber in den gewissen Tod will ich auch nit fahren. Kann leicht sein, daß heut der Berg lebendig wird und der Wald lauft. Da bleib' ich lieber im sicheren Haus.«

Vor dem Gehöft stand Sepp und beobachtete den Fichtenwald oben, soweit der flatternde Nebel dies zuließ. Unverkennbar befand sich die stark geneigte Fläche, in langsamer Bewegung in der Richtung gegen das Sträßlein, und ebenso schien gegenüber der abgeholzte Steilhang rutschen zu wollen.

Hastig schob Sepp den Wagen wieder in den Schuppen, dem Roßknecht, der eben die Pferde aus dem Stalle führte, befahl er auszuschirren. Und dann erfolgte der Alarmruf: Alles in den Keller flüchten!

Sepp wickelte den Bruder in Decken und trug ihn hinab in den sicheren, stark gebauten Keller, wo sich bereits die zitternden Mägde eingefunden hatten. Rasch kamen auch die Knechte und zuletzt die jammernde Bäuerin.

Nachdem sich Joseph vergewissert hatte, daß alle Hausbewohner versammelt waren und genügend Proviant nebst Wasser für einige Tage sich im Gewölbe befand, ließ er die dicke Eisentür nieder.

Bebend begann das Gesinde zu beten.

Dumpf drang das Dröhnen und Krachen in den Keller.

Draußen wütete der Todfeind der Kulturen und des menschlichen Fleißes, Steinmuren liefen zu Tal, die Berge wanderten, aufgelockert von der vielen Nässe, haltlos rutschten ganze Flächen nieder; ein Fichtenwald geriet in Bewegung, erst ein langsames Wandern, ein Schwanken, dann mit Zunahme der Schnelligkeit im Sturze schlugen die Bäume krachend aneinander, die Stämme barsten, bildeten einen ungeheuren, unentwirrbaren Knäuel, der, alles mit sich reißend, in die Tiefe stürzte. Diesem Chaos folgten prasselnd und knatternd Ströme von Schieferschutt, die, von dichten Staubwolken begleitet, sich in die Tiefe ergossen, viele Meter hoch alles mit Geröll überschüttend. Steinströme von beiden Seiten stürzten hernieder, ein ungeheures Chaos von Erde, Geröll, Felstrümmern, der zerschmetterte Wald – alles das staute sich im engen Graben, füllte turmhoch die Schlucht. Und zornig, vergeblich nagten die hochgeschwollenen Wellen des Wildbaches an dieser schier undurchdringlichen Mauer, die den Abfluß verhinderte. Schnell entstand ein See, der immer höher wuchs und seine Flut zurückdrängte in die Schieferbuchtung hinein.

Als das Dröhnen und Geknatter nachgelassen hatte, nichts mehr zu hören war, hoben Joseph und zwei Knechte durch kräftiges Anstemmen die Kellertür in die Höhe. Gottlob: innen war das Haus unversehrt.

Nun eilte Sepp ins Freie. Ein Weheruf entfuhr ihm beim Anblick der gräßlichen Verheerung im Graben knapp vor dem Lusnerhügel. Er sah die wachsende Wassergefahr. Was der laufende Berg verschonte, mußte der im Abfluß gehemmte Wildbach vernichten. Rasch holte Sepp das Gesinde zur Hilfe; man mußte versuchen, dem Stausee einen Abfluß zu verschaffen, ein Rinnsal durch das Chaos zu graben. Allen voran arbeitete er unbekümmert um die noch immer niederrieselnden Geröllmassen.

Aber was konnten die wenigen Menschen leisten? Es erwies sich bald als unmöglich, eine Rinne zu graben. Etliche Tage noch, und der Lusnerhof wird von den Wogen des Stausees verschlungen sein.

Sepp hielt von der Hügelhöhe Umschau. Er mußte durchkommen, um Hilfe zu holen. Die Knechte schrien auf, als sie sahen, wie Sepp sich anschickte, das Felsenchaos zu überklettern.

Oft rutschte er mit den Geröllmassen nieder, doch immer erneut raffte er sich auf, bis es ihm gelang, die Höhe zu erreichen.

Ein letzter Wink hinüber zu den verzweifelnden Lusnerleuten, dann verschwand Sepp.

Das zurückbleibende Gesinde schaute sich erschreckt an. Es glaubte nicht daran, daß der Sepp Hilfe holen wollte, nein – der »Narr« wollte sie schmählich verlassen, sich hinaus in den Graben retten. Erst schenkte er den Hof weg, und nun er sah, daß das Gehöft verloren sei, ließ er es feige im Stich.

Schreiend kehrten die Knechte und Mägde in das Haus zurück und berichteten der zitternden Bäuerin die schmähliche Flucht des Schwagers.

Anderl, der in sein Bett gebracht worden war, wollte an die Flucht des Bruders noch nicht glauben, als aber zwei Tage vergingen, ohne daß vom verschwundenen Sepp irgendein Lebenszeichen erfolgte, und als die Wogen des Stausees immer näher gegen den Lusnerhof schlugen, da brach auch seine Zuversicht zusammen.

Das Unwetter hatte nachgelassen; neugierig besah sich die Sonne die Folgen der Katastrophe.

Durch den Boden, auf dem der Lusnerhof stand, lief ein Beben. Die Bilder fielen von den Wänden. In den Mauern knisterte es. Die armen Bewohner verzweifelten. Die Bäuerin verfluchte den »Narren«.

Das Wasser in den Stuben des Erdgeschosses stand schon über 1 m hoch, als die Hausinsassen sich zur Flucht auf den freilich noch immer unsicheren Steilhang entschlossen. In Bündeln trugen die Knechte und Mägde Kleider und Wäsche durch die Flut zum Steilhang, von dessen Höhe noch immer Schiefergeröll herniederrieselte. Dann sollte der Anderl durch das Wasser getragen werden.

Oben in der Krankenstube saß Annamirl am Bette des Gatten, den Einsturz des Hauses und den Tod erwartend, mit der Verzweiflung im Herzen.

Da erbrauste ein mächtiges Rauschen der Wasserfluten, der Stausee floß ab, das Wasser mußte endlich sich durchgearbeitet haben.

Binnen einer Stunde war der Lusnerhof von der Wassersnot befreit.

Im Graben aber herrschte ein schauerliches Getöse, die ungeheuren Wassermassen stürzten donnernd zu Tal und rissen vom Bergsturz mit, was sich ihnen entgegenstemmte. Sie trugen das Unglück nun hinaus ins Tal.

* * *

Im Lusnergehöfte wurden die unteren Räume vom Schlamme befreit, die Dienstboten wagten wieder zu hoffen, daß das Ärgste überstanden sei.

Annamirl saß oben in der Kammer bei ihrem Mann und erklärte, daß sie nicht länger im Schiefer verbleiben, sondern das Unglücksgehöft verlassen wolle für immer. Anderl solle, sobald die Verbringung in das Grabendorf erfolgt sein werde, den Hof verkaufen.

Aber das wollte der Anderl nicht. »Sell wohl nit! Im Schiefer ist mein Heimatl!«

»Heimatl hin – Heimatl her! Wo das Unglück haust, will ich nit bleiben!«

»Das allergrößt' Unglück darf uns nit vertreib'n! Du wirst dich schon noch angewöhnen, denn den Lusnerhof därf ich nit verkauf'n. Der Sepp hat ein Recht, auf dem Lusnerhof zu bleiben.«

In die stille Stube drang das Geschrei der Knechte, die ihrer Überraschung ob der unerwarteten Rückkehr des »Narren« Luft machten, und gleich darauf erschien der Sepp.

»Nichts für ungut,« sagte er, »und seid nit bös übers Ausbleib'n! Es hat sein müssen!«

Ehe noch Anderl sprechen konnte, rief die Bäuerin: »Es hat sein müssen! Alles in der Not verlassen und davonrennen, ohne ein Wörtl zu sagen!«

Anderl gab mit der Hand ein Zeichen, das die Bäuerin veranlassen sollte, die Vorwürfe einzustellen.

Erbittert fuhr die aber fort: »Es wird, immer schöner im Schiefer! Nit einmal fragen därf man, wo der Herr Schwager bleibt!«

Sie stand auf, und gleich darauf fiel die Tür krachend hinter ihr ins Schloß.

Sepp trat an das Krankenbett des Bruders. »Sei nit bös, Anderl! Die Not hat mich getrieben, die Leut' vom Grabendorf zu holen. Sogar Militär hab' ich zur Hilf' rufen müssen, und wir hab'n fleißig gearbeitet, bis das Wasser den Abfluß gefunden hat. Gott sei's gedankt – es ist geglückt! Aber abg'sperrt bleibt der Lusnerhof noch lang, denn das Wegräumen wird nit so g'schwind möglich sein.«

Wortlos reichte Anderl dem Bruder die Hand und drückte die blutig gerissenen Finger.

