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Christel und Wigel. Eine Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert.
von Ernst v. Wolzogen

»Spiele noch etwas, Christel!«

»Willst du eine Tanzweis'?«

»Nein, laß es fein sänftiglich gehen. Wie gestern, weißt du?« Und das Mädchen summte eine alte, schwermütige Melodie.

Das flachshaarige Bürschchen sann eine Weile nach; dann setzte es sich an das Klavier und seine Kinderhände rührten leicht die vergilbten Tasten. Spitze, dünne Töne klangen von den alten Saiten, aber klare, weiche Harmonien deckten sie wie mit einem Schleier zu, welcher das Unzulängliche den Ohren verhüllte und die eckigen Teilchen zu einem runden Ganzen verschwimmen machte. Es war die Melodie, welche das Mädchen angedeutet hatte, und sie spann sich immer weiter aus, leise sich wiegend wie ein Schlummerlied, so kindlich ahnungsreich, so traumbeglückt, so innig sehnsuchtsvoll!

Das Mädchen stützte die Ellbogen auf den Deckel des Klaviers und legte das runde Kinn in die hohlen Hände. Ernst und bewundernd blickten ihre großen, tiefblauen Augen auf den Musikanten hinunter. Um die blonden Köpfe der Kinder spielten die Strahlen der sinkenden Sonne, die sich durch die Butzenscheiben der Fensterlein und das dichte Geranke des wilden Weines, welches sie umhing, kaum hindurchzustehlen vermochten. Blasser und länger tanzten die Schatten des Weinlaubes auf den Wänden des Erkerzimmers hin und her, tiefer und tiefer sank die Sonne, leiser und leiser klang es darin von den Saiten, dann starben die Töne und die Sonne schwand. Heimliche Dämmerung huschte aus allen Winkeln des niederen Gemaches hervor und machte sich behaglich breit.

Da legte das Mädchen die linke Hand leicht auf Christels Haar und flüsterte: »Wo hast du das her?«

»Das kommt so,« sagte das Kind einfach. »Hörst du es gern, Wigel?«

Und Wigel nahm die Hände des Knaben in die ihren und streichelte sie zärtlich und sagte dazu immerfort so aus dem Herzen heraus, so mütterlich froh und staunend befangen zugleich:

»Du lieber, lieber Junge! Du lieber, lieber Junge!«

Die Mutter trat mit Licht herein und der Vater, der wackere Kantor Aloysius Weber, folgte ihr auf dem Fuße. Sie hatten die Stunde der Dämmerung benutzt, um einmal beim Nachbar vorzusprechen.

Christel und Wigel hielten sich noch an der Hand gefaßt und wandten vom Licht geblendet die Augen zur Seite.

»Wie ein ertapptes Brautpaar,« sagte der Vater, »wenn es ein heimlich Getu und Getändel gegeben hat.«

»Schäm' dich, Weber, wer wird den Kindern so Dinge in den Kopf setzen,« flüsterte die Kantorin lächelnd ihrem Gatten zu. Und laut fuhr sie fort, zu Wigel gewendet: »Ei, Jüngferlein, hat sie sich wieder mit unserm Musikus verschwätzet? Was sollen gestrenge Hochwürden, der Herr Vater davon denken? Ei, feder' dich, lauf' und spring', Dirnchen. Die Pastorsmagd steht wohl noch draußen am Brunnen im Diskurs mit dem andern Weibsvolk. Mach' dich an sie, daß du noch beizeiten heimkommst.«

Da gab Wigel jedem eine tüchtige gute Hand und empfahl sich. In der Türe wandte sie sich noch einmal um und rief Christel zu: »Du, morgen komme ich wieder!« Und sie schlüpfte die Treppe hinunter.

Die Kantorsleute traten zum Fenster und sahen ihr wohlgefällig nach. Hedwig Choinanus (die Abkürzung Wigel hatte Christel erfunden) war ein frisches, strackes Mädchen von vierzehn Jahren, des Hauptpastors Tochter. So eins von den Jüngferlein, denen man schon gut ist, wenn man sie nur von weitem sieht; die immer so einen wohlgebornen Eindruck machen, auch wenn sie gar bescheidene, alte Fähnchen um sich hängen haben; die einen so flotten, straffen Schritt, so fleischige Fingerchen, so rosige Wangen und so große ernste Augen haben.

»Ein liebes, junges Blut,« sagte die Weberin.

»Muß eine artige Hausfrau werden,« fügte der Kantor hinzu.

Sie sahen ihr nach, bis sie mit der Magd, die sie wirklich noch am Brunnen gefunden hatte, um die Straßenecke verschwunden war.

Christel zupfte seinen Vater am Rock. »Vater,« sagte er, »weißt du, woher das kommt, daß ich so aus dem Kopfe spielen kann, was mich niemand gelehrt hat? Wigel wollte es wissen.«

Aloysius Weber setzte sich in seinen Sorgenstuhl und hob den Knaben auf sein Knie. »Das ist eine Gabe, Kind, die kommt von Gott. Dafür bist du ihm alle Tage Dank schuldig.«

»So führt mir Gott die Finger, wenn ich sie auf die Tasten lege?«

»Ja, gewiß. Wenn du nicht denkst, was du spielen willst und wie die Töne zusammengehören, wenn zugleich in dir eine Melodie summt und die Finger sie auf den Tasten finden, das ist die Gabe.«

»Dann ist es ja gottlos, nach Noten zu spielen,« warf Christel nach einer kleinen Weile des Bedenkens hin und sah dabei dem Vater erwartend in die Augen.

»Ach, Christel, es gibt schon so viel gottloses Volk auf der Welt. Mache du nicht die armen Notenwürger auch noch samt und sonders dazu. Sieh', was da in Noten geschrieben steht, das hat doch auch einmal Gott dem Schreiber eingegeben, und wer es nun nachspielt, der empfängt die Gabe aus zweiter Hand, wie das Wort Gottes in der Kirche vom Herrn Pastor.«

»O, Vater, ist das schön!« rief Christel und schmiegte sich zärtlich an ihn. »Wenn ich aufschreibe, was mir so in die Finger kommt, so habe ich Gottes Stimme festgehalten, nicht wahr?«

»Was das Kind für Gedanken hat,« sagte die Mutter, nahm Christel in die Arme und küßte ihn. »Aber es ist die höchste Zeit, für so kleine achtjährige Buben, ins Bett zu gehen. Wünsche dem Vater eine gute Nacht.«

Im Bett nahm sich Christel vor, wenn er das nächste Mal am Klavier phantasiere, wollte er genau achtgeben, wann der liebe Gott komme, ihm die Finger zu lenken. Er dachte nicht daran, daß so etwas kommt wie der Schlaf. Man mag aufpassen, so sehr man will, er ist plötzlich da und man weiß nachher doch nicht, wie und wann er gekommen ist. Die Sache ging ihm im Kopf herum. Er sah hunderttausend oder noch mehr Leute, alte und junge, am Klavier sitzen und zugleich spielen, die hatten alle die Gabe. Und oben, mitten im Himmel, sah er etwas Großes, Wolkiges: das mußte der liebe Gott sein. Der paßte auf alle die Zweimalhunderttausend und mehr Hände auf und lenkte alle die zehnmalhunderttausend und mehr Finger. Und dabei hat er noch so gar viel anderes zu tun! Schlachten und Sterne zu lenken, Wind und Wetter zu machen, Gebete zu hören, leben und sterben zu lassen und alle Haare auf allen Häuptern zu zählen. Es muß sehr schwer sein, lieber Gott zu sein, dachte Christel. Es wurde ihm ganz wirr im Kopf, er konnte nicht weiter denken und schlief deshalb ein. Im Traum aber kam das Große, Wolkige immer näher gegen ihn herangeweht, wälzte sich lautlos, schrecklich durch den unendlichen Luftraum und drohte ihn zu erdrücken. Sein Herz klopfte laut, er wollte schreien und konnte nicht. Da tat er einen tiefen, tiefen Fall – Plump! Da lag er und hatte sich doch nicht weh getan. Und das Große, Wolkige war oben geblieben. Er war darunter weggefallen. Mit dieser glücklichen Empfindung sank er wieder in bewußtlosen Schlaf zurück.

Als er am nächsten Morgen sein Gebet hersagte, mußte er bei dem Worte Gott wieder an den ängstlichen Traum denken. Jenes unbestimmte große Etwas machte ihn noch in der Erinnerung zittern. Er hatte immer auf ein Großes gehofft, das ihm von oben kommen sollte, denn der Vater hatte ihm einmal am Klavier die Hand auf den Kopf gelegt und zur Mutter gesagt: »Gib acht, das Große wird kommen!« Und wenn er es nun mit seiner Kindersehnsucht herunterzöge und es erdrückte ihn? Da wäre es doch besser, darunter wegzufallen, dachte er.

Ja, Christel war ein nachdenkliches Kind!

