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Das Feuer von Fudo Sama.
Novelle aus dem japanischen Frauenleben. Von F. Kotscho-San

I.

An einem der schwülsten Sommertage des Jahres 1884 konnte man auf der flachen Kuppe eines der Hügel, welche Kioto, die ehemalige alte Hauptstadt von Japan, umrahmen, eine Gruppe von ungefähr zehn Frauengestalten wahrnehmen die sich um einen bestimmten Fleck zusammendrängten und lebhaft und aufgeregt miteinander verhandelten. Noch keine von ihnen war über die jungen Jahre hinaus, das Aussehen aller aber wurde bis fast zur Kindlichkeit verjüngt durch den Umstand, daß ihnen jegliche Spur von Haar von den runden Köpfchen glatt abrasiert war. Gewisse Eigentümlichkeiten in ihren Anzügen deuteten an, daß sie außerhalb der landläufigen Klassen der japanischen Gesellschaft standen. Aus ihren Gebärden über ersah man, daß sie die Schritte zweier anderer Frauen, die den Schauplatz noch nicht erreicht hatten, zu beschleunigen suchten.

Die ältere der Herankommenden war eine auffallende und höchst stattliche Erscheinung, eine der wenigen Frauen im ganzen Lande, auf die eine solche Bezeichnung angewendet werden konnte. Sie war nicht sehr groß von Statur, aber der Ernst und die Würde ihres Wesens verrieten einen Charakter, an welchem die zarteren weiblichen Eigenschaften nur noch geringen Anteil haben konnten. Ihre Züge trugen den Stempel trüber und schmerzlicher Lebenserfahrungen, trotzdem aber konnte sie noch immer für eine hervorragende Schönheit gelten. Sie allein hatte ihr Haupt mit einem geschmackvoll geordneten Kopftuch verhüllt.

Die jüngere, ein Mädchen von 17 Jahren und die reizendste Vertreterin japanischer weiblicher Jugend, die man sich nur denken konnte, war augenscheinlich die Schwester ihrer Gefährtin; ein Hauch hübscher, harmloser Ursprünglichkeit lag aus ihrem lieblichen, rosigen Gesichtchen, und ihren klaren, dunklen Augen sah man es an, daß noch keine Wolke der Sorge den Horizont ihres Lebens getrübt hatte. Sie erfreute sich auch noch der ganzen Fülle ihres schimmernden, schwarzen Haupthaares, und ihre Kleidung unterschied sich durch nichts von der der übrigen Damen der besseren Stände.

Als die beiden auf der Hügelkuppe angelangt waren, verstummte die Lebhaftigkeit der anderen; der Kreis öffnete sich und man sah nun, um was es sich handelte. Auf dem nur mit spärlichem Gras bewachsenen Felsboden lag ausgestreckt, leblos und mit blutender Stirnwunde ein junger, europäisch gekleideter Mann.

»O Nei-San Ältere Schwester., ist er tot?« flüsterte das junge Mädchen, mit erschreckten, weit geöffneten Augen zuerst den regungslosen Fremdling und dann ihre Gefährtin anblickend.

Die stattliche Dame, vor welcher die Schar der übrigen ehrfurchtsvoll zurückgewichen war, trat herzu, neigte sich über den Daliegenden und betrachtete ihn aufmerksam. Dann kniete sie an der Seite desselben nieder, fühlte den Puls, legte die Hand auf sein Herz und öffnete ihm vorsichtig die Augenlider.

»Die Wunde hat nichts zu bedeuten,« sagte sie, »das ist eine Schramme, die er sich zugezogen, als er niederfiel. Die Ursache seines Falles aber ist ein Sonnenstich, und zwar ein sehr ernstlicher. Schodo-San, meine Gute, lauf' zum nächsten Gehöft und hole einen Topf zum Wasserschöpfen. Du, Kogen-San, tauche deine Schärpe dort in den Quell und bringe sie her, aber hurtig. Rioi-San, du läufst schnell zu meinem Vater und meldest ihm, was du hier gesehen, dann aber nimmst du einen Jinrikischah Japanische Droschke; ein bequemer, überdachter Sitz auf zwei Rädern, von zwei oder vier Männern gezogen., fährst zum Doktor Boduin und bittest ihn, schnell zu erscheinen. Koisumi-San und Suischo-San, ihr seid stark; helft mir den Kopf des kranken Fremden aufheben und öffnet sein Kimono Oberkleid.. So, nun ist's gut.«

Sie gab dem Bewußtlosen eine angemessene Lage und benetzte sein Antlitz mit dem nassen Tuch, welches Kogen-San ihr gebracht hatte.

»Wird er sich wieder erholen, Teischin-San?« fragte die jüngere Schwester voll von Mitleid und Bekümmernis.

»Ich hoffe es, aber es wird eine Zeit dauern.«

»Kann ich nicht auch etwas tun?«

»Wenn er zu sich kommt, dann kannst du auf Englisch oder auf Holländisch ihn fragen, was ich dir sagen werde; vorläufig ist es noch nicht so weit. Jetzt aber laßt mich überlegen, was mit ihm zu geschehen hat.«

Das junge Mädchen schwieg und auch die anderen verhielten sich ganz stille. Endlich hatte Teischin-San ihren Entschluß gefaßt.

»Antoku-San,« begann sie, »geh' zum Gärtner Garada und sage ihm, er solle mir zwei seiner Leute leihen; nimm sie mit dir nach Torin-Dschei, daß sie dort den längsten Kago Tragstuhl, auch Tragebett. aussuchen und denselben hierher bringen. Zugleich aber gib Anweisung, daß das südliche Zimmer in dem neuen Anbau für einen Patienten hergerichtet werde.«

Die Botin machte sich unverweilt auf den Weg, unter den Zurückbleibenden aber erhob sich ein Gemurmel des Erstaunens.

»Ist das dein Ernst, Nei-San?« rief das junge Mädchen in höchster Verwunderung. »Du willst einen Mann, diesen Fremdling hier, nach Torin-Dschei bringen lassen?«

»Soll er etwa hier liegen bleiben und sterben, Jua?«

»Nein, o nein! Ich habe töricht gesprochen; ich war nur so überrascht. Ich freue mich recht, daß wir ihn mit uns nehmen!«

»Ursache zur Freude ist nun freilich auch nicht vorhanden; wir wollen zufrieden sein, wenn wir ohne Unannehmlichkeiten fortkommen. Dergleichen ist noch nie geschehen, allein, wenn es ein Leben zu retten gilt, dann darf wohl die Strenge der Vorschriften etwas gemildert werden. Ist's ein Unrecht, so trage ich die Verantwortung, und ich will die Schuld durch Buße und Gebet sühnen.«

»Soll ich nicht vorauseilen und das Zimmer bereiten?«

»Nein; denn wenn er erwacht, werde ich deiner bedürfen.«

Der Verunglückte aber erwachte nicht und gab auch nicht das geringste Lebenszeichen von sich, als die kräftigen Gärtnergehilfen ihn in den Kago betteten und mit ihm davongingen. Der Weg führte durch schattiges Bambusdickicht und unter blühenden Kamelienbäumen entlang, und bald passierte die kleine Prozession ein reichgeschnitztes, hölzernes Tor; dann ging's durch einen ausgedehnten, sauberen Garten und endlich hielt man vor einem niederen, weitläufigen, luftigen Gebäude, einem Seitenflügel des großen Hauses, welches unweit des pittoresken Gartentores stand. Die Schiebtüren aus durchbrochener Holzarbeit und Gitterwerk waren weit geöffnet; die beiden Gärtner trugen den Kranken auf das bereitstehende Lager und zogen sich dann schleunig zurück, denn jetzt drängten sich, flüsternd und auf den Fußspitzen, eine Menge von Frauen herzu, jüngeren und älteren, alle des Haarschmuckes ebenso bar, wie jene, die den Fremdling zuerst auf dem Hügel entdeckten, und alle von unverkennbarer Ähnlichkeit in der Kleidung. Sie betrachteten den jungen Mann mit Verwunderung und mitleidigem Bedauern und tauschten mit unterdrückter Stimme ihre Bemerkungen über denselben aus, bis eine ruhige, aber eine autoritative Handbewegung Teischin-Sans sie aus dem Gemach wies.