Der Winter fiel ein. Bis zu den Fenstern des oberen Stockwerkes reichte der Schnee. Zur Stalltür war ein Stollen ausgeschaufelt worden. Für Verminderung des gefährlichen Schneedruckes auf das Hausdach hatte Sepp nach Möglichkeit gesorgt.

Für die Lusnerleute war die winterliche Gefangenschaft nichts Neues. Aber die im Grabendorfe draußen aufgewachsene Bäuerin empfand sie sehr lästig. Was sollte werden, wenn der Anderl ärztliche Hilfe brauchen würde, oder wenn im Hause Feuer entstünde, oder die Lebensmittel auf die Neige gingen?

Es schneite ununterbrochen. Zoll um Zoll wuchs die Schneehöhe.

Der Sepp richtete zwar nie ein Wort an die Bäuerin, war ihr aber schon durch seine bloße Anwesenheit lästig. Die Abneigung gegen den Mann, der in ihr Schicksal durch seine närrische Schenkung so tief eingegriffen hatte, wuchs wie der Schnee vor dem Hause.

Manchen Abend verbrachte der in letzter Zeit stark abgemagerte Anderl am Ofen in der Eßstube des Erdgeschosses, um durch Beteiligung an Gesprächen mit dem Gesinde doch etwas Zerstreuung und Unterhaltung zu haben. In solchen Stunden schnitten beim Scheine der Hängelampe die Knechte Spreißelholz, die Mägde strickten oder spannen Flachs. Sepp hockte gewöhnlich am Tische und las. Die Bäuerin flickte Wäsche mit heftigen Stichen, ärgerlich auf sich und die lästige Gefangenschaft, und direkt zornig ward sie, als der Kleinknecht erzählte, wie hart sich der Winter im Paznauntale zuweilen anlasse mit einem so ungeheuren Schneefalle, daß jedes einzelne Haus für viele Wochen vom Verkehre abgeschnitten sei, und daß ein während dieser Gefangenschaft Verstorbener im Speicher dem Frost ausgesetzt werden müsse.

Halt 's Maul mit dem Geschwätz!« schrie sie den Knecht an.

Verwundert blickten die Dienstboten auf. Still ward es in der Stube. Nur die Standuhr in der Ecke tickte weiter.

Da nahm der Anderl das Wort und sprach: »Sein tut's grad', als ging ein Engel durch die Stuben! Wird wohl ein Bote vom Sensenmann sein!«

»Hör' auf! Ich will das nit hör'n!« rief Annamirl.

»Muß aber doch wohl ein Engele sein, das mir die Schmerzen abnehmen will! Merkwürdig, wie mir jetzt leicht und lind worden ist! Sollt' ich 'leicht gar g'sund werden wollen im schwersten Winter und daheim im Schiefer?«

Aller Augen richteten sich auf den ganz weiß im Gesicht gewordenen Bauern. Auch der Sepp blickte auf, gewahrte die Totenblässe des Bruders und schritt eilig zu Anderl hin.

Und wieder sprach der: »Keine Sorg', Sepp! Mir ist seltsam wohl! Laß dir danken für deine Guttat, Sepp! Und bleib ein braver Schaffer und Sorger der Annamirl, auch dann, wenn sie harb ist auf dich und unser Heimatl!«

Annamirl stürzte schluchzend zum Gatten und umklammerte seine Knie.

»Keine Sorg', Annamirl! Mir ist ja so wohl! Bloß kalt, arg kalt in den Füßen!«

Sepp wollte zugreifen, um den Bruder hinauf in die Schlafstube und zu Bett zu bringen.

»Nit – nit!« wehrte der ab. »Ich will herunten bleiben bei den Leuten – und beim Engele! Nit ins Bett, dort müßt' ich heut nacht sterben!«

»Anderl! Was hast denn nur um Gottes willen?« schluchzte die Bäuerin.

Die Mägde weinten und begannen zu beten.

Andreas nickte und legte die kalte Hand auf Annamirls Kopf. »Bitten möcht' ich dich, hab' unser Heimatl lieb, wenn's auch hart und grob ist im Schiefer! Und vergiß nie nit, daß der Sepp mein größter Wohltäter gewesen ist! Sell ist er, ja, Gott weiß es!«

Ein Seufzer quoll von den bleichen Lippen. Sanft glitt das Haupt auf das Kissen.

Vom wildesten Schmerz gepeinigt, warf sich Annamirl auf die Leiche, Gott und die Heiligen anrufend um Hilfe in ihrer Verzweiflung.

Die Knechte und Mägde knieten auf der Diele nieder und beteten die Sterbgebete.

Liebreich und sanft wollte Sepp, dem die Augen voll Tränen standen, die Schwägerin stützen.

.

Doch Annamirl schrie auf und schlug nach ihm. »Du bist an allem schuld! Du bist der Mörder meines Anderl!« Schrill gellten diese Worte der wildesten Verzweiflung durch die Stube.

Erschreckt hielt das Gesinde im Beten inne. Wie eine Furie schlug Annamirl auf den Schwager ein, der sich ohne Abwehr schlagen ließ.

Die Knechte griffen endlich zu und trennten die vor Schmerz schier wahnsinnig gewordene Bäuerin vom Sepp, und die Dirnen brachten Annamirl auf ihre Stube und verblieben bei der Bäuerin zum Troste und Gebet.

Abwechselnd hielten Sepp und die Knechte die Totenwache über Nacht. Geweihte Wachskerzen wurden geholt und angezündet. Leise knisterten die Flämmchen.

Und am Morgen versammelte sich alles wieder in der Stube. Vor der Leiche des Lusner wurde gebetet. Sepp sprach die Abschiedsworte als Stellvertreter des Pfarrers, der in die Weltabgeschiedenheit des Schiefers nicht kommen konnte. »Sind wir Schieferleut' abgeschlossen von allem, doch nit von Gott dein Herrn, der trotz Bergschutt und Schnee auch bei uns ist! Gott gib dem armen Toten die ewige Ruh'!«

Bisher hatte sich die Bäuerin ruhig und gefaßt verhalten. Als die Knechte sich aber anschickten, die Leiche wegzutragen, stürzte sie sich auf den Toten und schrie gellend, daß sie die Leiche nicht forttragen lasse.

Ratlos blickten die Knechte auf Sepp, der nun befahl, es solle die Leiche in die Stube der Bäuerin gebracht werden, wenn sie sie nicht von sich lassen wolle.

Da gab Annamirl endlich nach, und die Leiche wurde in den Speicher getragen und dem Gefrieren ausgesetzt.

* * *

Das Gesinde nannte den Sepp nun wieder »Lusner«, weil sie ihn wieder für den Herrn und Gebieter auf dem Anwesen hielten. Doch sofort wies er darauf, daß die Witwe seines verstorbenen Bruders die Eigentümerin des Gehöftes, daß also Annamirl die »Lusnerin« sei.

Die Dienstboten schüttelten die Köpfe und unter sich meinten sie, daß der Sepp wahrhaftig ein richtiger Narr sei; es erschien ihnen unbegreiflich, daß der Sepp nach dem Ableben Anderls das Anwesen abermals verschenke, der Witwe überließe, die doch den Schwager als Todfeind betrachtete, ihm deutlich Haß und Verachtung zeigte. Weiterer Anlaß zu derartigen Erörterungen war aber so lange nicht gegeben, als man völlig eingeschneit und abgeschlossen war. Annamirl verblieb die meiste Zeit im oberen Stock, in die gemeinsame Eßstube kam sie selten und entfernte sich sofort, wenn der Sepp eintrat.

Eine offene Auflehnung gegen den Sepp wagten die Dienstboten aber doch nicht; nicht nur war der Sepp doch der frühere Eigentümer, er hatte auch eine besondere Art, seine Befehle zu erteilen, die ein Ignorieren nicht rätlich erscheinen ließ. Schließlich wußten sie auch nicht, wie sich die Besitzfrage noch klären werde.

So lebten die Leute in ihrer Gefangenschaft unter einem bänglichen Druck, in einer gespannten Erwartung vor einem Ereignis, das eine Lösung oder einen gewaltsamen Bruch bringen mußte.

Mißtrauen und eine gewisse Scheu erweckte in ihnen das Verhalten der Witwe, der in ihren Augen lodernde Haß, ihre Zurückgezogenheit und ihr beängstigendes Schweigen. Mit Sehnsucht wurde die Schneeschmelze erwartet, obgleich sie für die Leute im Schiefer immer die Gefahr der Lawinen und Steinmuren brachte.

Spurlos gingen die winterlichen Festtage im Gehöft vorüber, man achtete ihrer in der Gefangenschaft nicht; es war ein Tag gleich dem anderen mit derselben schnell erledigten Arbeit und der trostlosen Öde.