Den Vormittag mußte er auf der Schulbank absitzen. Das verdroß ihn sehr, obschon er weiter war als alle Buben seines Alters und ihm das Lernen gar leicht ward. Aber eben darum hatten die andern Jungen argen Haß und Neid auf ihn, die Dümmsten am meisten. »Ja, das Kantorchristel freilich, ja, das ist mir eine Kunst!« Sie neckten ihn und taten ihm Schabernack an, wo sie konnten. Deshalb ließ Christel die Buben laufen und hielt sich zu den Mädchen, die ihn wohl leiden mochten! Vielleicht zog es ihn zu dem kleinen Frauenvolke, weil er schon ein ganzer Musikus war; denn so eine klingende Seele muß immer etwas Weibliches um sich haben, wenn ihr die Saiten nicht rosten sollen. Am liebsten war er aber doch allein an seinem Klavier oder mit der Geige unterm Kinn.

Nachmittags kam Pastors Wigel wieder herüber zu Christel und holte ihn zum Spaziergang ab.

»Geht mir aber nicht zu weit!« rief ihnen die Kantorin nach.

Nicht zu weit! Kann man denn weit genug gehen, wenn die Sonne so golden strahlt und die Bäume so schattig grünen, wenn das Herz so jung und das Leben so neu ist? Geht, Kinder, bis an das Ende der Welt und haltet euch an. der Hand und habet euch lieb! Und seid ihr am Ende, wo euch der Abgrund entgegengähnt, so tut einen Sprung und fallt, wie Christel im Traum, unter dem Großen weg, das sich gegen euch heranwälzt und die schöne Sonne verdeckt. Dann seid ihr glücklich gewesen!

Sie gingen zum Stadttor hinaus, immer den grünen Bach entlang, in den Wald hinein. Sie sprachen nichts, sie hörten auf das Geschwätz der Vögel, auf das heimliche Getuschel in den leise bewegten Wipfeln, auf das wichtige Gemurmel des Baches. Erdbeeren, schön reif und rot, lugten da in Menge aus dem Grase hervor. Und die Kinder duckten sich nieder und pflückten sie. Sie taten die Stiele in den Mund und bissen sich gegenseitig die Beeren von den Lippen ab.

Wie sie weiter gingen, kamen sie an eine Stelle, wo der Bach breiter wurde und schäumend um ein kleines Eiland herumfloß, auf welchem ein dichtes Gebüsch von Haselsträuchern aus dem weichsten Moosteppich hervorwuchs.

»Da müssen wir hinüber,« rief Christel aus. »Da wollen wir uns ein Nest bauen und Fink und Finkin spielen.«

»Wenn's nur nicht zu tief ist,« sagte Wigel.

»Ach was, man sieht ja alle Steine. Eia, wer zuerst Schuh und Strümpfe aus hat!«

Sie setzten sich ins Gras und zogen lachend Schuhe und Strümpfe aus. Die nahmen sie dann unter den Arm und tappten so, Christel voran, vorsichtig ins kühle, klare Wasser hinein. Sie waren fast hinüber, als Wigel auf einen wackligen Stein trat und dadurch ins Schwanken kam. Sie stieß einen kleinen Schrei aus und ließ Schuhe und Strümpfe ins Wasser fallen. Und Christel weidete sich an ihrer Angst, wie sie so mit aufgerafftem Kleid und weinerlichem Angesicht im Strudel stand. Er ließ sie erst ganz böse werden, ehe er den flüchtigen Schwimmern nachsprang.

Dann kletterten sie den etwas steilen, aber nicht hohen Rand der Insel hinauf. Sie fühlten sich stolz wie Könige in ihrem kleinen Reiche. Sie hängten die nassen Strümpfe an einen vorstehenden Zweig des Haselstrauches und legten die Schuhe in die Sonne. Dann setzten sie sich auf ihrer Landesgrenze nieder, baumelten mit den Füßen und ließen das Wasser über die Zehen laufen. Es war so schön, daß man gar nichts weiter brauchte, um glücklich zu sein. Das waren sie auch von Herzen!

»Schau die beiden,« sagte Christel und wies auf Wigels nasse Strümpfe, die der Luftzug sachte hin und her bewegte. »Wie sie tänzeln und scharwenzeln. Da, jetzt rennen sie gar mit den Köpfen zusammen, sie verschlingen sich, hui, da fahren sie wieder auseinander, als hätten sie Lust, davonzufliegen!«

»Wie ein Liebespaar,« sagte Wigel und Christel lachte aus vollem Halse darüber. Dann warf er sich in das Moos zurück, legte die Hände unter den Kopf und zog ein Knie herauf. »Du,« sagte er und machte dabei die Augen zu, »wir sind auch ein Liebespaar, nicht?«

»Ach, wie dumm!« lachte das Mädchen und warf einen großen Stein ins Wasser.

»Warum denn?« fragte jener. »Zu einem Paar gehören allemal bloß zwei und wir zwei haben einander lieb, also?«

»Ja, Mutter und Kind sind auch zwei und haben sich lieb und sind doch kein Liebespaar. Wir wollen lieber Mutter und Kind spielen. Ich bin ja bald noch mal so alt wie du, du kleiner Mann!«

»Du kleine Mama!« jauchzte Christel und versuchte sie mit sanfter Gewalt zu sich herunterzuziehen.

Lachend wehrte sie ihn ab, lachend suchte er ihren Arm festzuhalten und ließ nicht ab, sie kindisch zärtlich zu bestürmen.

Plötzlich machte Wigel ein ernstes Gesicht und bedeckte sich die Augen, als ob sie weinen wollte. Christel zog ihr ängstlich die Hände vom Gesicht, da lächelte sie ihm lieblich zu, aber nicht wie eine kleine Mama, sondern wie ein kleines Schätzchen. Ein Vogel fing ihnen zu Häupten lustig zu pfeifen an.

»Horch, was er singt,« sagte Christel und ahmte ihm nach: »Bin dir so gut, bin dir so gut! Klingt's nicht gerade so?«

»Was du singst, klinget alles so, du trauter Papagei!« sagte Wigel.

Die Sonne sank, als sie ihre glückliche Insel verließen. Singend schlenderten sie durch den Wald nach Hause, den Rauschebach entlang, wie sie gekommen waren. Und da sie heraustraten, sahen sie den Westen in ein Feuermeer getaucht; Flammen spielten auf den Fenstern der alten Stadt, die Glocken läuteten den Abend ein und jodelnd trieb ein Hirt die Herde heim. Die Kinder faßten ihre Hände fester und hörten auf zu singen. O, wie ihnen zu Mute war! Weit frommer als in der dumpfigen Kirche, wo der Doktor Choinanus gegen alles, was nicht gut lutherisch war, wie gegen den Antichristen donnerte, daß die alten Weiblein aus dem Schlafe fuhren und die Kinder vor den Reformierten und Anabaptisten mit langen Schwänzen und Teufelskrallen eine rechte Heidenangst bekamen.

Mit roten Wangen, glänzenden Augen und hungerigen Mägen kam das junge Liebespaar nach Hause, vom Himmel auf die Erde! Denn, ach, da zankte die Mutter Weberin, die sich geängstigt hatte, wer weiß wie sehr, und dort kündigte der gestrenge Herr Vater Wigel für den nächsten Tag Stubenarrest an, denn etwas Unverstand und Trockenheit, etwas Kleinlichkeit und Kümmernis muß wohl überall im Leben sein – meinen die Alten, sonst kann es nicht gut ausgehen!

* * *

Das ging nun so, so lange es ging. Die Jahre rollten vorüber und als Christel fünfzehn und Wigel einundzwanzig Sommer zählte, da hatte das Verhältnis ein ganz anderes Ansehen. Er war ein ausnehmend guter Musikus und sie eine ausnehmend schöne Jungfrau geworden. Und da der Pastor primarius ein gut Stück Geld in der Truhe verschlossen halten sollte, so konnte es nicht fehlen, daß manch eines wohlhäbigen Bürgers Sohn der liebreizenden Hedwig Choinanus gar oftermalen einen Gang zu schenken und mit sehnsüchtigen Blicken und herzbrechenden Seufzern um sie herumzustreichen begann. Tausend verliebte Gedanken flatterten wie die Motten um Wigels blauer Augen Licht und ihre langen blonden Zöpfe waren das Narrenseil, an welchem sie Kluge und Toren nach sich zog, ohne es zu wissen und zu wollen. Freilich fanden sie alle keine rechte Gelegenheit, sich so recht zutäppisch zu machen und das Löffeln und Sponsieren aus der Nähe zu betreiben, da die Jungfrau gar wenig unter die Leute kam und auf dem Tanzplan nie gesehen ward. Denn die Arme hatte schon frühe die Mutter verloren und vor drei Jahren hatte auch die alte Muhme die Welt gesegnet, die bis dahin ihre Kindheit behütet hatte, so daß nun niemand war, der sie zu den Lustbarkeiten des jungen Volkes hätte begleiten können oder, besser gesagt, dürfen, sintemal der Doktor Choinanus den fremden Frauen, welche sich wohlmeinend zu solchen Diensten erboten, sein Kind nicht anvertrauen wollte, überdies auch allem Tanz und Geschrei und Mummenschanz und Narretei von Herzen abhold war. Freilich tat es dem Mädchen oft in der Seele weh, wenn sich in den Straßen ein lustig Quinkelieren erhub und die Stadtpfeifer voran mit Ludeln und Dudeln und Zinkenieren und Posaunen, die Jungfern mit den Kränzeln im Haar und den jauchzenden Knaben an der Hand an den Fenstern der ausgestorbenen, grämlichen Pfarrei vorüberzogen. Da zuckte es ihr in den Füßen und das junge Herz begann rascher zu schlagen. Einmal hatte sie bei einer solchen Gelegenheit die Vorhänge herabgelassen, damit die neugierigen Weibsen von Gegenüber ihr nicht in die Fenster sehen könnten, hatte zierlich ihre Schuhspitzen unter den langen Röcken hervorgestreckt und ganz mutterseelenallein in der Mitte der Kammer ein Wiegen und Neigen und Drehen, immer um sich selbst begonnen und hatte dazu holdselig gelächelt, als gelte es dem Herzliebsten, bis ihr der Jammer in die Kehle stieg und die Luft versetzte. Da hatte sie sich auf ihr Bett geworfen und ein halb Stündlein lang sich ausgeschluchzt und ihr Kissen mit bitteren Zähren benetzt. Aber dann war es auch vorüber gewesen. Sie war ein stilles, gutes Kind, gehorsam ihrem Vater und geduldig ihrem Schicksal, ein rechtes, echtes Frauenbild, voll Kraft zum Leiden und so elend schwach zum Handeln.