II.

Henry Lubau war ein junger Hamburger Patrizier von nahezu 30 Jahren; er gehörte zu jener Klasse reicher und unabhängiger junger Männer, die in keinem anderen Teile Deutschlands so eigenartig gedeihen, als gerade auf dem Boden dieser mächtigen und blühenden Seestadt. Der reiche junge Hamburger hat einen sehr bemerkbaren internationalen Zug in seinem Wesen; er bringt seine Jünglingsjahre, nachdem er eine der hohen Schulen seiner Heimat absolvierte, teils auf weiten Reisen zu Lande und zu Wasser, teils in den Kontoren befreundeter Handelshäuser in Brasilien, in Chile oder Bolivia, in China, Japan oder Ostindien zu, um dann entweder, gereift an Charakter und Anschauungen, in die Vaterstadt zurückzukehren und der »jüngere Chef« des väterlichen Hauses zu werden, oder eine dauernde Vertretung desselben im Auslande zu übernehmen.

Henry Lubau war seit zwei Jahren Chef der Filiale der Firma Lubau & Sohn in Tokio. Er hatte jüngst eine Überlandreise von Tokio nach Kioto unternommen, um die landschaftlichen Schönheiten dieses alten Stammsitzes des Mikados kennen zu lernen. Der Tag, an welchem diese Geschichte beginnt, war von ihm zur Besteigung des Dei Yama, einer der höchsten Spitzen der das Tal von Kioto einschließenden Gebirgskette, bestimmt worden, eine Aufgabe, welche angesichts des sonnenglühenden Firmaments eine etwas unzeitige genannt werden mußte. Die Luft zitterte in Hitzwellen. Lubaus Taschenthermometer wies 40° R. Als er die erste Hügelterrasse erstiegen hatte, setzte er sich in dem dürftigen Schatten einer niederen Fichte auf ein Felsstück. Er nahm seinen Korkhut ab und wehte sich Kühlung damit zu. Dann fiel ihm seine Reiseflasche ein. Er zog sie hervor; sie war leer.

»Hm,« sagte er zu sich selber. »Das ist allerdings entscheidend. Ich werde es für heute genug sein lassen. Übrigens, der Fernblick von hier aus ist auch schon ganz entzückend.«

Er ließ das Auge voll Enthusiasmus über das herrliche Panorama schweifen. Plötzlich überzog sich die Ferne wie mit dichtem Nebel.

»Was mag das sein? Regen an einem Tage wie heute?«

Er schaute angestrengter hin, und der Nebel verschwand. In demselben Augenblick aber begann ein Summen in seinen Ohren, als befände er sich inmitten eines Heuschreckenschwarmes. Zugleich fühlte er sich von seinem Sitze heruntergleiten.

»Aha!« rief er, mit äußerster Anstrengung sein Gleichgewicht wiederherstellend. »Das fehlte noch! Ich muß machen, daß ich zurück ins Gasthaus komme. Ich hätte in dieser Hitze unten bleiben sollen.«

Dreimal versuchte er sich zu erheben und dreimal sank er wieder zurück. Das erste Mißlingen ärgerte ihn; das zweite erschreckte ihn. Als er zum dritten Male wieder zurückfiel, wurde er sich nur einer gewissen mäßigen Verwunderung bewußt, denn die ganze Landschaft begann sich im Kreise um ihn herumzudrehen. Das war das Letzte, die Besinnung schwand ihm, und er hörte auf, sich für das außer ihm Vorgehende zu interessieren.

Nach einiger Zeit erweckte ihn ein Geräusch von Stimmen. Er öffnete die Augen und gewahrte, daß er nicht mehr unter dem Fichtenbaume saß, sondern ausgestreckt auf weichen Matten in einem hellen, zierlich geschmückten japanischen Gemach lag, dessen Atmosphäre von eigentümlichen, fremdartigen Wohlgerüchen durchduftet war, und daß sich außerdem einige ihm gänzlich fremde Personen in seiner Nähe befanden. Einer derselben, ein alter europäisch gekleideter Herr, redete ihn an.

»Verhalten Sie sich ganz ruhig, mein armer Freund,« sagte derselbe in etwas ausländisch betontem, aber durchaus verständlichem Deutsch; »ich werde Ihnen sagen, was Sie wissen wollen. Ich bin der Doktor Boduin und Sie sind in meiner Behandlung. Sie sind draußen auf dem Berge von einem Sonnenstich getroffen worden und haben infolgedessen ein Fieber durchmachen müssen; gegenwärtig befinden Sie sich in den besten Händen. Nur sprechen dürfen Sie noch nicht, wenigstens heute noch nicht. Warten Sie damit bis morgen, spätestens bis übermorgen. Verstanden?«

Der Patient hatte weder Lust noch Kraft, diesem Gebote ungehorsam zu sein; er schloß daher geduldig die Augen. Als er sie wiederum öffnete, fand er die Situation unverändert. Er wußte nicht, ob seit seinem ersten Umblick eine Stunde oder ein Tag vergangen war. Seine eigene Verfassung aber hatte sich seitdem merklich gebessert, denn er vermochte die Personen nunmehr ganz deutlich voneinander zu unterscheiden und auch die Merkmale jeder einzelnen zu erkennen. Der Herr, der sich ihm als Doktor Boduin vorgestellt hatte, war einer jener ärztlichen Missionare, wie sie in Ostasien ziemlich häufig anzutreffen sind; Lubau sollte jedoch Gelegenheit haben, in demselben, allen seinen bisherigen Erfahrungen zum Trotz, einen Mann zu finden, der völlig auf der Höhe der Wissenschaft stand, was im allgemeinen von ärztlichen Missionaren nicht behauptet werden kann. Neben dem Doktor stand ein japanischer Herr in vorgeschrittenem Alter und von wohlwollendem und intelligentem Gesichtsausdruck. Im Hintergrunde knieten zwei junge Japanerinnen auf den Matten des Fußbodens. Eine derselben imponierte ihm durch den statuenhaft strengen Ausdruck ihres schönen Gesichtes; in bezug auf die andere aber, die kaum dem Kindesalter entwachsen zu sein schien, gestand er sich unwillkürlich, daß er in diesem Lande der niedlichen, lächelnden Mädchengesichter noch keins von so wahrhaft bestrickendem Liebreiz wie das ihre angetroffen habe.

»Ihr Zustand hat seit gestern recht erfreuliche Fortschritte gemacht,« sagte Doktor Boduin mit zufriedenem Kopfnicken. »Nun mögen Sie plaudern und fragen soviel Sie wollen.«

»Möchten Sie mir nicht zuerst sagen, wo ich mich befinde?« fragte Lubau, noch immer schwach.

»Gut. Ich werde Sie mit Ihren Freunden und Vettern bekannt machen. Dieser Herr hier ist mein Kollege, der Doktor Schiroyama, der Sie von Anfang an mit mir zugleich behandelt hat. Diese Dame, Teischin-San, ist seine älteste Tochter und gegenwärtig Ihre Wirtin; jene dort ist Herrn Schiroyamas jüngstes Töchterchen. O-Ina-San, deren Bekanntschaft Sie noch ganz speziell machen werden, da Sie Ihre Dolmetscherin werden soll.«

Der Vater verbeugte sich mit recht japanischer Höflichkeit, und die Schwestern neigten sich langsam nach vorn, bis ihre Stirnen die Matten berührten.

»Aber wann – wie –« stotterte Lubau in Verwirrung.