Der Sepp litt schwer unter dem Haß der Schwägerin, stumm kämpfte er die Versuchung nieder, mit Annamirl abzurechnen, die qualvoll gewordene Lage durch ein energisches Auftreten zu klären. Der Mannesstolz wollte sich doch in ihm regen. In seiner kalten Kammer fragte sich Sepp immer wieder, was den Haß, die tief verletzende Verachtung Annamirls nur erzeugt haben könnte. Begreiflich erschien der Schmerz über den Tod Anderls, Sepp konnte sich's annähernd denken, wie schwer eine Frau leiden muß, welcher der Gatte nach so kurzer Ehe für immer genommen wurde. Berechtigte aber dieser Schmerz zu so unsinnigen Anklagen, zu einem so wahnwitzigen Hasse?

Sepp wußte sich frei von jeglicher Schuld. Den frühen Tod des Bruders beklagte Sepp von ganzem Herzen; er hatte Anderl glücklich machen wollen, und trotz der feindseligen Haltung Annamirls wollte er auch der Schwägerin beistehen in der Bewirtschaftung des Hofes.

Ein Gedanke aber machte Sepp erzittern. Was sollte werden, wenn Annamirl als Eigentümerin ihn vom Lusnerhofe wies? Das Recht dazu hatte sie, denn im notariellen Vertrage war der Verzicht Sepps klar vereinbart. Mit jeder Faser seines Herzens hing aber der Sepp an der Heimat; sie verlassen zu müssen, wäre entsetzlich für ihn gewesen. Kündigte ihm zu Georgi die Bäuerin, so mußte er gehen.

Die Reue nagte im Herzen. Es war doch unklug gewesen, sich ohne jeden Vorbehalt des Besitzes entäußert zu haben. Möglich wäre es ja, den Verzicht umzustoßen, eine Art berechtigter Notwehr wäre es ja, wenn der Sepp in dieser Hinsicht vorgehen würde, um sich die Heimat zu retten, das Verbleiben zu sichern. Sepp stöhnte in der Angst vor der Kündigung. Seine Gedanken wurden wirr. Sein Sonderlingwesen, der Versuch, in ein Menschenschicksal einzugreifen, den Bruder glücklich, sich selbst freier zu machen, sich die aussichtslose Liebe aus dem Sinn zu reißen, hatte ihn in eine trostlose Lage gebracht, machte ihn nun selbst wegen des drohenden Heimatverlustes unglücklich.

* * *

Dem Kalender nach sollte es Osterfest sein. Draußen wütete ein Schneegestöber wie um Weihnachten. War die alte Schneedecke gesunken bis zur Höhe der Fenster im Erdgeschoß, der Neuschnee brachte wieder Zuwachs. Es war ein überlanger Winter diesmal im Schiefer. Die Dienstboten fragten den Sepp, wie es mit den Ostergaben gehalten werden solle. Eier, Rauchfleisch und Rotwein zu den Feiertagen wollten sie haben.

Sepp verwies die Leute an die Bäuerin.

Wider Erwarten zeigte sich Annamirl den Wünschen des Gesindes zugänglich. Eine weichere Stimmung schien über die junge Witwe gekommen zu sein. Die Bewilligung nützte aber nicht viel, denn die Hühner legten noch nicht, die Vorräte an Rauchfleisch waren aufgezehrt, nur Wein war genügend vorhanden.

Den Kalender hatte Sepp an sich genommen. Täglich strich er die Tage aus, der Georgitermin näherte sich bedenklich.

Oft hatte Annamirl den im Speicher liegenden toten Gatten besucht, der linnenumwickelt auf einem Strohsacke ruhte und der Verbringung in die geweihte Erde des Friedhofes im Grabendorfe harrte. Je öfter aber die junge Frau ihr Gebet an der Leiche verrichtete, desto mehr gewann sie Ruhe im Herzen.

Am Morgen des Georgentages weilte sie wieder bei dem Toten. Zunächst betete sie andächtig für sein Seelenheil, dann flüsterte Annamirl: »Ist ein Jammer, Anderl, ein großer Jammer, daß du so früh hast weg müssen von mir! Wird freilich der Wille Gottes g'wesen sein! Ich muß dir's aber sagen, Anderl, daß wir ein Kind bekommen! Hörst, Anderl, ein Kind, das seinen Vater nimmer sehen wird! Sell wird ein großer Jammer sein! Aber du kannst sicher sein, Anderl, ich werd' das Kind treulich aufziehen zu einem braven, guten Menschen, sollst zufrieden sein in der Ewigkeit mit Mutter und Kind! Wenn es ein kleiner Lusner wird, soll er deinen Namen in der Tauf' erhalten. Ich muß dir noch was sagen, Anderl: dem Kindl zulieb und auf daß es gleich von Anfang an sein Heimatl hat fürs ganze Leben, will ich auf dem Lusnerhof verbleiben, werd' nit wegziehen, wie ich's ehnder im Sinn g'habt hab', weil es gar so grob ist im Schiefer! Wird dir wohl recht sein, Anderl? – Weißt, Anderl, ich bring' das Opfer dem Kindl und auch dir! Dem Sepp nit! – Was hast g'sagt, Anderl?«

Annamirl horchte ein Weilchen und setzte dann das Gespräch fort.

»Kann ja sein, Anderl, daß ich zu scharf auf den Schwager g'wesen bin, aber weißt, Anderl, ein Weib leidet bitter, arg ist der Schmerz der Frau, die ihren Mann hinsterben sieht und weiß, daß es keine Hilf' geben kann! Ich seh' es jetzt ein: der Schwager hat's am End doch gut gemeint, er hat es so wenig wie wir wissen können, daß du die Krankheit bereits in der Brust g'habt hast. Wenn du meinst, Anderl, will ich dem Schwager nimmer harb sein, nur gleich ein gutes Wort geben, sell kann ich jetzt noch nit. Es wird aber schon recht werden, muß es werden wegen dem Kindl! Ich allein tät' mich ja hart als Bäuerin, die keinen Mann nit hat. Dem Kindl zulieb werd' ich Frieden machen! Hab' oft und lang darüber sinniert, Anderl! Erst ist mir zuviel Bitternis im Herzen g'wesen, ich hab' ja nit anders können, hab' den Sepp für unseren Todfeind, für deinen Mörder g'halten! Es ist anders worden, seit ich weiß, daß ich Mutter werd'. Wird dir wohl recht sein, daß ich Frieden mach'! Das alles hab' ich dir sagen müssen, Anderl. Sei nit harb und wart halt noch ein bißl, einmal muß der Schnee ja fort, dann kriegst schon dein Grab, wie sich's g'hört und recht ist für den Lusner im Schiefer. Und jetzt b'hüt dich Gott, Anderl! Der Herr geb' dir die ewige Ruh', das ewige Licht leuchte dir, Amen!«

Annamirl machte das Kreuzeszeichen über die Leiche und verließ leisen Schrittes den Speicher.

* * *

Endlich hub auch im Schiefer ein Rieseln an, der Regen träufelte aus dunsterfüllter Höhe in dünnen Faden hernieder; jedes Tröpflein biß in den Schnee, und der Schneefeinde wurden immer mehr, der Warmregen nahm an Stärke zu, er ließ sich peitschen und jagen vom Höhenwind, der aus vollen Backen blies und in der Bergesenge ein wirbelnd Spiel trieb.

Ein Stöhnen, Krachen und Bersten ging durch den Schiefer, gierig warfen sich die Winterfeinde auf den Hermelin des Eisherrschers; alsbald wurden die Felsen schwarz, der Schiefer bekam seine Naturfarbe wieder, der erste Charakter des Urgebirges zeigte sich düsterer denn je, als die Wassermassen der Schneeschmelze über die Wände flossen.

Ein Fließen und Rauschen erfüllte die enge Schieferwelt. Zwischen hinein dröhnte der Donner stürzender Schneemassen, das Poltern des Steinschlags.

Vor dem Lusnerhofe wühlten der Sepp und die Knechte, eifrig wurde an der Freilegung der Zugänge gearbeitet, eilig, munter und hoffnungsfreudig. Die Knechte lachten vergnügt und witzelten über den »Schorschl«, der so grimmig dem Schnee auf den Leib rückte.

Gegen Mittag steigerte sich die Kraft des Föhnwindes, der Regen hörte auf, die Dunstwolken und Nebelschwaden verflüchtigten sich, das Himmelsblau ward sichtbar, und lachende Sonnenstrahlen fielen in die Schieferwelt.

Die Mägde riefen zum Essen. Am Tische der Mägde fand sich die Bäuerin ein und löffelte mit ihnen die Bohnensuppe. Sepp saß bei den Knechten, konnte aber fast nichts essen.

Es gab nach der Suppe blinde Knödel mit Sauerkraut. So sehr die Knechte die Knödel ohne Fleisch oder Speck haßten, sie schluckten tapfer, da die Bäuerin anwesend war.

Annamirl schien die Gedanken der Knechte erraten zu haben und sprach begütigend: »Ein bißl noch begnügt euch nur mit blinden Knödeln! Ihr wißt's ja, das Rauchfleisch ist aufgezehrt. Ist aber der Schnee weg, kann man hinaus ins Grabendorf, so soll sofort frischer Proviant hereingebracht werden. Also zufrieden sein derweil, und nun laßt uns beten!«

Das Dankgebet wurde im rauhen, unverständlichen Gemurmel verrichtet. Dann entfernte sich das Gesinde bis auf die aufräumende Magd«.