Aber einen Trost hatte sie doch und der genügte ihr in ihrer Einfalt und Demut. Das war der Kantorchristel und seine Musik.

Wenn sie sich so recht freudlos und verlassen fühlte und das große, stumme, düstere Pfarrhaus ihr gar zu trostlos ward, dann flüchtete sie sich zu Webers, die fast ihr einziger erlaubter Verkehr geblieben waren, und dann mußte Christel seinen Zauberstab, den Fiedelbogen, zur Hand nehmen und die bösen Geister damit verjagen. Was Wunder, wenn er Wigel als ein Hexenmeister, oder gar ein Halbgott, zum mindesten als die Krone aller Buben erschien? Jünglinge ihres Alters kannte sie ja nur vom Ansehen, vergleichen konnte sie also nicht und obendrein war sie in ihrer Abgeschlossenheit ein so unerfahrenes, liebeinfältiges Ding geblieben, daß sie trotz ihrer einundzwanzig Jahre dem fünfzehnjährigen, lang aufgeschossenen, schmucken und aus der Massen gescheiten Kantorssohn weit näher stand als den jungen Männern, von denen sie nichts wußte.

So war es denn gekommen, daß die beiden, Christel und Wigel, ein wirkliches Liebespaar geworden waren. Freilich war ihrer Herzensneigung so viel Kindisches untermischt, wie Christels junge Jahre und Wigels Einfalt zusammen aufbringen konnten, und das war ein gut Teil. Und doch war es eine richtige, bräutliche Liebe, und doch glühte unter den harmlosen Rosenblättern, die ihrer beider Unschuld mit vollen Händen darüber gestreut hatte, jenes selig-unselige Feuer, welches eher Glück und Ehre und Friede und Freude in Flammen aufgehen macht, als daß es sich vom kalten Wasserstrahl der Vernunft und weiser Ermahnung löschen ließe. Sie merkten es beide, daß sie sich mehr geworden waren als Bruder und Schwester, aber sie hatten des keinen Arg: war es doch so natürlich, langsam und unversehens gekommen, daß sie sich gar nicht mehr denken konnten, wie es anders sein sollte. Der große Junge, der einst Wigel seine kleine Mama genannt hatte, sah zwar noch immer zu ihr hinauf, sie liebkoste ihn noch immer mit der huldvollen Zärtlichkeit der älteren Gönnerin, aber sie empfanden jetzt beide eine so eigene Süßigkeit in diesen Liebkosungen, ein so ängstliches Glück im Alleinsein, daß sie ihre Zärtlichkeit scheu vor den Eltern verbargen und jenes Glück selbst vor einander als Geheimnis in der Seele hüteten.

Es war ein schöner Frühlingsabend, als Christel und Wigel einst in der Jasminlaube des kleinen Pfarrgartens beieinander saßen und plauderten, oder vielmehr ganz ernsthaft redeten über das Große, das Aloysius Weber seinem Ältesten prophezeit hatte. Christel saß auf dem Boden und hatte den Kopf auf Wigels Schoß gelegt, und sie spielte in seinem krausen, jetzt braun gewordenen Haar, wie eine Edeldame, die ihren Lieblingspagen verzieht.

»Weißt du, Wigel,« hub Christel an, »früher, da ich noch ein blödes Kind war, fürchtete ich mich vor dem Großen, weil ich meinte, es könnte mich erdrücken, wenn es sich so plötzlich einmal auf meinen Scheitel niedersenkte. Ich wollte darunter wegspringen, wenn es käme. Aber jetzt weiß ich, was das Große ist, und daß es einen je stärker macht, je mehr es auf einen drückt.«

»Ei, wie denn das?« fragte Wigel.

»Ja, siehst du, wenn ich so am Klavier sitze, oder den Bogen über die Saiten ziehe, dann spüre ich das Große in mir. Aber es macht mir gar keine Angst, nur eitel Lust und unbändiges Verlangen, das auszunutzen, was mir so reich beschieden ist. Gelt, du, ich bin ein guter Musikant? Aber ich will noch ein weit besserer, ich will, helf's Gott, der beste werden!«

»Wollt', ich könnte dir dazu verhelfen,« sagte Wigel.

»Das kannst du auch, Wigel. Nächst meinem guten Vater bist du es auch zumeist, die mir bis hierher geholfen hat. Hat doch dein Beifall mein kläglich Gestümper von früh auf unterstützt, hab' ich doch dir zulieb' so eifrig gesessen und meine Kunst praktiziert, damit dir's gefallen solle, was ich neues gelernt hatte. Wenn deine blauen Augen meinem Spiele zuschauten, da war's, als ob die Finger nicht falsch greifen könnten. Ach, und jetzt, wenn ich dir mein Bestes vorgespielt hab' und diese Augen stehen voll Tränen, und du küssest mich hernach so inniglich, so ist mir das viel tausendmal so lieb, als hängte mir der Kaiser selbst ein gülden Gnadenkettlein an den Hals.«

Er sprang wild auf, fiel Wigel um den Hals, preßte sie leidenschaftlich an sich und seine Lippen auf die ihren. Es war das erste Mal, daß er es wagte, und es war das erste Mal, daß sie es ihm ängstlich wehrte. Sie wußten aber von diesem Augenblick an, wie sie sich liebten! Seine Arme ließen ihren Leib, sein Mund ließ ihren Mund nicht los. Da schloß sie die Augen und drückte mit den Händen sein Haupt noch fester an sich. Wie jagte ihnen das Blut durch die Adern, wie wirbelte die Welt um sie herum, wie bebten ihre Glieder, wie glühten ihre Lippen! Das war die Liebe!

Da fuhren sie plötzlich auseinander.

Vor ihnen stand die hohe, breitschultrige Gestalt des Pastors Choinanus. Er war vollständig gerüstet zum Ausgang, denn er war gekommen, seine Tochter zu einer abendlichen Promenade vor das Tor mitzunehmen, da stand er in seiner langen, schwarzen, pelzverbrämten Schaube, die feste weiße Krause um den Hals, die geistliche Allonge-Perücke auf dem Kopf und den hohen Stock mit silbernem Knauf in der Hand. So obrigkeitlich, so büttelhaft sah er aus, daß das arme, ertappte Paar sich ganz verbrecherisch vorkam und ihm zumute ward, als sollte es nun auf nächstem Wege zum Richtplatz geführt werden. Christel trat einen Schritt vor und machte unwillkürlich eine flehende Gebärde, welche ebensowohl heißen konnte: tu' mir nichts, als tu' ihr nichts! Er war eben doch noch ein Junge von fünfzehn Jahren. Und Wigel stieg die Scham ins Gesicht. Sie bedeckte ihr Antlitz mit den Händen und kehrte sich zitternd weg. So standen die drei eine lange Weile einander stumm gegenüber. Endlich bewegten sich des Pastors Lippen zum Reden. Wutvoll heiser und mit dem Stocke drohend rief er Christel an: »Pack' er sich! Fort, fort! Komm er mir nicht wieder unter die Augen!«

Und Christel zögerte, wollte reden – schwieg und ging.

Dann ergriff der Doktor Choinanus seine Tochter hart am Arm, zerrte sie durch den Garten, die Treppe hinauf und stieß sie in ihre Kammer hinein. Er schloß hinter ihr ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging zum Hause hinaus; er schlug den Weg zum Kantor ein.