»Hören Sie mir gütigst weiter zu,« fuhr der Doktor fort. Diese beiden Damen haben Sie vor 14 Tagen – ja, heute sind's gerade 14 Tage – gelegentlich eines ihrer kleinen Spaziergänge, ungefähr ein halbes Kilometer von hier entfernt, besinnungslos auf der Erde liegend gefunden. Anfänglich waren dieselben von dem Anblick nicht sehr erbaut, denn gewöhnlich sind die Europäer, die man hier zu Lande so auf den Straßen herumliegen sieht, mehr oder weniger Trunkenbolde. Teischin-San aber, eine Dame, die mehr Verstand und praktischen Sinn hat, als die meisten Männer meiner Bekanntschaft, erkannte bald, daß Sie tatsächlich krank, sogar schwer krank waren, und ließ Sie ohne Zögern hierher schaffen. Und das war ein Glück für Sie, Herr Lubau. Hätte man Sie liegen lassen, oder wären Sie in ungeschickte Hände geraten, so hätten wir später viel Not mit Ihnen gehabt.«

»Sie nannten meinen Namen – woher –«

»Den erfuhr ich in Nakamuras Gasthaus; wir wissen uns zu helfen. Ihre Sachen sind übrigens auch hierher geschafft worden. Sie sind jetzt so weit hergestellt, daß Sie auch anderswo keine Gefahr mehr laufen würden, allein ich rate Ihnen wohlmeinend, Ihr gegenwärtiges Quartier vorläufig noch nicht zu verlassen. Bessere Wärterinnen als hier finden Sie in der ganzen Welt nicht. Teischin-San weiß soviel wie jeder Arzt, und Ina wird Sie unterhalten und Ihren Verkehr mit den übrigen vermitteln.«

Henry Lubau hätte hier die Bemerkung anbringen können, daß er in letzterer Hinsicht die Dienste der jungen Dame nicht nötig habe, allein er fühlte sich zu hinfällig, um auch nur die kleinste Erklärung oder Erörterung zu beginnen. Außerdem sagte er sich, daß er dann des besten Teils der angekündigten Geselligkeit verlustig gehen würde.

»Es verhält sich ohne Zweifel alles so, wie Sie sagen, Herr Doktor,« sagte er nach einigem Besinnen. »Ich danke Ihnen von Herzen. Sie und die Herrschaften meinen es gut mit mir. Gott lohne es Ihnen.«

»Gewiß, mein Freund, hier meint es jeder mit Ihnen gut,« nickte der Doktor. »Was nun Ihren Verkehr mit den Herrschaften hier betrifft, so müssen Sie wissen, daß Ina ein leidliches Englisch und ein ganz vorzügliches Holländisch spricht. Ich selber bin ein Holländer, und Sie wissen wohl, daß seit Jahrhunderten unsere Sprache der vornehmeren Bevölkerung dieses Landes bekannt und geläufig ist. Sie werden aber wahrscheinlich die englische Sprache wählen, denn Holländisch lernt in Europa, außer den Holländern, kein Mensch.«

»Ganz recht,« entgegnete Lubau. »In Japan aber lernt man's, und so kann ich der jungen Dame die Wahl freistellen. Wird aber Taischin-San mit meinem längeren Verweilen auch ganz einverstanden sein?«

»Für die bürge ich,« sagte der Doktor. »Sie sind jetzt bereits zwei Wochen hier, warum nicht noch eine dritte?«

»Könnte aber der Vater nicht seine Bedenken haben?«

»Dieser Einwand freut mich. Lassen wir aber den Doktor Schiroyama für sich selber reden.«

Lubaus Frage wurde dem würdigen Herrn von seinem europäischen Kollegen übersetzt und erhielt eine Antwort, deren warme Bereitwilligkeit und edle Höflichkeit den jungen Mann tief rührte. Er entgegnete mühsam einige Worte, dann aber wurde seine geschwächte Natur von seinen Empfindungen überwältigt und Träne auf Träne rollte ihm über die bleichen Wangen. Kaum hatte Ina dies bemerkt, als das unter dem trefflichen Volke der Japaner ganz besonders wirksame sympathische Mitgefühl auch ihren schönen Augen die kristallenen Tropfen entlockte, während ihr Vater an den Patienten herantrat und demselben abwechselnd bald die Schulter klopfte und bald den Puls fühlte. Schiroyamas älteste Tochter aber verzog keine Miene.

»Sie sind noch immer schwach, lieber Freund,« bemerkte Dr. Boduin. »Haben Sie aber nur noch ein paar Tage Geduld, dann sind Sie wieder der Alte. Aber was gibt's denn? Ina weint?«

»Es tut mir weh, mein Fräulein, Ihnen Sorgen zu verursachen,« sagte Lubau zu der jungen Dame gewendet. »Ich geriet nur außer Fassung, weil ich nicht weiß, wie ich Ihnen und den Ihrigen jemals danken soll.«

Und indem er diese Worte langsam und in ziemlich verständlichem Holländisch hervorbrachte, lächelte er so freundlich, als er dies mit seinem abgezehrten Gesicht vermochte.

»Nicht ›mein Fräulein‹, wenn's gefällig ist,« antwortete das Mädchen, auf dessen Antlitz sich im Nu wieder der hellste Sonnenschein zeigte. »Ich bin Ina. Und nicht danken, nicht danken! Wir sind so froh, wenn wir nur helfen können.«

»Ein prächtiges Kind!« sagte der Doktor jetzt in seiner Muttersprache. »Sie liegen wohl aufgehoben im Klee, mein junger Freund. Meine Anwesenheit ist nun nicht mehr nötig. In zwei, drei Tagen werde ich Ihrer Diät wegen wieder vorsprechen. Wenn Sie nur etwas guten Rotwein trinken könnten, aber das ist ein Luxus hierzulande, den Sie gar nicht mit Geld bezahlen können. – Nun wollen wir unseren Patienten wieder zur Ruhe kommen lassen. Ina, du bleibst in der Nähe; denke aber daran, daß der Herr noch nicht zu viel reden darf.«

Die Damen, die noch immer knieten, neigten sich wiederum bis auf die Matte und zogen sich dann zurück. Schiroyama folgte denselben und auch Dr. Boduin schickte sich zum Gehen an. Lubau aber hielt ihn zurück.

»Ich verstehe es nicht,« rief er, »ich verstehe fast nichts von allem, was um mich vorgeht. Helfen Sie mir doch, Herr Doktor!«

»Warten Sie bis morgen, Herr Lubau. Sie haben für heute gerade genug Aufregung gehabt.«

»Ich kann und will nicht warten. Wie kommt es, daß wildfremde Japaner mich an einem mir gänzlich fremden Orte so liebevoll behandeln? Und ich glaube sogar, daß sie mir das Leben gerettet haben!«

»Das haben sie ganz ohne Zweifel.«

»Wer ist diese Dame Teischin-San? Ist sie verheiratet? Wem habe ich zuerst zu danken?«

»Ihr allein, und vielleicht auch ihren Genossinnen. Sie ist hier die Oberin und Herrin.«

»Aber ihr Vater?«

»Der hat hier keine besondere Autorität. Er wohnt nicht einmal hier; sein Einfluß ist jedoch nicht ohne Belang. Sie befinden sich in den allerbesten Händen, darüber können Sie sich beruhigen.«

»Ich hätte nimmer erwartet, eine solche aufopfernde Gastfreundschaft in einem japanischen Hause zu finden.«

»Aber warum nicht? Übrigens sind Sie hier in keinem gewöhnlichen Hause, das kommt auch in Betracht.«

»Und wo bin ich denn? Dr. Boduin, ich beschwöre Sie, nun endlich mit den Heimlichkeiten aufzuhören!«

»Von Heimlichkeiten ist gar keine Rede. Sie befinden sich in einem japanischen Frauenkloster.«

Lubau wäre vor Erstaunen beinahe aus dem Bett gesprungen.