Auch der Sepp wollte die Stube verlassen, hatte schon den Finger in das Weihwasserkesselchen neben der Tür gesteckt, um sich nach Sitte und Brauch zu bekreuzen mit geweihtem Wasser, da rief ihm die Bäuerin zu: »Bleib noch ein bißl, Schwager, ich hab' zu reden mit dir!«

Sepp richtete einen forschenden Blick auf die Bäuerin, die auf den Abgang der Magd wartete und dann zum Schwager sprach: »Ich tät' dich bitten, einen Sarg zu zimmern. Es wird warm, in etlichen Tagen ist's aper Schneefrei., der arme Anderl soll hinabgebracht werden in sein Grab. Und tu' auch gleich sorgen, daß ein Grabstein gekauft wird. Ich geb' dir jede Vollmacht, und Geld kannst nehmen, soviel du glaubst, daß nötig ist.«

»Ist recht, Bäuerin. Hast mir – sonst noch was zu sagen?«

»Ja. Ich möcht' – Frieden machen mit dir!«

»Frieden?« stammelte, seinen Ohren nicht trauend, der überraschte Sepp.

»Ja – wenn du willst und mir verzeihen kannst!«

»Hab' ich mich nit verhört? Du gibst mir ein gutes Wort?«

»Wohl – wohl! Gern auch noch!«

Ein Wetterleuchten ging über Sepps bärtig gewordenes Gesicht, die Augen glänzten, er wollte sprechen und brachte keinen Laut über die zuckenden Lippen.

Annamirl trat zu ihm, reichte ihm die Hand und fuhr fort: »Vor allem muß ich sagen, Sepp, du bist gewiß kein Narr! Ein braver Mann bist, der mir seither ein treuer Sachwalter g'wesen ist. Ich weiß es wohl, hab' gut aufgepaßt!«

Sepp drückte die Hand der Schwägerin so kräftig, daß Annamirl ausrief: »Nit so arg, du tust mir ja weh!«

Erschreckt ließ Sepp die Hand los und stotterte: »Wie wird mir denn? Es dreht sich ja alles im Schädel! G'meint hab' ich, die Bäuerin wird mir heut zu Georgi aufkünden.«

»Sell wär' wohl unsinnig von mir.«

»Ich bin ja aber ein Narr, so meinen die Leut'!«

»Ich aber mein', es wird gut stehen um den Lusnerhof, solang' der – Narr im Schiefer lebt und schafft!«

»Dank schön für die gute Meinung! Jetzt aber will ich ein Bamlo Bäumchen. suchen zu einem hölzernen Röckl für den Anderl.«

Annamirl nickte unter Tränen und eilte aus der Stube.

* * *

Mit Schneereifen an den Füßen, mit Beil und Säge versehen, war der Sepp ausgezogen, eine Lärche zu suchen, die das Holz für den Sarg Anderls liefern sollte. Im Schiefer und auf den Lusnerschen Gründen gab es keine Lärchen, wohl aber hoch oben am Steilhang neben dem klaffenden Riß, den die letzte Steinmure gezogen hatte.

Nach einem mühevollen Aufstieg erreichte Sepp jene Stelle, ein Lärchenwäldchen auf ärarischem Grunde, also Staatseigentum. Das wußte Sepp recht wohl und darum hütete er sich, einen ihm brauchbar scheinenden Stamm zu fällen. Er band nur Beil und Säge an ihn, dann eilte er, den Lawinenstrichen vorsichtig ausweichend, zu Tal und ins Grabendorf zum Förster.

Der alte schwerhörige Beamte staunte ob des überraschenden Besuches. »Verlaubt denn der Schnee ein Herauskommen aus dem Schiefer?« fragte er. »Ich hab' gemeint, ihr seid auf dem Lusnerhof noch für eine Weil' eing'schlossen.«

»Ich bin ja nit auf dem Straßl heraus, ich komm' von der Höh'.«

»Was willst, Lusner?«

»Bitten möcht' ich um einen Lärchenstock, er soll aber nichts kosten.«

»Wozu brauchst du denn einen Lärchenstock?«

»Einen Sarg muß ich machen für meinen Bruder, der im Winter verstorben ist.«

»Was? Der Lusner Anderl ist g'storben? Mein Beileid! Ich werd' ein Vaterunser für ihn beten. Und den Lärchenstock kannst schon haben; ich glaub' aber nit, daß du aus einem Strunk Holz genug für einen Sarg gewinnst.«

Absichtlich auf die Schwerhörigkeit des Försters spekulierend, brummte der Sepp in seiner Bauernschlauheit, es stünde freilich ein »Baml« auf dem Lärchenstocke.

Der halbtaube Förster glaubte, daß der Sepp in seiner stillen Art gedankt habe, und meinte: »Ist schon recht und nit des Dankes wert! Nimm dir nur den Lärchenstock! Mußt halt die kurzen Bretter übereinandernageln, ansonsten wirst keinen Sarg machen können! Und schön wird der Sarg nit gerad' werden! Warum nimmst nit einen Fichtenstamm aus deinem Gehölz?«

Stolz erwiderte Sepp: »Ein Lusner wird nit im fichtenen Kittele begraben! Da muß allemal ein Lärchenholz her!«

Der Förster hatte die Worte verstanden. »Ihr Bergbauern seid aber schon b'sondere Querköpf'! Kaprizieren sich auf einen fürnehmen Lärchensarg, wollen aber nichts dafür bezahlen und betteln beim Ärar um einen Rodungsstock!«

Der Sepp hielt eine Aufklärung nicht für notwendig, dankte mit kräftigem Handschlag und suchte nun den Pfarrer auf, um das Ableben des Bruders und die Beerdigung anzumelden.

Selbstverständlich wollte der Pfarrer einen bestimmten Termin für die Bestattung nebst Seelengottesdienst haben, Sepp verwies jedoch auf die zurzeit noch unsicheren Schnee- und Wegeverhältnisse, auch sei es ungewiß, ob man die Leiche über oder durch die Trümmer des Bergsturzes und die Schuttmuren bringen könne.

Unter diesen eigenartigen Umständen wurde vereinbart, daß die Leiche Anderls, sobald sie zugeführt werden konnte, in der Schädelkammer über Nacht aufbewahrt, die Beerdigung dann am nächstfolgenden Tage vorgenommen werden solle.

Erst spät am Abend und völlig erschöpft kam der Sepp im Gehöft an. Aber er war höchlich zufrieden mit dem erreichten Erfolg beim Förster. Darüber sprach er aber nicht, und der Schwägerin sagte er bezüglich der Transportverhältnisse nur, daß der Anderl noch einige Zeit auf die Beerdigung warten müsse.

Früh am nächsten Morgen stieg der Sepp wieder bergan, hinauf zu seinem »Lärchenstöckl«. Listig lächelnd begann er die Fällungsarbeit, die Lärche, ein dicker Stock, auf dem das »Baml«, in Wahrheit eine mächtige Lärche, stand, wurde spannhoch über dem Boden durchgesägt und bald zu Fall gebracht.

»So, Anderl, jetzt kriegst einen noblichten Lärchenkittel – und billig dazu!« sprach Sepp befriedigt vor sich hin.

Mittags kamen die Knechte herauf, die nicht schlecht staunten über die Tatsache, daß der Sepp einen ärarischen Baum zu fällen wagte, aber nichts weiter darüber sagten. Mit Stricken wurde der Lärchenstamm zum Gehöft gezogen.

Auch Annamirl staunte ob des prächtigen Stammes, noch mehr aber über die Mitteilung des Schwagers, daß der Förster die Lärche zum Zweck der Anfertigung des Sarges geschenkt habe. »Werd' mich wohl bedanken müssen beim Förster,« setzte sie hinzu.

Trocken erwiderte Sepp: »Sell hab' ich schon getan. Ist nit nötig. Und der Förster hört schlecht, er hat's auch nit gern mit den Weibets.«

Aus dem Holze des Lärchenstammes zimmerte Sepp zunächst Anderls Sarg. So viel Holz blieb übrig, daß noch ein halb Dutzend Tröge verfertigt werden konnten.

Im Speicher lag Anderl nun im noblen Lärchensarge. Aber die rasch zunehmende Wärme drängte zur baldigen Beerdigung. Und nach Verlauf einer Woche konnte der Transport denn auch gewagt werden.

Die Knechte trugen den geschlossenen Sarg auf einer Bahre durch den Schnee; ihnen folgten die schluchzende Witwe und der Sepp, hinterdrein schritten betend die Mägde.

Das Sträßlein wurde, je weiter man ins Tal kam, bald schneefrei, war aber vom Schmelzwasser überschwemmt. Von den schwarzen Felswänden sprangen Steine ab, die polternd auf dem Sarge aufschlugen und dann zu Boden fielen.

Der wasserreiche Wildbach lärmte und schleuderte seine braungelben Wellen in die Höhe.