Der gute Aloysius verwunderte sich baß über des gestrengen Herrn Pastors böse Miene und der Frau Kantorin fuhr der Schreck in die Glieder, daß sie sich geschwind setzen mußte. Die drei schlossen sich ein, und als sie nach einer halben Stunde wieder herauskamen, schritt der Pastor davon mit dem Ansehen eines Oberrichters, der soeben ein Todesurteil verkündigt hat, der Kantor begleitete ihn bis an die Haustür und machte ihm eine Reverenz mit so grimmiger Untertänigkeit wie ein Delinquent, der sich für gnädigste Strafe bedankt, und seine Frau hielt sich die Schürze vor die Augen und weinte.

»Es ist nicht möglich,« schluchzte sie; »Christel ist ein so gutes Kind, er hat in seinem Herzen keinen Platz für unehrbare Gedanken.«

»Hast's ja gehört, Mutter,« sagte der Kantor und lachte höhnisch auf, wir sind schlechtes Volk und haben unser hübsches Söhnlein zu allerlei Buberei und Liederlichkeit auferzogen. Es liegt wohl auch im Blute, haha! Wie die Alten sungen – du weißt ja! Nicht wahr, wir haben ja auch so über den Strang geschlagen und ein verliebtes Spiel getrieben in den Jahren, wo rechtschaffener Leute Kinder noch wie die lieben Englein in der Gotteswelt einhergehen und nicht wissen, von wannen sie hineingekommen sind.«

»Aloys, nicht so wild«, rief die Weberin und legte die Hände auf des Mannes Schultern. »Der Herr Pastor wird schon wieder zur Einsicht kommen, und dann tut's ihm gewiß leid, was er heute geredet hat.«

»Was schiert mich's, ob's ihm leid tut oder nicht«, fuhr der Kantor noch hitziger fort. »Gesagt ist gesagt und beschimpft hat er uns zwei. Wir sind christliche Eheleute und haben nie das Geringste nicht versäumt an unsern Kindern. Aber ich will es ihm eintränken. Warte nur. Er kann mein zierlich Passagenwerk nicht leiden, der Holzstock, der Duckmäuser – eia, am nächsten Sonntag will ich dir einen Ohrenschmaus bereiten! Mit Läufern und Trillern will ich dir zusetzen, daß –«

»Erhitze dich nicht so, Lieber,« sagte die Frau besorgt und legte ihm sanft die Hand auf den Mund. »Hüte deine Zunge und tu' nichts, was dich um Amt und Brot bringen könnte!«

Der Kantor hätte gewiß nicht unterlassen, seinem gekränkten Ehrgefühl noch weiter Luft zu machen, wenn nicht in diesem Augenblicke Christel eingetreten wäre und sich mit tränenüberströmtem, hochrotem Gesicht vor dem Vater auf die Knie geworfen hätte. Und nun sprudelten die Worte aus seinem Munde hervor, heiß und reichlich wie die Tränen aus seinen Augen, aber unzusammenhängend und vielfach von Schluchzen unterbrochen. Die Eltern horchten hoch auf, und als sie begriffen, was Christel eigentlich wollte, da setzten sie sich beide zugleich auf die nächsten Stühle und vergaßen vor Verwunderung den Mund zuzumachen.

»Ich liebe die Wigel mehr als mein Leben, ohne sie muß ich sterben, ich will sie heiraten!« das war der Inhalt von Christels wehleidig wunderlicher Herzensergießung.

Während der Doktor Choinanus mit den Eltern drunten zu Tanze trat, hatte Christel droben in seiner Dachkammer sich wie unsinnig gebärdet, also, daß sein kleines sechsjähriges Brüderlein vor Angst in einen Winkel gekrochen war und sich die Augen zugehalten hatte. Er versuchte sich den Kopf an der Wand einzurennen, aber die Wand war so hart, daß es weh tat. Er wütete in lauter Rede gegen sich selbst, daß er ein so erbärmlicher Wicht gewesen und muckstill davongegangen war, ohne wie ein Held für seine Liebste eingetreten zu sein. Jetzt hinterdrein fiel ihm alles ein, was er dem gestrengen Herrn Pastor hätte sagen müssen, wie er hätte den Arm um Wigel schlagen, sich in die Brust werfen und sprechen sollen: »Mit Vergunst, Hochwürden, die Jungfer Tochter ist meine Braut!« Ach, das war nun alles versäumt, und vielleicht hatte er es gar auf ewig mit Wigel vertan, der er von nun an immer in seiner Jämmerlichkeit vorschweben würde, als dummer Junge, der den Mund nicht auftun konnte und sich davonmachte, als der Herr Pastor den Bakel erhub. O Schmach und Scham!

Du lieber Gott, wie viele von uns haben sich nicht schon so recht trübselig, als Treppenwitzbolde und Betthelden gefühlt! Da hat uns ein übermütiges hübsches Kind eine allerliebste kleine Grobheit ins Gesicht gesagt und wir haben ein dummes Gesicht gemacht und uns dann untertänigst lächelnd hinausgetrollt, und auf der Treppe ist uns auf einmal etwas über alle Maßen Witziges beigefallen, wodurch wir in jenem Augenblick die Bosheit so köstlich hätten abstrafen und einen so glorreichen Rückzug antreten können. Oder es ist uns ein täppisches Mannsbild aufsässig geworden und hat uns zum Gespötte böser Buben gemacht und wir haben recht dumm wiedergeschimpft und dadurch noch mehr Lacher aus des Gegners Seite gebracht. Da kriegten wir auch einen großmächtigen Löwenmut, als wir des Abends zu Bette stiegen mit einem ganz fertigen Plan, wie wir's am andern Tage heimzahlen wollten, und träumten die ganze Nacht davon, wie wir den Kerl braun und blau geprügelt hätten und darauf, als sei nichts vorgefallen, mit den Händen in den Taschen und ein Liedlein pfeifend durch den dicken Schwarm der müßigen Gaffer heimgewandelt wären. Ja, so etwas muß uns allen, wenigstens in unsern Bubenjahren, schon vorgekommen sein, und wer sich nicht selbst hie und da einen Esel oder Hasenfuß gescholten hat, der ist, mein' ich, sein Lebtag so etwas dergleichen gewesen!

In dieser schönen Stimmung nun war Christel, ehe er wieder kühl werden konnte, zu den Eltern gestürzt und hatte sein übervolles Herz ausgeschüttet, so planlos, wie es eben nur ein guter Junge von fünfzehn Jahren kann.

Als er aber alles glücklich heraushatte und die Eltern darauf noch eine gute Weile stumm wie die Wachsbilder und geknickt wie die Lilien auf ihren Sesseln verharrten, da fühlte der tapfere Christel sein Herz auf einmal weit tiefer als unter der linken Brust pochen.

Die Mutter kam am ersten wieder zu sich.

»Ach, Christel, Christel, Christel,« sagte sie, »du armes Kind, hast du denn gar deinen Verstand verloren?«

Dann raffte sich der Kantor auf, nahm eine strenge Miene an sagte: »Und nun begehren der Herr Sohn wohl, daß ich mein Sonntagskleid antue und mich zum Herrn Pastor primarius zur Werbung begebe? Ei gewiß, ich bin Euer gehorsamsten Diener, Herr Lateinschüler Weber. Mutter, klopfen Sie mir doch meinen Rock aus.« Er lachte noch einigemal kurzauf und ließ sich wieder in seinen Lehnstuhl zurückfallen.

Die Kantorin trat zu dem immer noch knienden Christel und klopfte ihm begütigend auf die Schulter.

»Steh' auf, Kind, und komm' zu dir. Wie magst du nur in deinen Jahren ans Heiraten denken! Überlege dir's doch nur: ehe du noch ein rechter Mann geworden bist, wird die Wigel beinahe schon ein altes Weib sein. Und in den Jahren, wo die jungen Dirnen erst anfangen, dir nachzuschauen, würde die Wigel dir wie deine Mutter und ihre Kinder wie deine Geschwister fürkommen.«

»Ach, Mutter, ich kann doch nicht ohne sie leben!« rief Christel und warf sich ihr schluchzend um den Hals.

Sie faßte ihn bei der Hand und geleitete ihn hinaus, in das Gärtchen hinunter. Da setzte sie sich mit ihm in die kleine schattige Laube von Pfeifenkraut und sprach ihm liebevoll zu, bis seine Tränen versiegten und er ihr versprach, sich zu verhalten, wie sie es ihm weisen würde.

Dann ging die Kantorin hinaus, um ihren Mann zu beruhigen, welcher wiederum angefangen hatte zu toben, sich gar ausschweifend tyrannisch und als ein frevler Kürissenfresser und Scharrhans zu erbrüsten, was seiner Würde und sonstiger Gepflogenheit gar übel anstand.

In selbiger Nacht aber machte sich Christel durch ein Fenster im Erdgeschoß zum Hause hinaus, überstieg die niedrige Mauer des Pfarrgartens und kletterte dann in das Geäst eines üppig blühenden Apfelbaumes, der gerade unter dem Fenster vor Wigels Schlafzimmer stand.