»Unmöglich!« rief er. »Sie treiben Ihren Scherz mit mir!«

»Ich rede im Ernst. Ihr Erstaunen aber ist gerechtfertigt. Das Ding ist ganz ungewöhnlich. Bisher hat noch kein Ausländer einen Fuß in das Kloster setzen dürfen, und ich bin im Prinzip auch vollständig hiermit einverstanden, mag nun vorliegen, was da wolle. Als aber das hochherzige Weib Sie draußen in der Sonnenhitze liegen sah, da war es ihr erster Impuls, Sie hierher zu bringen, um Sie vom Tode zu erretten. Unsere Nonnen unterscheiden sich wesentlich von denen anderer Klöster, die nur religiöse Übungen treiben. Man kennt und liebt sie weit und breit als barmherzige Samariterinnen. Teischin-San bestand darauf, daß man Sie bis zu Ihrer vollständigen Herstellung im Hause behalten müsse, und Schiroyama sowohl als ich konnten nicht anders als beipflichten.«

»Und Ina?«

»Ina ist ein Kleinod. Sie gehört nicht zu den Nonnen, wenigstens ist sie noch nicht mehr als eine Novize. Ihre Schwester hat die Absicht, sie erst später dem Kloster einzuverleiben. Sie ist noch zu sehr Kind. Und hierbei möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß dieses Kloster in gewissem Sinne lauter Kinder beherbergt, lauter Frauen, die von dem, was in der Welt zugeht, keine Ahnung haben. Die Sache eines Ehrenmannes ist es daher, diese Unerfahrenheit und Harmlosigkeit zu respektieren. Die Damen sind sämtlich von bester Herkunft und haben eine dementsprechende Erziehung genossen. Das will allerdings nicht viel sagen, allein man hat sie doch gelehrt, alles Gute zu tun, was in ihrer Macht liegt. Vergessen Sie also nicht, daß alle, mit denen Sie in Beziehung kommen werden, Kinder sind, mit Ausnahme von Teischin-San, deren Erfahrungen allerdings umfassender sind.«

»Ich werde mich Ihrer Worte jederzeit erinnern,« entgegnete Lubau, auf den die ernste Wärme, mit welcher der Doktor gesprochen, ihre Wirkung nicht verfehlt hatte.

»Ich bin überzeugt davon,« sagte dieser. »Nun aber gehaben Sie sich wohl. Auf Wiedersehen in vierundzwanzig Stunden.«

III.

Als der Patient am nächsten Morgen aus erfrischendem Schlafe erwachte, gewahrte er neben seinem Lager ein Teebrett, auf welchem mit augenscheinlicher Sorgfalt eine Menge von Sächelchen aufgebaut waren, die aber nur zum Teil die saubere und unnachahmlich geschmackvolle Herstellungsart aufwiesen, die der Europäer so gern an den Erzeugnissen japanischer Industrie bewundert. Zarte Kioto-Täßchen standen in Schalen aus grober englischer Importware; prächtige, seltsame Blumen blühten in billigen europäischen Porzellanvasen; in einer kostbaren Satsuma-Schüssel lagen Messer und Gabel mit dem Solinger Stempel; an einer kleinen, bewunderungswürdig mit Gold und Silber ausgelegten Bronzeglocke hatte man in der Eile einen plumpen Holzstiel befestigt. Am bemerkbarsten aber machte sich eine Flasche von bekannter Form, beklebt mit dem ebenso bekannten lügenhaften Zettel und angefüllt mit jener schauerlichen, karmesinroten Flüssigkeit, die den im fernen Osten weilenden Europäern als das Erzeugnis von Burgund oder Bordeaux – und leider nur selten vergeblich – zugemutet wird.

Während er noch diese Ausstellung betrachtete, bemerkte er, daß die Fusuma Schiebetür. am anderen Ende des Gemaches sich in ihrem Falz ungefähr mit der Schnelligkeit von einem halben Zoll in der Minute zurückschob. Er beobachtete den Vorgang und gewahrte bald in dem sich erweiternden Spalt einen Streifen von einem Menschenantlitz nebst einem unverwandt auf sich gerichteten Auge. Ohne noch eine weitere »Eröffnung« abzuwarten, erhob er winkend die Hand und rief munter auf holländisch:

»Ich sehe dich schon Der Japaner kennt keine andere Anrede als »du«., O-Ina-San, komm' nur dreist herein!«

Die Fusuma fuhr zur Seite und das junge Mädchen hüpfte mit frohem Lächeln herzu.

»Guten Morgen, Mynheer Lubau!« grüßte sie heiter. »Du bist von selber erwacht und du siehst so wohl aus! Wie mich das freut!«

»Ja, ich fühle mich recht kräftig und werde auch bald ganz gesund sein, dank deiner und deiner Schwester Fürsorge.«

»O nein, nicht doch,« wehrte sie ab. »Das verdankst du dem klugen Dr. Boduin.« Dann hob sie ihr Köpfchen wie ein Vögelchen, welches singen will, und fügte hinzu:

»Wir hoffen mit Inbrunst, daß innerhalb einer abgekürzten Zeitperiode die kraftvolle Konstitution die hingeschwundene Lebensenergie wieder vervollständigen möge.«

»Bravo!« lachte der junge Mann. »Und ich bin fest überzeugt, daß durch diese gütige Teilnahme meine Rekonvaleszenz auf das wesentlichste und wohltätigste gefördert und begünstigt werden wird.«

Sie schaute ihn einen Augenblick fragend und unsicher an, dann aber klatschte sie lachend in die Hände und rief:

»Er hat's gemerkt! Aber war es nicht richtig? Ich hatte mir das gestern abend aus meinem Konversationsbuch zusammengesucht. Ich meinte, das klänge so angenehm!«

»Das tat's auch, Ina-San. Es war ganz vortrefflich. Es fiel mir auch nur auf, weil deine gewöhnliche Redeweise eine andere ist, und deshalb erwiderte ich ebenso geziert, was mir sicher viel schwerer geworden ist als dir.«

»Teischin-San wird lachen, wenn ich ihr das erzähle. Jetzt aber mußt du essen. Ich habe Eier und Milch und Tee für dich gebracht, auch Wein, der dir nötig ist. Ich werde den Pfropfen herausziehen.«

»Beileibe nicht!« rief Lubau. »Ich rühre keinen Tropfen davon an.«

»O doch, du wirst trinken,« sagte Ina ernst. »Der Wein ist nur für dich, weil du krank bist.«

»Aber ich kann unmöglich von dem Zeuge trinken, glaube mir das, Ina. Du verstehst das nicht.«

»Ich verstehe es sehr gut,« entgegnete sie, in Verwirrung errötend. »Der Wein – er kostet nichts – er ist bezahlt. Du bist mir nicht böse – ich habe ihn gekauft. Ich weiß, er ist dir nötig, nun sage nicht mehr nein.«

Sie machte keinen Versuch mehr, ihre schmerzliche Enttäuschung zu bekämpfen. Ihre Lippen bebten und ihre Kinderaugen füllten sich mit Tränen.

Lubau faßte einen heldenmütigen Entschluß. Diesem süßen Gesichtchen gegenüber hätte er noch ärgeres Gift getrunken.

»Auch nicht ein einziges kleines Glas?« flehte sie.

»Gewiß, Ina. Du sollst mich nicht für undankbar halten.«

Im Nu kehrte das Lächeln auf ihr Antlitz zurück. Sie lief eilfertig hinaus und kam gleich darauf mit einigen der Klosterschwestern zurück, von denen jede einen Teil des Frühmahls trug. Sie alle blickten mit Freundlichkeit und Teilnahme auf den Fremdling, der sich mit dem Hunger eines Genesenden über die Speisen hermachte, und ab und zu wagte eine oder die andere der Damen schüchtern ein tröstendes und ermunterndes Wort, welches dann von Ina verdolmetscht wurde.

»Deine Gefährtinnen sind prächtige Geschöpfchen,« sagte der junge Mann übermütig, »ich möchte ihnen aus Dankbarkeit die hübschen, runden, glatten Köpfchen streicheln.«

»Soll ich ihnen das übersetzen?« fragte Ina in Zweifel.