Das Gebet verstummte, als der Zug vor der großen Schuttmure angelangt war.

Zielbewußt traf Sepp seine Anordnungen. Die Knechte mußten den Sarg das Bett entlang tragen, das dem Wildbach gegraben worden war. Die Weiber aber schürzten die Röcke, kletterten über die Mure und rutschten auf der anderen Seite hinab.

Sepp ließ halten für eine Weile. Ein Knecht wurde vorausgeschickt zur Anmeldung des Leichenzuges, den der Mesner feierlich »einläuten« solle, und dann reihte der Sepp sich als Träger ein.

Das feierliche Geläute, das mit allen Glocken sonst nur den Bischof empfing, brachte die ganze Dorfbevölkerung auf die Füße, auch den alten Förster, der sich nicht wenig für den Sarg aus erbetteltem Stockholze interessierte.

Mit dem Hut in der Hand erwartete der Förster am Straßenrande den Leichenzug, und in sich hinein brummte er über das mächtige Geläut, das doch schwer Geld koste. Beim Anblick des unverhüllten Sarges aus bestem, allerbestem Lärchenholz riß er aber die Augen weit auf.

Alles, was gehen konnte, folgte betend den Schieferleuten auf dem Zuge zum Friedhofe. Nur der Förster ging nicht mit; er schlug die Richtung ein, die zum ärarischen Lärchenwald hoch oben im Gebirge führte. Das merkwürdige »Stöckl« wollte er aufsuchen, aus dem der Lusner den prachtvollen Lärchensarg gezimmert hatte.

* * *

Joseph Malfertheiner, der Lusner geheißen, stand in der Kanzlei vor dem k. k. Bezirkshauptmann und wies demütig den Vorladungszettel vor.

»Also der Lusner aus dem Schiefer seid Ihr! Eine interessante Persönlichkeit, von der ich schon mancherlei gehört habe!«

»Wird nit sein!« meinte ängstlich der Sepp.

»Eine merkwürdige Charaktermischung – jawohl! Noblesse und Knickerei vereint in einer Bauernseele – psychologisch sehr interessant! Ihr seid doch jener Lusner, der seinen Hof weggeschenkt hat, damit der Bruder heiraten konnte?«

»Ist sell verbot'n?« fragte der Sepp und verzog das Gesicht zu einer Jammermiene.

Der Amtmann lachte. »Nein, das ist nicht verboten, hingegen ist jeglicher Holzfrevel streng untersagt! Gegen Euch ist vom k. k. Forstamt Anzeige wegen Entwendung eines ärarischen Lärchenstammes erstattet worden. Wie kommt Ihr dazu, der Forstverwaltung einen so großen Baum zu entwenden?«

Sepp rief beteuernd: »Sell hab' ich nit getan! Der Förster hat mir den Lärchenstock geschenkt!«

»Der Förster behauptet mit aller Bestimmtheit, daß er Euch wohl den Stock, nicht aber die darauf gestandene Lärche geschenkt habe.«

»Wohl – wohl! Auch das Baml, was drauf stand, hat mir der Förster g'schenkt, weil ich ihn darum gebittet hab'!«

»Davon weiß der Förster nichts, er hat auch davon nichts gehört!«

»Mit Vergunst, Herr Bezirkshauptmann! Ich kann wahrlich nichts dafür, daß der Förster nit gut hört! Ich hab' ihn ganz besonders um das Baml gebittet, das auf dem Stock g'wesen ist!«

»Das Baml war aber eine starke, voll ausgewachsene Lärche! Einen so großen, wertvollen Stamm durfte der Förster ja gar nicht verschenken, selbst wenn er wollte. Es muß irgend etwas dazwischenliegen, irgendein Bauernkniff. Ihr mußtet Euch doch selber sagen, daß aus einem Rodungsstocke nicht so viele Bretter gewonnen werden können, um daraus einen Sarg zu zimmern! Gesteht ein, daß Ihr den Förster habt übers Ohr hauen wollen!«

»Ich hab' um den Stock und das Baml, was darauf war, gebittet! Selle Bitt' muß der Förster rein überhört haben, wenn er sagt, er tät' nichts davon wiss'n!«

»Habt Ihr diese Bitte um das ›Baml‹ laut und verständlich, so kräftig gesprochen, daß sie der Förster hören und verstehen mußte?«

»Mit Vergunst, Herr Bezirkshauptmann! Geschrien hab' ich natürlich nit!«

»Aha! Vermutlich nur gemurmelt, auf die Schwerhörigkeit des Försters spekuliert mit echter Bauernpfiffigkeit! Nun, wir werden den Fall rasch erledigt haben; der Förster wird jeden Augenblick erscheinen – vielleicht ist er schon da.«

Der Amtmann trat in die Schreibstube, wo richtig der alte Förster bereits wartete.

Sepp richtete einen ängstlichen Blick auf den eintretenden Beamten, und scheu schielte er nach dem Bezirkshauptmann.

Der erörterte nochmals den Sachverhalt und sprach laut: »Der Lusner behauptete also, er habe nicht nur um den Lärchenstock, sondern auch um das ›Baml‹, das darauf stand, gebeten. Was haben Sie darauf zu sagen, Herr Förster?«

Der alte Weidmann erwiderte: »Von einer Bitt' um ein Baml hab' ich nichts gehört.«

»Sie sind etwas schwerhörig?«

»Ja.«

»Geben Sie die Möglichkeit zu, infolge Ihrer Schwerhörigkeit die Bitte um schenkungsweise Überlassung eines Lärchenbäumchens überhört zu haben?«

»Ich habe die weiteren Worte Lusners als Dank für den geschenkten Lärchenstock aufgefaßt. Jetzt ist's mir freilich klar, daß der Lusner absichtlich so gemurmelt hat.«

»So wie der Fall liegt, ist nichts zu wollen. Von einem Forstfrevel kann nicht gesprochen werden, also auch nicht von einer Bestrafung. Der Lärchenstamm ist freilich sozusagen erschlichen worden, aber zu machen –«

»Ich möcht' bitten, daß dieser Forstfrevel unbedingt bestraft wird. Und wenn ich bis ins Ministerium laufen müßt', der Lusner muß verknaxt werd'n!«

Da trat der Sepp vor. »Ans Ministerium soll der Förster nit laufen, ansonsten erfahren die Höheren, daß der Förster nit gut hört und dienstuntauglich ist, und der Förster tät pensioniert werd'n! Sell tat das Lärchenbaml nit wert sein.«

Der Amtmann lachte hell auf und rief: »Lusner, allen Respekt vor Eurer Pfiffigkeit! Den Namen ›Narr im Schiefer‹ führt Ihr zu Unrecht! – Ihr könnt gehen!«

»B'hüt Gott mitsammen!« Sepp grüßte höflich, und schmunzelnd verließ er die Kanzlei.

Nun wandte sich der Bezirkshauptmann zum Förster. »Es geht doch nichts über Bauernschlauheit! Kein Zweifel, der Lusner hat auf Ihre Schwerhörigkeit spekuliert! Aber was ich nicht in Einklang damit bringen kann, das ist Lusners Noblesse bei Abtretung seines Anwesens an den Bruder. Wirft ein schönes Eigentum weg, knausert aber um etliche Kronen für einen Sarg! Die Bauernseele scheint unergründlich zu sein.«

Grimmig erwiderte der alte Förster: »Glauben Sie mir, Herr Bezirkshauptmann, in den meisten Fällen haben die Bauern überhaupt keine Seele. Und drei Bauern sind allemal fünf Spitzbuben. Man kann gar nit genug aufpassen!«

»Stimmt. An die höhere Instanz aber werden Sie wohl nicht gehen – was?«

»Freilich nit. Das ist ja das Ärgerlichste bei der Geschicht', daß ich mir den Bauernspott auch noch ins Gesicht sagen lassen muß! Aus der Haut fahren könnt' ich vor Gift!«

»Na, fahren Sie lieber nicht! Der Ärger wird schon verrauchen. Ich bin wahrlich darauf gespannt, was wir vom Lusner noch alles erleben werden.«

* * *

Still, fast feierlich ruhig war es im Schiefer. Ein klarer, warmer Herbsttag ging zur Rüste mit aller Farbenpracht des romantischen, zaubervollen Hochgebirges. Die bis zu den Höhen hinauf begrünten Steilhänge waren noch hell beleuchtet, wie von einem Goldstrome überflutet, der dunkle Tannenwald erglänzte im scheidenden Lichte, die Felsenzinnen flammten in roter Lohe. Über der Bergeinsamkeit wölbte sich das blaue Firmament klar und duftig. In der dunklen Schlucht rauschte der Wildbach, um Herbsteszeit und bei trockener Witterung ein zahmer Geselle; nur draußen am Tobel, wo die kleine Welt des »Schiefer« endete und noch immer die Schuttmassen jenes Bergsturzes als unentwirrbares Chaos lagerten, dort tosten die Wellen, zornig durchbrausten sie den aufgezwungenen Abfluß durch das geröllreiche Bett.