Es war noch Licht in ihrem Zimmer und es dünkte Christel, als sehe er ihren Schatten darin umherhuschen. Also stürmte es wohl in ihrem Busen auch und sie lief hin und her, um die innere Unruhe zu bemustern. Ihr Spiegel hing noch am Fenster; der Lauscher auf seinem Ast konnte sehen, wie sie sich die langen blonden Zöpfe aufflocht. Da begann er leise zu pfeifen wie ein Vogel, und wirklich: sie horchte auf und öffnete das Fenster.

»Wigel!« rief er leise hinauf.

Wigel schrak zusammen und fuhr vom Fenster zurück.

»Ich bin es, dein Christel!«

Da ward es oben dunkel. Wigel hatte in ihrer unbestimmten Angst zunächst das Licht ausgeblasen. Dann beugte sie sich ein wenig zum Fenster hinaus, legte die hohlen Hände um ihren Mund und flüsterte:

»Geh fort, Christel, ich bitte dich; wenn uns wer hörte!«

»Ich geh nicht fort; ich muß erst wissen, wie lieb du mich hast!«

»So lieb, so lieb, Christel; aber geh, wenn du mir gut bist, geh!«

»Du weißt doch, daß wir jetzt Brautleute sind; du weißt doch, daß wir uns heiraten, müssen?«

»Ach, Christel, du armer Narr,« antwortete Wigel, und dem Ton ihrer Stimme war es anzuhören, wie ihr die Tränen dabei heraufstiegen. »Wie soll das je geschehen?«

»Wir laufen eben davon, Liebste. Weißt du, was Desperation ist? Wenn ich ohne dich leben soll, so ist mir der Tod fast sehr erwünscht.«

»Lieber Junge, sprich nicht so,« schluchzte die Jungfrau. »Mein armes Herz ist schon so schwer, so gar betrübt. Den ganzen Abend bin ich hier eingeschlossen gewesen und hab' den Vater nicht gesehen. Ich weiß nicht, was er mir bestimmt hat, aber ich zittere vor dem Tage und kann keinen Schlaf finden.«

Und dringender rief jetzt Christel herauf:

»So laß uns mit eins ein Ende machen und selband davonfliehen. Du bist mein und ich bin dein, wir gehören zusammen und dürfen nimmermehr eins das andere verlassen. Komm, winde dein Bettuch zusammen, schlinge es um das Fensterkreuz und laß dich herab zu mir. Es ist nicht hoch. Was das Tuch zu kurz ist, magst du getrost springen, ich fange dich auf und über die Mauer helfe ich dir auch.«

»Und was dann, was dann?« fragte Wigel mutlos und seufzte tief auf dabei.

»Dann gehen wir in den Wald und verbergen uns auf unserer glücklichen Insel, weißt du, wo wir einstmals deine Strümpfe trockneten. Und wenn das ärgste Geschrei in der Stadt erst vorbei ist, laufen wir weiter. Ein paar Batzen habe ich zu mir gesteckt, und wenn wir dann erst über die Grenze sind, will ich schon als Musikant verdienen, wovon wir beide genug haben.«

In diesem Augenblick ertönte dicht vor der Mauer des Pfarrgartens das Kühhorn und der Nachtwächter ließ sein Verslein erschallen.

Wigel verschwand vom Fenster.

Christel verharrte ganz still und geduldig auf seinem Ast, bis der Wächterruf in der Ferne verklungen war. Dann brach er einen blütenvollen Zelken ab und warf ihn in das noch offene Fenster hinein.

Wigel erschien und flüsterte hastig hinunter: »Es ist doch alles umsonst. Gib acht, der Wächter hat an der Mauer gestanden und jedes Wort von uns vernommen. Der hinterbringt's gewißlich meinem Vater. Geh, Christel, mach's nicht noch schlimmer als es ist. Geh, schlaf wohl und bleib mir gut.«

Damit machte sie leise das Fenster zu und erschien nicht wieder, wie sehr auch Christel durch Pfeifen und sehnsüchtigen Zuruf sie zu locken suchte.

Die Nacht war recht kühl. Er begann zu frieren und mit den Zähnen zu klappern. Da stieg er endlich vom Baum herunter. Er warf sich in das taufeuchte Gras, preßte die geballten Hände in die Augenhöhlen und schluchzte, daß es ihm schier das Herz zerbrach.

Als er sich endlich wieder aufmachte und auf demselben Wege, den er gekommen war, wieder in seine Kammer zurückkehrte, schüttelte ihm bereits ein kaltes Fieber die Glieder. Kaum behielt er noch soviel Besinnung, um sich zu entkleiden und ins Bett zu steigen.

* * *

Er war todkrank und lag viele Wochen ohne Bewußtsein.

Das erste, was Christels Geist, nachdem er zum Bewußtsein zurückgekehrt war, wieder mit der Vergangenheit verknüpfte, war ein Briefchen, welches ihm sein kleiner Bruder zusteckte. Es war in sauberen, steifen Zügen geschrieben und lautete also:

»Vielliebes Herzbrüderchen!

Ich bin schier consterniret und fast sehr verzaget, daß Du Dir die große Neigung für meine unwerthe Persohn also zu Hertzen genommen, daß sie Dich auf das Siechbette geworffen hat. Wenn es Dich etwan trösten und ermuthigen könnte, von mir zu hören, wie hoch ich Deine Liebe aestimire und erwiedre und wie ich allstündlich an Dich mit Seufzen gedenke und den gnädigen Herrn Gott um Dein theures Leben bitte, so thu Du mir solch Begehren nur zu wissen, worauf nicht verfehlen wird von sich beständig Nachricht zu geben

Deine hier und dort immer
getreue und herzlich betrübte
Wigel.«

Dies kleine Zeichen liebevollen Gedenkens erfreute den armen Kranken so sehr, daß er von Stund an einen neuen Mut zum Leben gewann und zusehends kräftiger ward. Sobald die matte Hand nur einigermaßen wieder imstande war, die Feder zu halten, ließ er sich heimlich von seinem Brüderchen Schreibzeug ans Bett bringen und kritzelte, so gut es gehen wollte, folgende Worte aufs Papier:

»Insonderheit vielgeliebte Jungfer!

Wasmaßen Ihr mir durch Euer liebenswerthes Schreiben einen großen Trost zugeführet und mich durch die Versicherung Euerer Liebe und Treue mehr gestärket und konfirmiret habt als alle Medicamente es bishero vermochten, bitte ich Euch in Demuth, Ihr wollet mir solche freundliche Gesinnung bis zu meiner, wills Gott, baldigen Genesung erhalten. Alsdann hoffe ich Euch aus Eurem dermaligen jämmerlichen Zustande zu erlösen und unsere Liebe dem von uns Beyden ersehnten Ziele entgegenzuführen. Es küßt Euch in Gedanken an Euren rothen Mundt und wird Euch ewig zugethan bleiben

Euer von der übermächtigsten
Liebe schier anfgezehrter
Christianus Weber.«

P.S. Liebste Jungfer, entschuldige Sie nur vor diesmal die schlechte
Schrift!«

Dieses Briefchen, das ihm viel Zeit und Kraftanstrengung gekostet hatte, übergab er seinem kleinen Bruder und schärfte ihm dabei ein, daß er es nur der Jungfer Choinanus selbst übergeben sollte.

Das Kind war aber so ungeschickt und töricht, daß es das Briefchen, weil sich einige Tage hindurch keine günstigere Gelegenheit hatte finden wollen, der Wigel am Sonntag in der Kirche gerade während der Predigt zusteckte. Das sahen aber nicht nur etwelche der nebensitzenden Weiber, sondern auch der Doktor Choinanus selbst von der Kanzel aus. Und da er gerade von der Feiertagsheiligung sprach und wie so viele Leute zu gar weltlichen Zwecken in das Haus Gottes träten, so benutzte er die fürtreffliche Gelegenheit, der armen Wigel kundzutun, daß er sie beobachtet habe und sie öffentlich bloßzustellen:

»Da treten sie hinein in die Kirche,« rief er, »unter dem Schein Gott zu dienen, da sie doch nur herkommen, ihre neuen Kleider, ihre schöne Gestalt, ihre Präeminenz oder sonst so etwas sehen zu lassen. Einer kommt zur Kirche wie ein Pfau und seufzt in der Ecke wie ein Zöllner, welche Seufzer aber nur zu seiner Liebsten gehen, an deren Angesicht er seine Augen weidet und um derentwillen er sich allein einstellte. Etliche leichtfertige Weibsbilder aber, und sehe ich deren mit leiblichen Augen hier sitzen, vergessen gar aller Zucht und empfahen die Brieflein ihres Buhlen, wo sie nur die Samenkörner des heiligen Evangelii empfahen sollen. Ich sage Euch, Gott wird ihre Lästerung härter bestrafen, als wenn sie sich außer der Kirche weit ärger mit Werken vergangen hätten!«

Wigel stieg die dunkle Röte bei diesen grausamen Worten in die Wangen, der Brief Christels brannte ihr in der Tasche und sie biß die kleinen Zähne fest aufeinander, um nicht in lautes Schluchzen auszubrechen. Auf dem Nachhauseweg warf sie das Schreiben, ohne es gelesen zu haben, zerdrückt und zusammengeballt in die Gosse, ohne daß es jemand sah.