»Bewahre, Kind; sie glaubten sonst vielleicht, daß ich es am Respekt fehlen ließe.«

»Niemals, Mynheer Lubau. Das würde ihnen nicht einfallen, weil Sie das verletzen müßte.«

»Merke dir das, mein Junge,« sagte Henry zu sich selber. »Merke dir das und schäme dich.« Dann fuhr er laut fort: »Ich meinte nur, daß es vielleicht nicht schicklich sei, auf die – nun, auf die Haarlosigkeit der Damen anzuspielen.«

»Aber warum nicht? Das ist doch nichts Böses.«

Damit wendete sie sich an die Nonnen und erzählte denselben auf Japanisch, daß der Gast von ihren geschorenen Köpfen rede. Die harmlosen Weiblein lachten herzlich und versuchten auch, dem jungen Manne direkt allerlei deutlich zu machen.

»Sie wollen dir sagen, daß dies die Klostersitte sei, und daß auch ich bald mein Haar zu scheren haben werde.«

»Auch du?« rief Lubau. »Schrecklicher Gedanke! Ina, das darfst du nimmermehr!«

»Wenn ich mein Haar behalte, darf ich keine Priesterin Fudo Samas werden.«

»Wer ist Fudo Sama?«

»Fudo Sama ist der Gott des Feuers; dieser Tempel ist ihm geweiht.«

»Ina-San, der Gedanke ist aber schauerlich!«

»Warum? Ich verstehe dich nicht, Mynheer Lubau.«

»Nun, zunächst – ja, denke doch nur an die Kälte im Winter.«

»O, im Winter tragen wir den Sukin.«

»Schön, den Sukin. Ich kann mir wohl denken, daß der den Kopf warm hält, und außerdem ist er auch sehr kleidsam, wenn er mit Geschick getragen wird. Du kannst ihn aber doch nicht ewig auf dem Kopfe haben. Und denke doch an die Hitze im Sommer.«

»Im Sommer haben wir Fächer und Schirme.«

Damit zog sie eins der erstgenannten Instrumente aus dem Gürtel, öffnete es und tat mit graziös gebogenem Arm und Handgelenk, als wehre sie den sengenden Strahlen des Tagesgestirns.

»Das ist ja sehr niedlich,« sagte Lubau, »aber du brauchst dir wahrlich nicht dein Haar abzuschneiden, um zu zeigen, wie reizend du den Fächer zu handhaben verstehst. Und, aufrichtig, Ina, die Mode ist eine häßliche. Ich kann mir nicht helfen, aber der Gedanke, dein Gesicht so entstellt zu sehen, ist mir unerträglich.«

»Solche Worte mußt du zu mir nicht reden,« entgegnete sie in ungekünstelter Verlegenheit. Zu den Damen aber sagte sie: »Er meint, mit abgeschnittenem Haar würde ich häßlich sein.«

Die Damen fanden dies höchst spaßhaft.

»Sind wir denn häßlich?« riefen sie mit einer Stimme.

»Nimmermehr! Wie sollte das möglich sein! So hübsch und so jung –«

Hier fiel ihm etwas ein, und er ergriff die Gelegenheit, um sich aus der Klemme zu ziehen.

»Sag' mir doch, Ina, wie kommt es, daß alle die Damen hier so jung sind, auch deine Schwester? Wird hier in dem Kloster überhaupt niemand alt?«

»O ja,« antwortete sie mit einem gewissen Zögern, dessen er sich später wieder erinnern sollte. »Gar viele von uns sind alt. Du hast nur noch keine von den Alten gesehen.«

»Ina-San,« fuhr Lubau hastig fort, »wenn ich etwas rede, was sich nicht gehört, so kommt das nur, weil ich euren Gebräuchen noch fremd bin. Du darfst also dann nimmer glauben, daß ich dich beunruhigen wollte.«

»Wie sollte ich etwas so Unrechtes glauben?« entgegnete sie freundlich und ernst.

Der Eintritt der Oberin unterbrach hier die Unterhaltung. Teischin-San erkundigte sich freundlich und angelegentlich und dennoch zugleich mit merkwürdig kalter und unnahbarer Zurückhaltung nach dem Befinden des Patienten und beglückwünschte ihn zu seiner schnell fortschreitenden Besserung. Sie betonte, daß sie es sowohl für ihre eigene, als auch für die Pflicht all der übrigen Damen hielte, mit Aufwendung aller Mittel für die Wohlfahrt des Gastes zu sorgen; was die Zerstreuung und Aufheiterung desselben anlangte, so verließen sie sich auf den kleinen Schmetterling – hier wurden ihre Züge mild und weich –, der dem fremden Dana-San Vornehmer Herr. als Dolmetscher beigegeben sei.

Der kleine Schmetterling aber flatterte in leichter Unruhe, als Teischin-Sans Augen die Flasche auf dem Tablett erspähte. Die Oberin schien überrascht, sie beschränkte sich auf die Bemerkung, daß dergleichen Getränke mit Vorsicht genossen werden müßten.

Das Frühstück hatte inzwischen sein Ende erreicht; die Damen verabschiedeten sich, und eine Anzahl von dienenden Frauen erschien, um die Ordnung und die Sauberkeit wiederherzustellen, die eigentlich gar nicht gestört worden waren. Eine halbe Stunde später trat Ina wieder herein, beladen mit Büchern, die Dr. Boduin geschickt hatte. Ihre Instruktionen lauteten, wie sie sogleich ankündigte, entweder den Patienten in Ruhe dem Studium der Literatur zu überlassen oder aber demselben sich mit ihren kindischen Plaudereien zur Verfügung zu stellen, ganz wie es dem Dana-San beliebte.

Dem Dana-San beliebte das letztere.

»So ist es also beschlossen, Ina-San, daß du eine der Klosterschwestern von Torin-Dschei werden sollst?« fragte er im Laufe der Unterhaltung.

»Es ist beschlossen. In diesem Jahre aber trete ich noch nicht ein, vielleicht auch noch nicht im nächsten.«

»Meinst du, daß du dadurch glücklich werden wirst?«

»Das meine ich wohl. Sieh nur meine, Freundinnen an, sind die vielleicht nicht glücklich? Wenn es mir gelingt, so gut zu werden, als sie sind, dann werde ich auch so glücklich sein.«

»Bist du überzeugt, daß du unter allen Umständen gut sein kannst und wirst?«

»Du scherzest, Mynheer Lubau,« antwortete sie lächelnd. »Aber ich höre dich gern reden. Ich weiß, daß ich noch sehr viel besser werden muß, ehe ich würdig bin, Fudo Sama zu dienen.«

»Hast du denn so viel Fehler, Ina?«

»Ich fühle, daß mir noch sehr viel mangelt. Und jetzt, während ich zu dir rede, erinnere ich mich eines großen Fehlers.«

»Dann trifft mich also die Schuld, wie?«

»O nein. Aber indem ich holländisch spreche, fällt mir mein Stolz und mein Ehrgeiz in der Schule ein. Und ich denke wieder an alle meine Wünsche und Hoffnungen – – das darf aber nicht sein, denn es stört mir den Frieden. Ich muß vergessen.«

»Aber warum sollten deine unschuldigen Wünsche und Hoffnungen ertötet werden, Ina-San? Das wäre gegen die Natur und sündhaft.«

»Sündhaft ist es für eine Priesterin, an solche Eitelkeiten zu denken; allein es wird einem schwer, sie abzulegen. Meine Schwester weiß, wie schwer das ist, darum steht sie mir bei mit ihrer Kraft und mit ihrem Mute.«

»Aber das ist eine Härte, eine Barbarei!« rief Lubau unwillig.

»Wie sagst du, Mynheer?« fragte Ina, die ihn nicht verstand, obgleich seine Heftigkeit sie erschreckte.