Von der Höhe herab kam eilig der Sepp zum Lusnerhofe gelaufen, sichtlich erhitzt strebte er dem einsamen Hause zu, den forschenden Blick auf den Vorplatz gerichtet. Über das Gesicht flog ein Freudenschimmer, als Sepp hart am Haustor ein Kinderwägelchen gewahrte. Doch als Kindergeschrei ertönte, war er mit wenigen Sätzen am Wägelchen, griff das Knäblein heraus, und mit zärtlichen Worten suchte er es zu beruhigen. »Bubele – brav sein! Bubele – lieb sein! Anderl feines Bubele sein!« Fürsorglich hielt Sepp das Kind in seinen Armen und schaukelte es mit leisen Bewegungen.

Und das Bubele ward ruhig, ballte die Händlein und lachte vergnügt.

»Ah so wohl, du kleines Tröpfl! Gel, Bubele, wenn der Sepp nit bei dir ist, aft'n fehlt dir was, und Bubele schreit Mordio! Bist ein feines Bubele, freilich eppas gar z' fein für ein Bauernkind, nit recht schieferig! Macht aber nichts, arbeiten braucht der Anderl nit. Dafür ist der Sepp da! Dem Bubele zulieb hab' ich mir das Streunen abg'wöhnt! Fürs Bubele arbeit' ich gern!«

An den Stalltüren erschienen Knechte, die sich mit den Ellbogen anstießen und verständnisvoll flüsterten, als sie gewahrten, wie zärtlich der Lusner das Kind der Bäuerin behandelte.

Sepp hatte nur Augen und Sinn für das Bubele, für den winzigen Bruderssohn, der erst nach Anderls Tod das Licht der Schieferwelt auf dem Lusnerhofe erblickt hatte.

Klein-Anderl schien rechten Hunger zu haben, denn er begann abermals zu schreien.

»Was hast denn, Bubele? Warum schreist denn? Hast eppa eine Putzscher' in der Fatschen! Wär' nit z'wider!« Mit dem Knäblein in den Armen trat Sepp an die Haustür und rief laut in den Flur: »He, Bäuerin, außerkomm'n! Das Bubele will was!«

Im Flur lohte das Küchenfeuer auf, Annamirl kochte eben das Abendbrot für das Gesinde. Hell rief die Bäuerin: »Gleich komm' ich! Laßt den Kleinen nur ein bißl im Wägele liegen, er wird nit verhungern!«

Sepp aber ließ sich nicht beschwichtigen, er trat in den Flur und rief: »He, Schwägerin! Z'erst kommt der Prinz, aft'n kommen die Eh'halten – verstanden!«

Jetzt kam Annamirl herausgelaufen. »Ja, was ist denn das? Ist der Schwager schon von der Alm herunten? Und den Anderl hat er natürlich wieder in den Armen! Friß den Kleinen nur nit auf, Sepp! Ist ja narret – das Getue mit dem Bubele!« Die Bäuerin nahm den Jungen lächelnd auf ihren Arm und nickte dem Schwager dankend zu.

Sepp gebot mit scherzhaftem Zorn: »Mach jetzt, daß das Bubele seine Sach' kriegt! Sell ist das Wichtigst'! Derweil koch' halt ich!«

Annamirl lachte hellauf: »Ist nit zu glauben, wie der Schwager verändert ist, seit das Bubele den Hof regiert!« Und nun verschwand die junge Mutter mit dem Büblein.

Joseph guckte in die Küche und gab dem Herddirndl Auftrag, an Stelle der Bäuerin die Krapfen aus dem heißen Fett zu nehmen. Dann machte Sepp die Runde durch die Ställe, bis die Hausglocke zum Abendessen rief.

Als Annamirl in die Eßstube kam, fragte Sepp sogleich, ob dem Bubele etwas fehle.

»Keine Angst, Schwager! Es wird nichts von Bedeutung sein!«

»Nur nit so sorglos, Bäuerin! Ich will lieber gleich gehen, auf daß morgen in der Früh der Doktor hereinkommt!«

»Wär' nit übel! Von der Alm krachmüd heimkommen und gleich wieder fortrennen, bloß weil's Bubele 's Bauchgrimmen hat! Nein – nein! Nur nit überängstlich sein!«

Hin und her wurde geredet. Sepp wollte sich nicht beschwichtigen lassen und schickte sich in der Tat an, trotz der inzwischen eingetretenen Dämmerung den weiten, beschwerlichen Marsch über die Höhen anzutreten.

Da wurde die Annamirl wild. »Der Schwager bleibt daheim, das sag' ich, die Bäuerin – verstanden! Ich hab' zu befehlen auf'm Hof! – Sei vernünftig, Sepp! Eine Mutter wird von der Kindspfleg' allweil noch mehr verstehen als ein – alter Jungg'sell! Also bleibt der Schwager daheim! Wird müd' genug sein!«

Widerwillig fügte sich der besorgte Joseph. »Ich werd' aber nachschauen in der Hausapothek'n und ein Trankl suchen! Was einem Kaibl gut tut, kann dem Bubele nit schaden!«

Annamirl lachte. »Es wird allweil netter! In seiner Ängstlichkeit wachst sich der Schwager wirklich noch völlig zum – Narren aus!«

Da beruhigte sich endlich der Sepp und streckte sich auf der Ofenbank aus, denn er war doch recht müde geworden.

»Geh' lieber ins Bett, Schwager! Das Liegen auf der harten Bank macht nur noch mehr müd'!«

»Na – na! Zum Bettgehen ist's noch zu früh! Gleich nur ein bißl will ich liegen! Die Nachtwach' fürs Bubele werd' ich selber halten!«

Ernst verwies Annamirl dem Schwager das übertriebene Getue und die unnötige Sorge. »Es muß ein End' nehmen! Sorg' du dich um die Arbeit und Wirtschaft auf dem Hof, auf daß alles nach Recht und Ordnung geht. Die Kindspfleg' aber überlaß getrost der Mutter! Auf die Weis' werd'n wir gut hausen und wirtschaften. So, wie der Schwager es jetzt treibt mit dem Bubele, so geht's nit weiter.«

»Sei nit harb, Schwägerin! Ich hab's Bubele halt narrisch gern und deswegen eine solchene Angst, daß das Bubele krank werd'n könnt'.«

»Du bist und bleibst halt doch der – Narr im Schiefer; ein lieber, guter und braver Narr! Nimm mir sell Wort nit übel, Sepp! Aber was z'viel ist, ist nit gut! – Was willst denn jetzt schon wieder?«

Der Sepp hatte sich erhoben und horchte. »Ist mir gerad' g'wesen, als hätt' ich 's Bubele schreien g'hört! Ich werd' nachschau'n!« Mit wenigen Griffen schob Sepp sich die plumpen Bergschuhe von den Füßen, in den grob gestrickten Socken huschte er davon.

»So ein quecksilbriger Narr!« zankte die Annamirl. Zu dem Gesinde aber sprach sie nun: »Tut beten und aft'n geht zur Ruh'!« –

In der Stube oben bot sich der Bäuerin ein liebliches Bild beim schwachen Scheine des Nachtlichtchens. Sepp saß auf einem Stuhle und summte dem Kleinen auf seinen Armen ein Schlummerliedchen vor, bis Klein-Anderl wirklich wieder einschlief.

Ein Weilchen ließ Annamirl den Schwager gewähren, dann nahm sie ihm behutsam das Kind ab und legte es ins Bett.

Sepp erhob sich und flüsterte: »Soll ich nit den Doktor holen? 'leicht sind's die Fraisen, die das Bubele quälen! Ich hab' solchene Angst!«

Ein Lächeln der Dankbarkeit lag auf den Zügen der jungen Mutter. Aber sie schüttelte den Kopf und erwiderte leise: »Wart' noch einen Tag! Sollt' es wirklich schlimmer werd'n, so kann ja der Schwager den Arzt hol'n. Gut Nacht jetzt, Sepp!«

* * *

Neblig begann ein neuer Morgen, ungewöhnlich lau mit zunehmender Trübung; der Föhn stellte sich ein als Vorbote eines Wettersturzes. Schon mit Tagesgrauen hatte Sepp die Arbeit begonnen, aus dem die Einsamkeit suchenden Sonderling war ein fleißiger Wirtschafter geworden, der offensichtlich bestrebt war, der Schwägerin alle Sorgen und Lasten abzunehmen.

Dabei lag oft ein Leuchten auf seinem Gesicht, das es ganz veränderte und verschönte.

Die Eßglocke rief zur Morgensuppe. Sepp erschien in der Küche und fragte nach dem Befinden des Kleinen.

Aus den geröteten Augen der Mutter sprach die Sorge so deutlich, daß der Sepp ohne weiteres nach dem Bergstock griff.