Sie bekam daheim noch eine weit schlimmere Predigt von ihrem gestrengen Herrn Vater zu hören, als die in der Kirche gewesen war, und es half dem armen Mädchen wenig, daß sie der Wahrheit gemäß versichern konnte, das Brieflein ungesehen fortgeworfen, auch sonst keinen Verkehr mit dem kranken Kantorchristel mehr gehabt zu haben. Der Vater redete ihr trotz alledem so eindringlich ins Gewissen, daß das liebe, einfältige Ding am Ende selber glaubte, sie sei eine große Sünderin, eine ungehorsame Tochter und ein gottloses Geschöpf, das kein christlicher Ehrenmann zum Weibe nehmen werde, wenn sie es so forttreibe.

Um den unversöhnlichen, ergrimmten Vater nur zu besänftigen und vor seinem Schelten und Drängen Ruhe zu finden, erklärte sie sich am Schluß dieser Unterredung endlich bereit, den Hilfsprediger Paulus Lämmerzahl, den Adjunkten des Vaters, einen süßen, sanften Mann von etwa dreißig Jahren, der sich schon seit lange um ihre Hand bemühte, zum Gemahl zu nehmen. Da erweichten sich des Doktors Choinanus harte Züge, denn er wollte dem Lizentiaten Lämmerzahl wohl und wünschte sehr, ihn zum Eidam zu bekommen. Er segnete sein Kind und empfahl ihr verwirrtes, krankes Gemüt der erbarmungsreichen Liebe Gottes. Dann ging er hin, den Bräutigam zu holen.

Wigel blutete das Herz. Sie warf sich auf die Knie, betete, weinte und schrie vor Schmerz laut auf. Zehnmal faßte sie den Entschluß, davonzulaufen und bei Kantors einen Unterschlupf zu suchen; aber immer ließ sie die Klinke wieder los und warf sich schluchzend, verzagt und ohnmächtig auf ihr Bett. Sie hatte nie in ihrem Leben gewagt, einen eigenen Willen zu haben, so ließ sie denn auch jetzt einen fremden Willen über ihr Leben verfügen.

Am Abend desselben Tages ward in der Pfarrei der Verspruch getan.

Der dumme kleine Bube aber, welcher mit seinem Ungeschick so viel Unheil verursacht hatte und selbst fühlte, daß er nichts Gutes angerichtet, wagte nicht, seinen Bruder Christel durch einen wahrhaftigen Bericht zu beängstigen, sondern log ihm vor, daß er seinen Auftrag glücklich vollzogen habe und die Wigel lasse ihn schönstens grüßen und sagen, sie werde alles tun, was er in dem Schreiben begehre. Damit gab sich der gute Christel zufrieden, faßte freudigen Mut und ward von Tag zu Tag kräftiger. Die Verlobung Wigels hielt man sorgfältig vor ihm geheim.

Bald darauf an dem Tage, an welchem Christel zum erstenmal aufstehen durfte, empfing der Kantor Aloysius Weber ein großes Schreiben von dem hohen Konsistorio, in welchem ihm eröffnet wurde, daß sein unheilig Orgelspiel mit seinen frivolen Läufern und Trillern der Gemeinde, sowohl als auch des Herrn Pastors Primarii Choinanus gerechtes Mißfallen erregt habe, und daß ihm durch vorliegende ernste Vermahnung anheimgestellt werde, entweder solch weltlich Gebaren, hinfüro gänzlich zu unterlassen, oder aber der Entsetzung aus Amt und Würden, gewärtig zu sein. Die Frau Kantorin war schier untröstlich hierüber, aber Aloysius besann sich nicht lange, sondern verfaßte ein langes und bewegliches Schreiben an das hohe Konsistorium, in welchem er mit wohlgewählten Worten explizierte, daß alle Kunst, vor allem aber die edle Musika, göttlichen Ursprungs sei, daß man dahero Gott desto besser diene, je vollkommener man diese Kunst ausübe; daß freilich der Herr Pastor Primarius allerdings kein Gehör habe, und vom Kontrapunkt und der Fuge so wenig verstehe als er, Aloysius Weber, von Ebräisch und Chaldäisch – weshalb doch das hohe Konsistorium, anstatt ihn selbst wegen seiner Kunstfertigkeit zu rügen, lieber dem Herrn Doktor Choinanus anraten möge, nicht von Dingen zu reden, die außer seiner Kapazität lägen – und dergleichen, mehr. Dieses geharnischte Schreiben hatte aber keine andere Folge, als daß bald darauf vom hohen Konsistorio der bündige Bescheid kam, der Herr Kantor Aloysius Weber sei wegen seines unkirchlichen Orgelspiels sowie wegen ungeziemenden Benehmens gegen seine hohen Vorgesetzten, auch weil er sich sonsten als Familienvater nicht als einen Mann gezeigt, welchem man die Erziehung fremder Kinder anvertrauen könne – seines Amtes entsetzt und in Gnaden entlassen.

Vergrämt, verbittert packten die Kantorsleute ihre sieben Sachen zusammen, und zogen miteinander nach Leipzig, wo der Vater durch Musikunterricht die Familie ernährte und Christel, um die Universität besuchen zu können, des Sonntags auf den Tanzböden die Fidel strich.

Er hatte Wigel nicht wiedergesehen. So sorgfältig hatte ihr Vater sie bewacht.

Eine Woche nach dem Wegzug der Kantorsleute gab der Pastor Choinanus seine Tochter vor dem Altar mit dem Lizentiaten Paulus Lämmerzahl zusammen, und richtete eine große Hochzeit aus.

* * *

Wieder waren zwei Jahre vergangen. Man schrieb 1684, das böse Jahr, in welchem zum letztenmal der entsetzliche »schwarze Tod« einen Teil des unglückseligen deutschen Landes verheerte, das kaum begonnen hatte, sich von dem Elend des Dreißigjährigen Krieges etwas zu erholen. Schon 1682 war das fürchterliche Gespenst der Pest in Nordhausen erschienen, glücklicherweise jedoch ohne in weitere Ferne zu wirken. Jetzt kam das große Sterben über Leipzig und die umliegenden sächsischen und thüringischen Lande. Die Kantorsleute besaßen nicht die Mittel, um vor der Gefahr in gesundere Luft entfliehen zu können; sie mußten notgedrungen in ihrer engen, finsteren Gasse wohnen bleiben und zu allem stillhalten, was über sie verhängt wurde. Vier Fünfteile von sämtlichen Bewohnern jener Gasse starben: eine der ersten unter ihnen war die Kantorin, ihr jüngstes Söhnchen folgte ihr unmittelbar nach. Der Vater wehrte sich wie ein Mann gegen die tückische Krankheit, aber Gram und Not, Hoffnungslosigkeit und Sehnsucht nach dem verheißenen besseren Leben wanden ihm die Waffen aus der Hand – er folgte den vorangegangenen Lieben nach und ließ Christel allein in der Welt zurück.

Vater, Mutter, Bruder – sie waren alle drei im Krankenhause gestorben, denn sie waren zu arm, um sich im eigenen Hause verpflegen zu lassen. Nun lagen sie tot und tief in der Erde begraben, keines dem andern nahe, jedes mit vielen andern unbekannten Leichen in einer großen Kalkgrube. Keines der Gräber dem überlebenden Sohne bekannt; keiner der Särge von ihm hinausbegleitet; die Fenster und Türen der Wohnung mit Brettern vernagelt, die wenigen Habseligkeiten zur Deckung der Lazarett- und Begräbniskosten konfiziert oder von den Pestknechten und Leichenweibern gestohlen.

Das war alles so herzzerbrechend traurig, so unsäglich ekel und elend, daß Christel nicht einmal weinen konnte. Seit er erfahren hatte, daß Wigel verheiratet sei, war überhaupt eine stumpfe Gleichgültigkeit über ihn gekommen, die seinen jungen Jahren sehr übel anstand. Er ging während der Krankheit des Vaters jeden Morgen nach dem Lazarett und erkundigte sich nach seinem Befinden. Am letzten Morgen hatte der Hausvater in das große Buch gesehen und trocken geantwortet: »Aloysius Weber, Musikus – gestern abend sechs Uhr Todes verfahren, begraben acht Uhr,« damit das Buch laut zugeklappt und eine Prise Tabak genommen.

Da drehte sich Christel Weber, jetzt Stammhalter der Familie, auf dem Absatz herum und ging zum nächsten Tore hinaus, die geliebte Geige in einem Ledersack über den Rücken gehängt, einen selbstgeschnittenen Stecken in der Hand und ein paar Mansfelder Taler in der Tasche, welche ihm ein wohlhabender Studiosus, der ihn gut leiden mochte, aus Mitleid vor seiner Flucht aus Leipzig verehrt hatte.