»Verzeihe mir; ich vergaß mich. Achtet man aber deine Empfindungen und die Wünsche deines Herzens gar nichts?«

»Mein Vater und meine Schwester wissen, was für mich gut und heilsam ist. Ich habe keinen Wunsch, als den, ihnen gehorsam zu sein. Du mußt wissen – doch ich bin nicht ganz sicher, ob –«

»Rede nicht mehr, als du darfst, Ina. Ich habe dich vielleicht schon zu viel gefragt.«

»O nein; ich habe keine Geheimnisse, und du bist mein Freund, Mynheer Lubau. Aber ich bin so unwissend. Noch nie zuvor habe ich mit einem fremden Dana-San gesprochen, nicht einmal in Tokio. Darum mußt du nicht böse sein, wenn ich etwas verschweige – nur dies eine, sonst magst du alles wissen.«

»Laß uns abbrechen und von etwas anderem reden.«

Dies geschah; allein seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem ersten Thema zurück. Halb abwesend beobachtete er die mit einer kleinen Handarbeit beschäftigten zarten Finger des Mädchens, dann begann die ungewohnte Anstrengung dieses Morgens ihre Wirkung auszuüben: sein Kopf sank zurück und er schlief ein.

Nach einiger Zeit wieder erwachend, sah er sich allein; der unterdrückte Klang von Stimmen aus dem anstoßenden Raume aber sagte ihm, daß er nicht unbewacht sei. Gar bald erkannte er die Stimmen der Oberin und ihrer Schwester, die in der Landessprache miteinander redeten. Er vernahm jedes Wort – die Wand war allenthalben nur mit buntem Papier überklebtes Gitterwerk – und er fühlte die Verpflichtung, den Damen mitzuteilen, daß ihre Sprache ihm keineswegs so unverständlich sei, als er sie bisher hatte annehmen lassen; plötzlich aber nahm das Gespräch eine Wendung, die ihn vorläufig noch schweigen ließ. War es nun recht oder unrecht, seine Neugierde suchte Befriedigung; mit seinem Gewissen wollte er sich dann später schon abfinden.

»Unser Gast hat mir eine Frage vorgelegt, die mir bedenklich war,« hörte er Ina sagen. »Er wunderte sich darüber, daß die Schwestern alle so jung seien. Ich mußte ihm natürlich erklären, daß wir auch ältere Schwestern hätten, die ihm nur noch nicht sichtbar geworden wären. Jedenfalls wird er es eigentümlich finden, daß dieselben ihn noch nicht begrüßt haben, wo er doch schon lange bei uns ist.«

»Wir werden, wenn nötig, eine Entschuldigung für sie finden,« entgegnete Teischin-San.

»Sie würden sich aber auch zeigen, wenn du es verlangtest,« bemerkte Ina furchtsam.

»Das ist wohl wahr; ich mag sie aber nicht gegen ihre Überzeugung zwingen. Schon die bloße Anwesenheit des Fremden hat ihnen große Kümmernis und Sorge gebracht.«

»Wie gut von dir, Nei-San, daß du auf ihre Einwendungen nicht gehört hast!«

»Das durfte ich nicht, Ina. Du hast in der Schule der Fremden gelernt, was ich aus anderen Quellen erfahren: daß blinder Aberglauben verderblich ist.«

»Ja, Nei-San, das habe ich gelernt, und noch viel mehr. O, meine Schule!«

»Du tust mir weh, Ina. Mein Herz versteht dich sehr wohl, meine Pflicht aber verbietet, mir andere Studien als die unserer Religion gutzuheißen. Wohl könnte ich den beschränkten Ansichten der alten Nonnen entgegentreten, denn Schaka hat mich ermächtigt, die Nächstenliebe an allen Unglücklichen zu üben; allein ich darf selbst um meiner eigenen Schwester willen keine Ausnahme machen in bezug auf die alten Gesetzesvorschriften von Torin-Dschei. Einmütig würde sich alles gegen mich erheben, nicht nur die Alten allein. Die Gedanken einer jungen Priesterin müssen einzig nur auf ihre Pflicht gerichtet sein.«

»Unsere Pflicht ist unser Glück, Teischin-San, denn du hast uns gestattet, den Leidenden zu helfen.«

»Das wird für alle Zeit das Gesetz von Torin-Dschei bleiben, zu helfen allen, die hilfsbedürftig sind, sie mögen hoch oder niedrig sein, Landeskinder oder Fremdlinge von jenseit des großen Meeres. Fuda Sama wird uns nicht zürnen, wenn jene alten Frauen auch in Furcht und Zittern vorherzusehen wähnen, daß sein lohender Atem uns verzehren werde, weil ich, ihrer Meinung nach, seine heiligen Gebote übertreten habe.«

»Wenn sie den kranken Mann sehen würden, dann änderten sie vielleicht ihre Gedanken.«

»Genug davon, Ina. Sie sind nicht aus unserer Zeit und ihr Verständnis ist nur begrenzt; allein in den heiligen Fragen haben sie eine große Erfahrung, und deshalb verdienen sie unsere Ehrfurcht. Wenn der Gast seines Weges gegangen ist, dann werden sie sich wieder beruhigen; Dr. Boduin sagt, daß wir ihn nicht mehr lange zu behalten brauchen. Hast du ihm die Bücher gegeben?«

»Ja.«

»Und auch den Wein, wie ich gesehen habe?«

»Ja, Nei-San; aber den Wein hat der Doktor nicht geschickt,« entgegnete das Mädchen mit veränderter Stimme.

»Nicht? Woher ist er denn?«

»Dr. Boduin sagte, daß dem Patienten etwas Wein nötig sei. Er hob das besonders hervor. Hörtest du das nicht?«

»Ich habe so etwas gehört, entsinne mich aber nicht, daß der Doktor solches Gewicht darauf gelegt hätte. Doch gleichviel; weiter, Ina.«

»Ich glaubte daher, wenn ich ihm welchen brächte, dann würde er schneller gesund werden.«

»Woher nahmst du den Wein?«

»Vom Krämer Yoschienura, unten im Dorf.«

»Es wäre schicklicher gewesen, wenn du einen Dienstboten damit beauftragt hättest. Ich wußte übrigens gar nicht, daß du für eine solche Ausgabe Geld genug hättest. Was kostet die Flasche?«

»Einen und einen halben Yen!«

»So viel Geld hattest du sicher nicht. Du weißt, daß unsere Vorschriften verbieten, etwas ohne bare Bezahlung zu kaufen.«

Des jungen Mädchens Stimme versagte fast bei der Antwort: »Ich habe bar bezahlt.«

Es erfolgte ein Schweigen, welches den Lauscher beängstigte; schon war er im Begriff, in die Diskussion einzugreifen, allein ehe er seinen Satz auf japanisch zu formulieren vermochte, nahm die ältere Schwester wieder das Wort, und zwar in noch ernsterem Tone als vorher.

»Warum trägst du deine Kansaschi Haarnadel. von Korallen nicht? Es ist das erstemal, daß ich dich ohne dieselbe sehe.«

»O Nei-San,« flehte die Kleine angstvoll, »sprich nicht so kalt zu mir! Habe ich unrecht gehandelt? Ich wollte ja Gutes tun! Der Fremde ist so arm, der Doktor sagt es uns. Er könne den Wein nicht bezahlen, so sagte er, ich hörte es genau. Und die Kansaschi kann ich wohl auf ein Paar Tage entbehren. Zürne nur nicht; wenn du mich nicht freundlich anblickst, dann bin ich unglücklich, o so unglücklich!«

»Bin ich jemals unfreundlich zu dir, Ina? Soviel von mir abhängt, sollst du niemals unglücklich sein. Nein, unrecht hast du nicht gehandelt. Mein Imoto Herzblatt, Liebling. kann wissentlich nichts Unrechtes tun; aber es ist noch jung und unerfahren, und deshalb sollte es nie etwas unternehmen, was ihm noch fremd ist, ohne sich bei denen zu befragen, deren Erfahrung größer ist. Ein Mißgriff ist leicht getan, aber oft nur schwer wieder auszugleichen. Wer sagte dir, daß du auf deine Korallennadel Geld leihen könntest?«

»Haru, und sie ging auch damit zum Pfandleiher.«

»Haru! Daß du mir nie wieder einen Dienstboten in dein Vertrauen ziehst! Wir haben Geld genug; wende dich stets nur an mich, wenn du etwas zu haben wünschest. Vergiß nie, daß ich jetzt nicht nur deine Nei-San, sondern auch deine Mutter bin.«

»Und du verzeihst mir, Teischin-San?«

»Da ist nichts zu verzeihen, Kind. Beherzige nur, was ich dir gesagt habe. Wo ist die Haru?«

»Aber bitte, schelte sie nicht. Die Schuld trifft ja nur mich!«

»Ich weiß, sie müssen ja alle tun, was mein Kimoto wünscht, sie können ja gar nicht anders. Ich werde sie daher diesmal nicht schelten. Sie muß aber sogleich die Kansaschi zurückholen.« –

Lubau hatte diesem Zwiegespräch nicht ohne innere Bewegung zugehört. Als er glaubte, daß Ina wieder allein sei, rief er:

»Bist du da, Ina-San?«

Sie kam ohne Zögern, aber nicht mit der gewohnten heiteren Fröhlichkeit.