Annamirl wehrte nicht ab, nur meinte sie: »Laß dir aber Zeit! Nit so rennen! Und sag' dem Doktor, er soll ein Baldriantrankl mitbringen. Das Bubele wird wohl die Fraisen hab'n. – Laß dir also Zeit und komm gut wieder heim!«

»B'hüet Gott! Das Trankl bring' ich gleich mit.«

Ohne Frühstück lief der Sepp weg. Die Sorge trieb ihn die Felsen hinan in einem Tempo, das dem Bergsteigerbrauche völlig widersprach. Ehe der Wanderer es gewahr wurde, hatte er den »gachen Blick« schon hinter sich.

Keuchend erreichte Sepp die Grathöhe, aus allen Poren schwitzend. Scharf wehte der Wind, grau verhängt war das Firmament.

Sepp brummte vor sich hin: »Werd' mir schon Zeit lassen!« Aber er rannte doch weiter, nahm den Abstieg mit großen Sprüngen und hastete zu Tal, als würde er verfolgt.

Erschöpft kam er im Dorfe an, und zu seinem Schrecken erfuhr er, daß der Doktor über Land zu einem Patienten gefahren sei und erst spät abends wieder heimkommen werde. Von der Frau des Arztes erhielt er auf Ansuchen aus der Hausapotheke den gewünschten Baldriantee und Ratschläge für die Behandlung des kranken Kindes. Dann meldete der Sepp noch, der Herr Doktor müsse zu Fuß in den »Schiefer« wandern, weil die Bergsturzmassen einen Wagenverkehr nicht gestatteten, nahm im Gasthof etwas Suppe und dann trat er bei Regen und Sturmwind unverweilt den Rückmarsch an.

Zwei Stunden später befand er sich unweit der klippenreichen, schwarzragenden Grathöhe, die von einem wütenden Schneesturm umtost wurde. In das Geheul der Windsbraut mischte sich das Geknatter des Steinschlages. Geröll und Glimmerbrocken prasselten hernieder, dem Bergsteiger entgegen als warnende Sendboten aus dem Bereich der kämpfenden Elemente.

»Sell wird grob!« brummte der Sepp und wich schnell einem stürzenden Schieferblock aus, der in mächtigen Sprüngen daherflog. Dann suchte er Schutz vor dem Steinschlag in einer kleinen Ausbuchtung der schwarzen Schieferwand. Sie bot nur wenig Raum, doch genügend Schutz, denn die Geröllmassen hüpften im Bogen über die Wand hinaus.

Niedergekauert wartete Sepp auf ein Nachlassen des Sturmes und des Geröllregens. Er ärgerte sich über den Zeitverlust, und die Sorge um das kranke Kind nagte ihm im Herzen.

Aber stundenlang wütete der Sturm, bis endlich die Sonne wieder durchbrach. Hastig lief jetzt der Sepp bergab. Je tiefer er kam, desto geringer wurde die Gefahr des Steinschlages. Am »gachen Blick« zeigten sich aber wieder klaffende Risse im Boden, der Berg schien laufen zu wollen.

Sepp sprang in rasender Eile über die gefährdete Stelle, und kurz vor Beginn der Dämmerung erreichte er das Gehöft – keuchend, mit fliegendem Atem, durchnäßt und schwer ermüdet.

»Wie geht's dem Bubele?« fragte Sepp hastig, als er das Päckchen Baldriantee der Bäuerin überreichte.

»Vergelt's Gott für die Guttat! Mußt mir jetzt helfen, Schwager, denn allein bring' ich dem Bubele nit das Stückl Holz zwischen die Kiefer.«

»Wohl – wohl!« Eifrig und fürsorglich half der Sepp, und alle Ratschläge der Doktorsfrau brachte er vor, als eben wieder ein Krampfanfall das Kind peinigte. Behutsamer hätte eine Amme nicht zu Werke gehen können.

»An dir ist eine Hebamme verloren gangen,« lobte ihn Annamirl.

Während sie aber den Baldriantee einflößte, erdröhnte ein dumpfer Donner; erschreckt horchte die Bäuerin auf. »Was tut das wohl bedeuten?«

»Der Berg rutscht. Ist ein Glück, daß ich noch drüber 'kommen bin!« Ein Schüttelfrost erfaßte den Sepp, die Zähne schlugen ihm aufeinander.

»Bist recht narret gerennt? Und in den Sturm 'kommen? Ja – ja, jetzt hast den Frost im Blut. Gleich legst dich nieder! Ich bring' dir einen Glühwein. Folg', Schwager, denn mit so was ist nit zu spaßen, kann leicht eine Lunglentzündung draus werd'n.«

»Ah bah, wird nit sein! Zimperlich und wehleidig bin ich meiner Lebtag nit g'wesen.« Wieder durchrüttelte ihn ein Frostschauer, der kalt über den Rücken fuhr. »Saxendi! Jetzt hab' ich eine Gäns'haut auf'm Buckel!«

Nun ging der Sepp doch in seine Kammer.

Annamirl lief zur Treppe und rief dem Herddirndl zu, für den Sepp schnell einen Glühwein zu machen.

* * *

Tags darauf traf der Arzt ein, der beim Kind die Gichter, beim Sepp nach genauer Untersuchung eine Lungenentzündung feststellte. Er erteilte der erschreckten Bäuerin bezüglich der Pflege entsprechende Weisungen und ließ ihr die nötigen Medikamente zurück.

Den ersten Schrecken überwand Annamirl verhältnismäßig rasch, zumal es beim Kind keine Gefahr hatte. Am Krankenlager des Schwagers, der bereits vom Fieber erfaßt war und mit heftiger Atemnot kämpfte, erkannte die Bäuerin alsbald die Notwendigkeit, den Patienten aus seiner dumpfen Kammer in eine größere Stube mit möglichst frischer Luft zu bringen, und so wurde denn der schwerkranke Schwager in Annamirls eigene Stube getragen.

Sepp phantasierte im Fieber viel vom laufenden Berg und vom stürzenden Kreuz, das alles Glück der Lusnerleute mit in die Tiefe reiße.

Der wirren Reden achtete Annamirl anfangs nicht; sie wurde erst aufmerksam, als der Kranke von einer Liebe sprach, die er nicht hätte haben sollen, und wie verzweifelnd beteuerte, sie unterdrückt zu haben. Heftige Anfälle der Atemnot unterbrachen die wirren Klagen und Beteuerungen. Sepp schrie wirr und in abgerissenen Sätzen: »Nit so, Anderl! – Ist nit wahr! – Nur gern g'sehen hab' ich sie – ehrlich und in Ehren!«

Annamirl horchte auf jedes Wort in schwerer Beklemmung.

»Nit so lieb sein! – Nimmer derpacken können! – Anderl, nit glauben, hab' dir die Braut nit rauben wollen! Hab' auf alles verzichtet! – Keine Sorg', Anderl, alles bleibt der Annamirl und dem Bubele!«

Annamirl hatte erschüttert dem Geständnisse des Schwagers gelauscht. Jetzt galt es, den Kranken zu beruhigen. Kaum verspürte Sepp der Pflegerin Hand auf der Stirne, so ward er schon ruhig und fügsam.

Annamirl fühlte, wie jetzt ihr selbst heiß das Blut zum Herzen drängte. Die Gedanken jagten sich einander. Jauchzende Freude und tiefe Trauer vermengten sich, namenlose Angst um den Kranken peinigte sie. Was soll werden in der Zukunft, nun die Bäuerin sich geliebt weiß vom Schwager, von dem besten Menschen, den die Erde trägt? Kann und darf die Schwägerin ihm die Hand zum Ehebunde reichen? Steht nicht der Tote hindernd im Wege? Braucht sie aber nicht die Hilfe eines Mannes, soll der Sepp immerdar bis an sein Lebensende der »Narr« bleiben, der in seiner Herzensgüte alles hingegeben hat?

Bittere Erinnerungen quälten die junge Frau, peinigende Gedanken an ihr Verhalten, an die Vorwürfe und Anklagen, die sie gegen den Schwager geschleudert hatte. Einen Mörder hatte sie den Mann genannt, der nur aus Liebe zu ihr auf alles verzichtet hatte, der jetzt noch sein Leben einsetzte, um ihrem Kinde das junge Leben zu retten!

»Lieber Gott, laß ihn wieder gesund werden! Maria, hilf!« flüsterte Annamirl in ihrer Seelennot.

Übergroß wurden die Anforderungen an die Kräfte der jungen Frau. Dennoch wollte Annamirl die Pflege nicht mit einer Magd teilen, wenigstens so lange nicht, als der Schwager so wirre Reden führte.

Der zwölfte Tag brachte endlich die Krisis mit heftigem Schweißausbruche, die Temperatur wurde normal, das Bewußtsein kehrte zurück.

Der Sepp wurde wieder ausquartiert, und noch vor Eintritt des Winters war wieder alles gesund auf dem Lusnerhofe.

Aber merkwürdig – eine rechte Freude wollte nicht einkehren. Der Sepp ging der Bäuerin aus dem Wege, wo er konnte, und die Annamirl setzte eine immer trotzigere Miene auf. Sie wurde sogar wieder grob zum Schwager.