Wohin nun? Es gab nur noch ein Wesen auf der Welt, zu dem ihn sein Herz zog; aber das Herz dieses einzigen Wesens war nicht mehr sein. Er wußte, daß Wigel verheiratet sei, daß sie ein Kind habe und daß auch um sie herum, in seiner Vaterstadt Weimar nämlich, die Pest tagtäglich ihre Opfer schlinge. Es war ihm selbst so ganz freud- und trostlos ums Herz, daß er seines eignen baldigen Sterbens furchtlos versichert war. Da wollte er die Geliebte wenigstens noch einmal sehen. – Vielleicht war sie auch schon hinüber, und dann, wußte er, werde es mit ihm selbst um so rascher und leichter zu Ende gehen. – Er schlug also den Weg nach Weimar ein.

Am Abend des vierten Tages nach seinem Aufbruch von Leipzig langte er an. Die Tür der Torschreiberstube war mit Brettern vernagelt; also war der alte Mann auch tot und konnte ihn nicht mehr um Woher und Wohin befragen. Das Tor stand sperrangelweit offen, denn mit Einbruch der Dunkelheit ging das Leichenfahren an, und der Pestanger lag vor diesem Tore.

Christel schritt die dunkle, wohlbekannte Straße entlang und gelangte, ohne daß er es eigentlich gewollt hatte, vor sein Vaterhaus. Da brannte Licht in der Oberstube, ein Fenster war auf, und daraus drangen die frommen Harmonien eines Abendliedes, von Kinderstimmen und einem tiefen Baß gesungen. Des neuen Kantors Kinder hatten also noch ihren Vater und konnten Gott loben und ihn um einen neuen Tag und neuen Segen bitten!

O, wie das dem armen, verlassenen Christel tief in die Seele schnitt! Sein Herz begann rasch und laut zu schlagen, und warme Tränen stiegen ihm in die überwachten, müden Augen.

»Wenn Wigel noch lebte, wenn sie mich noch liebte, wenn ich sie retten könnte, dem Tode entreißen, für mich sie gewinnen!« Und er wandte sich und schlug eilenden Schrittes die Richtung nach des Lizentiaten Lämmerzahl Behausung ein.

Gott sei gelobt! Auch hier brannte noch ein schwaches Licht, ein Hoffnungsschimmer, in dem großen Zimmer des ersten Stockes. Christel drückte mit zitternder Hand auf die Türklinke. Die Tür war verschlossen. Er hielt inne und überlegte. Es fiel ihm ein, daß vielleicht bei jenem Licht dort oben der Lizentiat als trauernder Witwer sitzen könne – und was sollte er bei dem? Erst mußte er wissen, ob Wigel noch lebe. Er versuchte eine seiner eigenen Melodien zu pfeifen, die einst seiner lieben Gespielin ganze Lust gewesen war; aber die Angst, die bebende Erwartung versetzte ihm den Atem, er konnte nicht pfeifen. Er preßte beide Hände aufs Herz, schaute hinauf zu den erleuchteten zwei Fenstern und suchte sich allmählich zu beruhigen, indem er langsam die Luft einsog und sie langsam wieder ausstieß. Es half; sein Herz begann etwas ruhiger zu schlagen, und nun gelang es ihm auch, jene Melodie zu pfeifen.

Da trat droben eine weibliche Gestalt ans Fenster und lehnte die Stirn gegen die Scheiben. »Sie ist es, sie lebt!« jauchzte Christel innerlich, und seine Lippen sprachen erst leise, und bebend, dann immer lauter den geliebten Namen aus. Oben ward das Fenster geöffnet, die Gestalt beugte sich etwas vor und flüsterte hinunter:

»Jesus! Christel, bist du es?«

»Ja, ich bin's – und du lebst!? Laß mich hinein zu dir, Wigel, die Tür ist verschlossen.«

»Ach, ich kann dich nicht hereinlassen, Lieber! Es ist Nacht, ich bin allein im Haus; mein Kind ist tot, mein Mann geflohen.«

»Ich muß hinauf, ich muß! Wigel, mach' auf, ich bitte dich!«

»Was willst du von mir? Ich bin seine Frau, wenn er mich auch schnöde verlassen hat.«

»Wigel, liebste Wigel, es ist vielleicht das letztemal, daß wir uns sehen!«

»Ja, es war das letztemal, daß wir uns sahen. Geh, lieber Junge, und werde glücklich. Ich muß doch sterben. Gott lohne dir's, daß du mich so lieb gehabt hast und noch einmal gekommen bist. Gute Nacht, und Gott segne dich!« Damit machte sie leise das Fenster wieder zu.

Christel stand unten und rang die Hände und blickte zu den erleuchteten Fenstern empor, und es war ihm, als ob er in dieser Stellung erstarren müßte und in die Erde versinken, wenn sie Wigels Leichnam zur Tür hinausgetragen brächten. So verharrte er geraume Zeit.

Da tat sich oben das Fenster wieder auf, Wigel lehnte sich hinaus und sagte schmerzlich betrübt: »Es ist ja nun doch alles gleich – warte, ich mache dir auf.« Und das Licht verschwand.

Christel schwindelte, er raffte sich mühsam zusammen, trat an die Haustür und lehnte sich gegen den Pfosten. Als aber der Schlüssel inwendig in das Schloß gesteckt und knarrend herumgedreht ward, da durchzuckte es ihn, und er gewann plötzlich Kraft und Besinnung wieder. Der Türflügel tat sich langsam auf, Christel trat über die Schwelle und faßte Wigels beide kalten, mageren Hände. Das Licht stand auf der Treppe und flackerte im Winde, der sanft durch die Tür in den Hausflur wehte. Bei diesem Flimmerschein betrachtete er die holde Geliebte seiner Kindheit. Wie war sie verändert! Die langen blonden Zöpfe waren jetzt fraulich aufgebunden, nicht mehr umspannten lustig-bunte Gewänder so knapp die festen jungen Glieder, lose hing ein weißes Nachtkleid um den schönen Leib, um die zarte Brust, die sie vor wenigen Stunden zum letztenmal dem Erstgeborenen geboten – ach, und die Augen, die frommen, blauen Augen leuchteten so groß, so geisterhaft aus dem bleichen, schmalen Gesicht!

Eine unendliche Traurigkeit erfaßte Christel, ein Gefühl, als wollte etwas in ihm zerspringen. Da legte er die feinen Hände, die er in den seinen hielt, über seine Schultern und preßte die schlanke Gestalt fest an sich, wie um das Blut aus seinem übervollen Herzen als eine frische Lebensquelle in diesen abgezehrten Leib hineinströmen zu lassen. Lange ruhten sie so Brust an Brust. Dann machte sich Wigel sanft los und sagte, matt lächelnd: »Ich hätte dich doch nicht hereinlassen sollen, Christel. Du bist gar so wild, mein heißer, lieber Junge! Das darf nun nicht mehr sein.« Und zwei dicke Tränen rannen ihr dabei langsam über die blassen Wangen. Sie schloß die Haustür wieder zu und ließ den Schlüssel innen stecken. Dann nahm sie das Licht auf und schritt die Stufen hinan, sich am Geländer mühsam hinaufziehend. Christel erfaßte sie unter den Armen und half ihr so, sie fast tragend vollends hinauf.

»Siehst du,« sagte Wigel traurig, »so weit ist es mit deinem Schatz bereits gekommen. Es wird bald gar mit ihm aus sein. Armer Schelm, daß du mit deinen jungen Augen so viel Elend sehen mußt! Weißt du einen Menschen, der glücklich ist?«

Und sie traten in die große Wohnstube. Wigel fiel kraftlos auf das alte Ruhebett, und Christel warf sich ihr laut weinend zu Füßen.

»Du darfst nicht sterben,« rief er verzweiflungsvoll, »ich bin gekommen, dich zu retten. Was hält dich noch hier? Dein Mann, der Feigling, ist jämmerlich davongelaufen, als die Seuche über die Stadt kam, dein Kind ist tot, dein Vater, der Grausame –«

»Schilt ihn nicht,« fiel ihm Wigel in die Rede, »er ist wie ein rechter Held auf der Wahlstatt geblieben. Er hat den Sterbenden den Trost des Evangeliums gereicht, bis ihn selbst der Tod ereilte. Er war streng gegen andere, vielleicht gar ungerecht, aber er schonte sich selber auch nicht und bezeugte durch seine Werke, was seine Worte gepredigt hatten. Was er an mir getan hat, vergeb' ihm Gott, wie ich ihm vergebe.«

»Wigel, ach Wigel,« fuhr Christel fort und ergriff ihre Hände, »bist du denn so gar des süßen Lebens müde? Liebst du mich denn gar nicht mehr, lieb' ich denn dich nicht mehr? – Sieh, ich bin auch mit Todesgedanken in der Seele hergekommen, aber wie ich dich ersah, so müde, so vergrämt, da ist die Kraft wieder über mich gekommen, denn ich fühle, daß ich dich retten, daß ich für dich leben muß!«

»Leben, Christel? Und mit dir? – Ich bin sein Weib!«

»Nein, mein bist du!« rief Christel und sprang auf, »mich liebst du, mir bist du bestimmt von Anbeginn. Schau mich nicht so staunend an – deine Augen glänzen wie zwei Sterne, weit vom Himmel her, aber ich will sie vom Himmel herunterholen, sie sollen mein sein. Glaubst du das immer noch nicht? Fühl' es, daß du mein bist!« Und er riß sie vom Lager empor und preßte sie glühend an sich, daß sie leise aufstöhnte. Aber wie damals in der Jasminlaube des Pfarrgartens, so wurde sie auch jetzt von dem Ungestüm des wilden Jungen hingerissen. Sie vergaß alle Gegenwehr und erglühte selbst unter seinen brennenden Küssen. Eine kurze, selige Minute lang war es ihr, als sei sie noch fähig, das Glück zu genießen und das üppige Leben zu ertragen. Das Herz schlug so voll, das Blut rann so rasch durch die Adern, ihre Muskeln spannten sich, ihre ganze Gestalt reckte sich kräftig in die Höhe und schmiegte sich fest gegen Christel, sie warf ihre Arme um seinen Hals und drückte ihre Lippen auf die seinigen. Aber, ach! das war nur ein letztes, krampfhaftes Aufbäumen lebenstüchtiger, nie gestillter Jugendlust gewesen. Im nächsten Augenblick schüttelte sie ein heftiger Fieberfrost, es lief ihr eisig über den Rücken, sie brach in die Knie und glitt zuckend an Christel nieder.