»Hast du etwas zu tun?« fragte er.

»Ich habe nichts zu tun, es sei denn, daß du mich beschäftigen willst,« antwortete sie.

»Dann bitte ich dich, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten. Höre nur, mir hat soeben geträumt, ich sei ein reicher Mann.«

»Das war ein hübscher Traum. Ich wünschte, daß es wahr wäre.«

»Du Gute! Ferner träumte mir, ich hätte euren schönen Tempel mit allen seinen Gärten gekauft. Ihr habt doch Gärten?«

»Gewiß. Eine große Menge, und sehr schöne. Du wirst sie nun bald sehen dürfen. Aber Klee ist nicht darin.«

»Klee? Also Klee ist nicht darin?«

»Nein, Klee wächst bei uns nicht; Dr. Boduin hatte das wahrscheinlich vergessen. Er sagte, du würdest hier im Klee liegen. Es tut mir recht sehr leid, aber wir haben hier wirklich keinen Klee. Das sind wohl gar schöne Blumen?«

»O, ich erinnere mich. Mache dir deswegen keine Sorge, liebe Ina, so hatte der Doktor das nicht gemeint. Weißt du, Ina-San, was ein ›Idiom‹ ist?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Nun, ein ›Idiom‹ ist eine Sprachfigur. Weißt du, was das ist?«

»Ich entsinne mich, in der Schule davon gehört zu haben. Ja, ich glaube es zu wissen.«

»Nun, also, jede Sprache, auch deine Muttersprache, ist voll von figürlichen Ausdrücken, so daß die Worte zuweilen einen ganz anderen Sinn haben. Wenn du willst, können wir deinen Schulunterricht noch ein wenig ergänzen.«

»Das darf nicht sein; andere Studien, als die unserer Religion zu treiben, ist jetzt für mich sündhaft.«

»Wie du meinst, Ina-San. Als Dr. Boduin sagte, ich läge hier im Klee, wollte er damit ausdrücken, daß es mir hier sehr wohlgehen werde. Und er hat recht gehabt. In meinem ganzen Leben habe ich mich nicht so wohl befunden als hier. Wenn ich nun meinen Traum ausführte und mir hier in Kioto einen Wohnsitz baute, der dem euren gliche, würdest du dann wohl ab und zu kommen, mich zu besuchen?«

Ina machte große Augen.

»Du träumst noch immer, Dana-San. Niemand ist so reich, daß er einen Ort wie Torin-Dschei kaufen oder erbauen könnte.«

»Wieviel würde das denn kosten?«

»Das weiß ich nicht zu sagen. Mehr, als ich mir denken kann. Das kann nur Dai-Koku Der Gott des Reichtums. wissen. Vielleicht fünftausend Yen.«

»Mehr nicht? Dann baue ich noch in diesem Jahre ein solches Haus, und du sollst darin die oberste Priesterin sein, gerade wie deine Schwester in Torin-Dschei. Abgemacht.«

»Du sprichst im Scherz seltsame Dinge, Mynheer Lubau.«

»Aber ich scherze doch nicht, Ina-San; ich rede in vollem Ernst.«

»Du redest im Ernst? Ist denn das möglich? Bist du denn so – so –«

»Meine gute Ina, in den verschiedenen Ländern der Erde sind auch die Verhältnisse verschieden. In meinem deutschen Vaterlande nun kann ein Mann recht wohl fünftausend Yen überflüssiges Geld haben, ohne deswegen als ein Wunder von Wohlhabenheit zu gelten.«

Das Gesicht des Mädchens wurde abwechselnd bald rot und bald blaß.

»Ich glaubte, du wärest arm,« stammelte sie endlich. »Ich war ganz fest davon überzeugt. Der Doktor nannte dich ›armer Freund‹.«

»Das ist wohl möglich. Aber da haben wir wiederum ein ›Idiom‹, Wenn wir jemand arm nennen, so denken wir dabei nicht immer an Mittellosigkeit. Gar oft drücken wir dadurch nur unsere Teilnahme und unser Bedauern aus.«

»Ich bin aber auch wirklich gar zu dumm,« sagte sie gedrückt. »Warum fragte ich nicht? Wenn du wüßtest, was ich – aber ich hielt dich wahr und wahrhaftig für sehr arm!«

»Du wirst doch nun, da du weißt, daß ich's nicht bin, nicht geringer von mir denken? Das wäre hart.«

»Das nicht. Es muß sogar herrlich sein, recht viel Mittel zu besitzen. Wir zum Beispiel würden Schulen damit errichten, zehn und noch mehr. Jetzt haben wir leider nur eine einzige.«

»Gut. Lassen wir also den Tempel und bauen wir Schulen, und du sollst die Lehrerin sein.«

»Jetzt lachst du mich aus, Dana-San. Ich werde zu meiner Schwester gehen und ihr erzählen, daß du schon wieder ganz gesund seiest, denn du fingest bereits an, die Leute aufzuziehen.«

Damit schlüpfte sie lachend hinaus.

IV.

Acht Tage später fand Dr. Boduin eines schönen Nachmittags seinen Patienten auf der offenen Veranda, nachlässig auf einem aus Teppichen, Matten und Kissen improvisierten Diwan ausgestreckt und eine japanische Pfeife rauchend. Vor der Veranda breitete sich der Klostergarten aus, ein wunderbares Stückchen Erde, voll von den merkwürdigsten gartenkünstlerischen Erfindungen. Man sah Miniaturgebirge mit spitzzackigen, ragenden Gipfeln, dazwischen schattige Täler mit rieselnden Bächlein, und Teiche, deren spiegelnde Fläche von vielgestaltigen grünen Inselchen unterbrochen wurde; schmale, gewölbte Holzbrücken verbanden die Ufer hier und da, saubere Pfade wanden sich schlängelnd zwischen farbenglühenden Blumenbeeten und unter den verschnörkelten Zweigen niederer Baumgruppen dahin, und durch die warmen, sonnigen, balsamischen Lüfte tönten die leisen Gesänge der Nonnen aus dem nahen Tempel, begleitet von dem melodischen Klingen der Glöckchen, welche die verschiedenen Stadien des Gottesdienstes markierten.

Der Doktor teilte dem aus tiefen Träumereien aufschauenden jungen Mann mit, daß seine Kur nunmehr beendet sei und daß eine Notwendigkeit, ihn hier zurückzuhalten, ferner nicht mehr vorliege.

Henry Lubau vernahm diese Kunde ohne Freude.

»Es liegt mir fern, Ihnen zu widersprechen, bester Doktor,« entgegnete er, »denn Sie müssen das ja besser verstehen. Wenn aber meine Meinung, als die des Hauptbeteiligten, einige Geltung hat, so sollte man mich noch – na, wollen sagen, mindestens noch eine Woche hier dulden.«

»Hier dulden!« wiederholte der Doktor. »Davon ist keine Rede. Es duldet Sie niemand hier, man sieht Sie hier gern. Ich glaubte nur, Ihnen anzeigen zu müssen, daß Sie nun wieder vollständig hergestellt sind. Ich hatte dabei lediglich Ihr Interesse im Auge.«

»Ich fühle mich aber noch schwach, Doktor.«

»So. Und dabei marschieren Sie schon seit vier Tagen stundenlang herum?«

»Ja, aber nicht ohne Hilfe.«

»Mit Inas Hilfe, ich weiß. Ich muß Ihnen aber eröffnen, daß Sie sich fortan ohne diesen Strebepfeiler zu behelfen haben werden. Das Mädchen hat jetzt wieder andere Dinge zu tun. Das Treiben muß aufhören.«

»Das ist ja eine eigentümliche Bemerkung, Herr Dr. Boduin. Wollen Sie sich deutlicher erklären?«

Lubau war emporgefahren und stand jetzt dem Arzte fast drohend gegenüber.