* * *

Lichtmeß war es, und das Gesinde war zur Kirche ins Grabendorf gegangen, denn der Schnee war in diesem Jahre nicht so arg.

In der Eßstube traf Annamirl den Sepp, wie er eben andächtig im Gebetbuche las. Erschreckt zuckte er zusammen, flammende Röte schoß in sein Gesicht, als die junge Frau vor ihn trat und sprach: »Schwager, ich muß heut mit dir reden. Hör' mich an und werd' nit harb!«

Der Sepp stand auf und wußte in seiner Hilflosigkeit nicht, wohin er Hände und Füße bringen sollte.

»Sag' mir bloß das eine, Sepp: warum weichst du mir aus, wo du kannst? Was hab' ich dir getan?«

Der Sepp streckte abwehrend die Hände aus: »Nit lieb sein! Lieber grob!«

»Aber, Sepp, ich kann ja eigentlich gar nit anders als lieb sein zu dir, und das Bubele hat dich ja auch so arg gern.«

»Ja, das Bubele, mein liebes Bubele!«

Annamirl atmete auf. Sie wollte den Sepp, den Narren, schon packen. Leicht flossen ihr jetzt die Worte von den Lippen, zuletzt als Haupttrumpf die Bitte, es möge der Sepp doch dafür sorgen, daß das Heimatl fest und sicher dem Bubele erhalten bleibe.

Verwundert fragte da der Sepp: »Aber wer will denn dem Bubele das Heimatl nehmen?«

»Du.«

»Ich?«

»Ja, weißt, Sepp, es ist in mir die Angst aufgestiegen, du könntest – heiraten, den Verzicht auf den Lusnerhof zurücknehmen und mich und 's Bubele verstoßen aus'm Heimatl.«

Sogar die Tränen kamen jetzt der Annamirl. Schluchzend führte sie die Schürze an die Augen.

Da schrie der Sepp in wilder Erregung auf: »Was – ich soll euch das Heimatl nehmen? Ich? Annamirl, wie hast sell nur glauben können einen einzigen Augenblick?«

»Schau, Sepp, erst bist du voll Lieb' und Gutheit g'wesen und auf einmal bist mir und dem armen Bubele feindlich 'worden.«

»Ich – dir und dem Bubele feindlich? Mein Herzblut tät' ich ja für dich und 's Bubele hergeben!«

Jubelnd rief die Annamirl und fiel ihm um den Hals: »Lieber, guter Sepp, so hast du uns doch ein bißl gern!«

»Nit so lieb sein!« wehrte der Sepp, der wieder glühendrot geworden war, sie ab. »Sei lieber grob, das vertrag' ich besser!«

»Wehr' dich, solang' du magst, Sepp, ich weiß es jetzt: gern hast mich und willst es nit sagen! Ist's wahr oder nit?«

»Wird nit sein! Kann nit sein!«

»Hast es aber selber eing'standen, Sepp!«

»Wüßt nit, wo und wann.«

»Gerad' vorhin hast's gesagt. Dein Herzblut tätst hergeben für mich, hast du gesagt. Und was du erst im Fieber geschwätzt hast, das mag ich gar nit wiedersag'n.«

Der Sepp ließ sich schwer auf die Bank fallen, denn die Füße versagten ihm den Dienst. Die Lippen bewegten sich, doch kein Ton kam hervor. Aber die leuchtenden Augen sprachen deutlich, ein sehnsüchtiges Hoffen auf Glückseligkeit kündete der zärtliche Blick.

Annamirl setzte sich an seine Seite und flüsterte: »So es Gottes Wille ist und kein Hindernis besteht, wollen wir also dem Bubele gute Eltern werden, im Frieden leben und schaffen. Der Anderl selig wird unseren Bund gewiß gern segnen!«

Nach einer Weile stammelte der Sepp: »Heut noch geh' ich und frag' den Herrn Pfarrer.«

* * *

Als der Joseph Malfertheiner in der Dämmerung der Heimat wieder zuwanderte, wollten ihn die Füße kaum tragen. Schwer war ihm der vornüberhängende Kopf, ein Stein lastete auf der Brust, an den Füßen glaubte der niedergeschmetterte Lusner Bleiklumpen hängen zu haben.

»Ich bin und bleib' halt der Narr im Schiefer!« stöhnte er während dieses bitteren Heimganges. Alle Einzelheiten der langen eindringlichen Rede, die der Geistliche an ihn gerichtet hatte, waren im Bauerngehirn nicht haften geblieben, wohl aber die Hauptsache, der Hinweis auf das turmhohe Hindernis, das seiner Verheiratung mit der Schwägerin im Wege stand. Die bange Ahnung hatte sich erfüllt – weit schlimmer, als er befürchtet hatte.

Nur an die vom Pfarrer erwähnte Möglichkeit, das Hindernis zu beseitigen, konnte sich der Sepp klammern. Je länger er aber darüber sinnierte, desto mehr verwandelte sich diese Möglichkeit in das Gegenteil infolge des vom Lusner eigensinnig festgehaltenen, in eine bestimmte Richtung gebannten Gedankenganges. Möglich wäre es ja, mit kirchlichem Dispens die Schwägerin zu ehelichen, dennoch aber unmöglich nach der Meinung Sepps, denn so ein Dispens kostet Geld.

»Sell tu' i nit!« ächzte der Lusner.

Hoffnungsfreudig begrüßte die Bäuerin den Schwager.

Der aber redete kein Wort, ging auf seine Kammer, stopfte das Nötigste in den Rucksack und rüstete sich zum Verlassen des Hofes. Als er fertig war, setzte er sich, brütete vor sich hin und hing den auf ihn einstürmenden Gedanken nach. Im Schädel summte es ihm, deutlich vermeinte er eine Stimme zu hören, die ihn einen wirklichen Narren schalt, der eigensinnig sein Lebensglück verscherzen wolle. Aber auch die andere Stimme hörte er, die ihm zurief, seine Heirat sei ein Unrecht, denn da sei Strafgeld darauf gesetzt.

Da trat plötzlich die Bäuerin über die Schwelle. Erschrocken sah sie seine Reisevorbereitungen. »Sepp, was ist's mit dir?« rief sie zärtlich und bangend, ihre Augen kündeten Angst und Sorge.

»Aus'm Weg will ich dir! Fort will ich – fort muß ich!«

»Wer schafft dir denn das Fortgehen vom Heimatl? Warum willst du mich und 's Bubele verlassen?«

Sepp zuckte wie unter einem Peitschenhieb. Sein Blick irrte an die Decke. Zornig stieß er die Worte heraus: »Schwagerleut' dürfen nit heiraten, wenigstens nit ohne Dispens.«

Aufatmend rief Annamirl: »Also, dann sag, Sepp, wie ist's zu machen? Wer auf den Dispens verwiesen hat, der hat dir sicher auch g'sagt, wie die Sach' angepackt werden muß, und was es kostet.«

»Kosten, ja! Zahlen! Wozu soll'n wir zahlen, wenn's doch verboten ist? Und ich kann ja gar nit zahl'n, weil ich 's Geld nit hab' dazu!«

»So willst du also trutzig sein, weil dir's Geld fehlt, weil du den Dispens nit zahl'n kannst?«

»Hast's erraten! Nutzt dir aber alle G'scheitheit nichts! Ich will nit, ich mag nit, und wer's nit hat –«

»Weißt was, Sepp, jetzt bist wirklich ein Narr und ein Dickschädel dazu! Was mir g'hört und dem Bubele, sell g'hört doch wohl auch dir, und wenn du sell nit haben willst, so streck' ich dir halt bis nach der Hochzeit das Geld vor. Alles hast uns g'schenkt, nichts für dich selber behalten, und jetzt wurmt's dich noch, daß du nit wieder so nobel sein und die Dispenskosten selber zahlen kannst. Hab' ich recht oder nit?«

Sepp guckte die Schwägerin groß an. Und dann kam die echte Schiefernatur zum Vorschein, als er trocken antwortete: »Bist ein g'scheites Weibsbild, wirst wohl nit alt werd'n!«

Annamirl lachte: »Schimpf' dich aus, aft'n wird dir leichter! Und jetzt pack' den Schnerfer wieder aus und verzähl' richtig, was der Herr Pfarrer gesagt hat!«

Sepp berichtete nun, daß ein Gesuch um Dispens nach Rom gerichtet werden müsse. Auf die Bewilligung könne aber gerechnet werden, da es sich um ein aufzuziehendes Kind und um die Bewirtschaftung eines Anwesens ohne Herrn handle.

»Und wie hoch sind die Gebühren?«

»So an die fünfundvierzig Kronen wird die G'schicht' kosten, sagt der Herr Pfarrer.«

»Du bist halt doch der richtige Narr!« rief die Annamirl.

Etliche Monate später wurde das Paar getraut. Der Sepp heißt immer noch der Narr im' Schiefer. Jetzt lacht er aber dazu, und die Annamirl lacht, und der Herr Pfarrer lacht, nur der Förster lacht nicht, denn der hat dem Sepp den schönen Lärchenstamm noch nicht vergessen.


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