»Es ist aus,« flüsterte sie. »Lege mich hin – zum Sterben.«

Er hob sie auf und legte sie auf das Polster.

»Es soll nicht sein,« fuhr sie leise fort, »es darf auch nicht sein. Nimm das Licht, Christel, öffne die Tür dort und schau hinein.«

Er tat, wie sie ihm geheißen, öffnete die Tür und prallte zurück. Da drin lag auf dem Tisch auf ein weißes Kissen gebettet der entstellte Leichnam ihres Kindchens. Christel schauderte.

»Siehst du, Ärmster,« sprach Wigel wieder, »das ist es, was mich nach sich zieht. Ich darf nicht mit dir gehen. Ich bin Mutter – ich liebte das Kind um so mehr, als ich ihn, dem es mitgeschenkt war, nie lieben konnte. Hab' Achtung vor der Mutter, geh jetzt und laß mich sterben.«

Christel kniete wieder vor ihrem Lager hin. Sie legte die Hände auf sein Haupt. – »Ich kann einmal dein Schatz nicht sein, Lieber,« sagte sie, »laß mich deine Mutter sein, laß mich dich segnen, laß mich im Himmel für dich beten – damit will ich dir meine große Lieb' erzeigen.«

Es war jetzt totenstill im Zimmer. Nur der noch offenstehende Fensterflügel klappte vom leisen Nachtwind bewegt in regelmäßigen Zwischenräumen auf und zu, als zähle er die Minuten ab, die Wigel noch zu leben habe.

Da ließ sich von der Straße herauf, erst fern, dann immer näher, ein schauerliches, dumpfes Rasseln vernehmen. Wigel schlug die großen Augen auf, blickte wild um sich, richtete sich mühsam etwas in die Höhe, und als das Geräusch ganz nahe vor dem Hause erdröhnte, sprang sie in jacher, entsetzlicher Hast vom Lager auf, lief gegen das Fenster zu, krallte ihre Finger wie rasend in den Busen ihres faltigen Gewandes und blieb so lauschend, mit weit vorgestrecktem Halse stehen. Christel faßte sie unter die Arme, denn sie schwankte heftig und drohte zu fallen. Sie wies mit der Rechten kurz hinunter auf die Straße und raunte Christel kaum vernehmbar zu: »Horch – sie kommen! Sie holen mein Kind.«

Christel sah hinunter; da schoben sie einen großen, schwarz angestrichenen Karren heran, dessen breite Räder mit dickem Filz beschlagen waren, damit ihr nächtlich Gerassel nicht die Bürger aus dem Schlafe schrecken sollte, denn es war erwiesen, daß viele aus bloßem Schreck gestorben waren. Es war der Pestkarren, geschoben und begleitet von den Pestknechten, wüsten Gesellen, wie auserlesen, die Schergen des »schwarzen Todes« vorzustellen. Die hielten alle brennende Wachskerzen vor ihren Mund gegen die Ansteckung. So zogen sie durch die Straßen und sahen an den Häusern hinaus, wo noch eine Leiche angemeldet würde.

Wigel riß Christel, der starr auf den unheimlichen Zug hinuntersah, vom Fenster weg, klammerte sich an ihn und rief mit halb erstickter Stimme und mit fliegendem Atem: »Schütze mich, schütze mich!«

Dann brach sie plötzlich zusammen, kroch auf den Knien und den Händen nach der Tür und hielt das Ohr dicht daran.

Der Karren unten stand still. Man hörte die Stimmen der Totenknechte. Die Haustürklinke wurde ungeduldig einige Male rasch niedergedrückt, dann der schwere Klopfer gerührt, daß es hohl dröhnend durch das leere Haus schallte und Wigel jedesmal zusammenfuhr. Dann hörte man ein heiseres Fluchen und Lachen, und der schreckliche Karren setzte sich wieder in Bewegung und polterte dumpf über das schlechte Steinpflaster weiter.

Christel selbst war der Schreck so in die Glieder gefahren, daß er nicht einmal gleich Wigel beizuspringen vermochte, die sich jetzt vergeblich zu erheben suchte.

»Christel,« rief sie ihm matt zu.

Er raffte sich zusammen und schleppte sie wieder auf das Ruhebett. »Keine Rettung, Wigel? keine Rettung?«

»Nein, keine Rettung,« antwortete sie: »es ist die Pest, ich weiß es jetzt. Flieh, guter Junge, ehe du auch erfaßt wirst; flieh und laß mich allein sterben. O weh, ich fürchte, mein letzter Kuß ist wohl gar schon dein Tod gewesen. Ich will dich nicht nach mir ziehen.«

»Ach,« rief Christel, »wollte Gott, du hättest mich tot geküßt! Sterben muß ich nun doch, denn wie soll ich leben ohne dich?«

Da lief ein schwaches Lächeln über ihre Züge, und sie sprach: »Du sollst leben; gedenke an das Große, das über dich kommen muß, an deine hohe Gabe. Lieber, tu' mir einen Gefallen, willst du? Du hast ja deine Geige bei dir; spiele mir zum Abschied die Weise noch einmal, die du vorhin unter meinem Fenster pfiffest. Es war auch dieselbe, wie damals, als du auf dem Apfelbaum saßest, weißt du noch? Aber wende dich ab, schau' mich nicht an, denn das Sterben sieht garstig aus.«

Christel hätte am liebsten laut aufgeschrien und geheult, aber er wollte das Ende nicht noch schlimmer machen! So verbiß er seinen Schmerz, holte seine Geige aus dem Sack hervor, stimmte und spielte die erbetene Melodie, so ergreifend – wie nur der Jammer um ein verlorenes Glück musizieren kann. Und aus jener Melodie heraus spann er Phantasien, Töne des Wehs, der trostlosesten Abschiedsstimmung, welche ein getreues Klangbild seines Seelenzustandes waren.

Da hörte er plötzlich mitten in sein schmerzliches Singen und Klingen hinein einen schneidenden Mißton schallen, so daß er die Geige vom Kinn nahm und sich erschreckt zu dem Lager herumwendete. Es war das letzte Röcheln der sterbenden Geliebten!

Er sah sie an und schauderte. Das Gesicht war arg entstellt, und über die Wangen liefen die feurigen Peststrahlen. Er konnte den Anblick nicht ertragen und deckte, ohne daran zu denken, was er tat, seine Geige über dies einst so schöne junge Antlitz. Da schlug Wigel noch einmal die großen Augen zu ihm auf – von den Saiten der Geige wehte ein leiser Klang, und Wigel hauchte ihre Seele in das Instrument des armen Christel aus.

Der wandte sich erbebend weg.

Im Fenster stand ein Nelkenstock, von dem brach er zwei dunkelrote volle Blüten ab, die legte er der Toten auf den Mund, damit diese schwarzblauen entstellten Lippen nicht die letzte Erinnerung an sie seien. Dann drückte er ihr die Augen zu, biß sich auf die Lippen, daß das Blut herunterfloß, packte seine Geige ein und schritt die Treppe hinunter, aus dem Hause, aus dem Tore, aus dem Lande.

Das böse Fieber, welches ihn vor zwei Jahren heimgesucht hatte, bewahrte ihn jetzt vor der Ansteckung durch die gräßliche Seuche. Er lebte – und das Große kam über ihn: die Weihe eines tiefen Schmerzes und machte ihn zum edelsten Künstler.

In der Schweiz ist er in spätem Alter verstorben. Seine Werke hat man erst vor kurzem wieder an das Tageslicht gezogen und daraus ersehen, daß er ein würdiger Vorläufer des großen Sebastian Bach gewesen.

Das ist die Geschichte von Christel und Wigel. Heiteres und Weiteres. Verlag F. Fontane & Co., Berlin.


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