»Mein lieber Sohn,« antwortete dieser sehr ruhig, »ist denn hier noch eine Erklärung erforderlich?«

»Ohne Zweifel, und ich erbitte mir eine solche. Hat man mir etwas vorzuwerfen? Ich habe keinen Augenblick vergessen, welche Verpflichtungen ich den Herrschaften gegenüber habe, und Sie werden bald Gelegenheit finden, sich hiervon zu überzeugen. Haben die alten Damen mir vielleicht den Krieg erklärt? Oder beklagt Teischin-San sich über mich? Gewiß, ich werde auf der Stelle gehen, wenn ich hier im Wege sein sollte, allein diese Art und Weise, mich hinauszuweisen, berechtigt mich zu der Frage nach einer Erklärung!«

»Ruhig, lieber Freund, nur ruhig. Bis jetzt hat Sie noch niemand hinausgewiesen, noch wird das jemals geschehen. Die Bigotterie der alten Damen kommt hier gar nicht in Betracht; es wundert mich, daß Sie überhaupt etwas davon wissen. Teischin-San hat noch mit keinem Worte Ihrer Herstellung und der Konsequenzen derselben gedacht. Der erste, der davon redet, bin ich. Sie können nicht in Abrede stellen, daß Sie jetzt vollständig gesund sind, und da Sie meine Ansichten über die Situationen nicht gelten lassen wollen, so frage ich Sie jetzt, was Sie als Ehrenmann nunmehr aus eigenem Antriebe zu tun gedenken.«

Lubau schwieg. Die Notwendigkeit, die veränderte Sachlage nun allen Ernstes in Erwägung ziehen zu müssen, berührte ihn unangenehm. Nach einer langen Pause begann er:

»Wenn Sie mich Zögern sehen, so müssen Sie nicht annehmen, daß ich etwa Hintergedanken irgendwelcher Art hegte; ich bin einfach noch nicht im klaren mit mir selber. Lassen Sie mir Zeit, und ich will Ihnen beweisen, daß, wenn Sie Bedenken hatten, dieselben unbegründet waren.«

»Sie haben Zeit zu tun, was Ihnen beliebt. Inzwischen wird es Sie interessieren, etwas Näheres über die Familie zu vernehmen, die sich Ihnen so freundlich erwiesen hat. Ina wird Ihnen erzählt haben, daß auch sie nach einiger Zeit in den Orden der Schwestern ausgenommen werden soll.«

»Ganz recht. Es ist ein hartes Geschick für solch ein Mädchen. Es wäre die Pflicht des Vaters und auch die eines alten Familienfreundes, wie Sie, dagegen Einspruch zu erheben.«

»Wollen Sie zunächst die Gründe hören. Besitzen Sie einige Kenntnis von dem häuslichen Leben in diesem Lande, von dem Verhältnis zwischen japanischen Ehegatten?«

»Nicht viel; ich weiß nur, daß das Los der Frauen hier härter und trauriger ist, als man bei oberflächlicher Beobachtung annehmen sollte.«

»Das ist sehr milde ausgedrückt. Das Leben eines verheirateten Weibes in Japan ist von Anfang bis zum Ende eine Kette von Leiden. Ich bin ein alter Mann und ein Arzt und müßte als solcher gepanzert sein gegen die meisten Arten menschlichen Wehs, allein wenn ich an die Grausamkeiten und an das Elend denke, die hier ausgeteilt und erduldet werden, dann ist mir's zuweilen, als laste ein Fluch auf diesem Lande. Schutz- und hilflos ist hier das Weib jeglicher Vernachlässigung und Erniedrigung, jeglicher noch so schändlichen oder brutalen Behandlung preisgegeben. Sie ist eine Sklavin in des Wortes ausgedehntestem Sinne. In der Regel erträgt sie alles mit Geduld und ohne Murren, dennoch aber stößt man ab und zu auch auf Charaktere, deren Selbstbewußtsein und Würde sie über solche Schmach und Erniedrigung emporheben. Solch ein Charakter ist Teischin-San. Ich kannte sie bereits, als sie in Inas Alter an einen jungen kaiserlichen Beamten in Tokio verheiratet wurde. Die Verbindung schien vielversprechend, wenigstens nach hiesigen Begriffen; allein schon vor Ablauf des ersten Jahres wurde dem jungen Weibe eine solche Fülle von Jammer und Schmach angetan, daß sie fast den Verstand verlor. Sie ist aus stolzem, ich möchte fast sagen heroischem Geschlecht; allerdings zeigt sich der japanische Heroismus zumeist in duldendem Ertragen, der Stolz aber erheischt ein sorgfältiges Verbergen aller Kümmernis. Fünf Jahre lang schleppte sie ihre grausame Bürde, und ihre einzige Hoffnung war der Tod. Endlich aber, zum Äußersten getrieben, warf sie alle Vorurteile und Traditionen beiseite; sie zerriß ihre Ketten und floh ins Vaterhaus, um hier ihrem Leben ein Ende zu machen. Schiroyama war in Verzweiflung. Eine eheverlaufene Tochter mußte notwendig den tiefsten Schatten auf den Glanz seines Hauses werfen; allerdings konnten, nach japanischer Auffassung, alle Flecken durch den Selbstmord des jungen Weibes abgewaschen werden. Allein er liebte sein Kind zu zärtlich, um in den Tod derselben zu willigen. Er verließ mit den Seinen die östliche Hauptstadt und zog sich auf seinen alten Familiensitz zurück. Das war vor zwei Jahren. In Kioto genießt sein Name das hergebrachte Ansehen nach wie vor, und so wurde es ihm nicht schwer, Teischin-San als Oberin in diesem Kloster unterzubringen, als einzigen noch möglichen Ausweg. Unter ihrer Leitung ist das Kloster weit und breit berühmt geworden als eine Stätte des Segens für alle Unglücklichen, ihr eigenes Leben aber hat nun trotz allem doch noch einen schönen Inhalt erlangt.«

»Ich bin Ihnen herzlich dankbar für diese Mitteilungen,« sagte Luban, »denn ich muß gestehen, daß ich die Dame bisher vielfach unrichtig beurteilt habe. Jetzt erkenne ich in ihr die idealste Priesterin und bitte sie in meinem Herzen um Verzeihung. Warum muß denn aber nun auch ihre Schwester hier geopfert werden?«

»Um ihr die gleichen Leiden zu ersparen. Das allein ist Teischin-Sans Streben und Ziel. Sie hielten sie für kalt und streng, aber sie hat ein Herz von reinstem Gold, und ihre Liebe für die mutterlose Schwester ist eine geradezu leidenschaftliche.«

»Ich gebe zu, daß Teischin-San von ihrem Standpunkte aus recht hat, allein man darf doch aus deren Unglück nicht auf ein gleiches oder ähnliches Schicksal für Ina schließen.«

»Teischin-San hat recht und nicht bloß von ihrem Standpunkte aus. Die Wahl liegt hier zwischen einem Leben voll stillen, glücklichen Friedens einerseits und zwischen Wagnissen unsicherster und gefährlichster Art andererseits. Wohl bleiben den Klosterschwestern die höchsten Glückseligkeiten ihres Geschlechts versagt, dafür aber sind sie auch in ganz Japan die einzigen, an welche Kummer, Sorge und Weh in ihrer schlimmsten Gestalt nie herantreten können.«

»Sie entwerfen da ein düsteres Bild. Ich wohne bereits seit zwei Jahren im Lande und habe dergleichen noch nie vernommen.«

»Nur wenigen Ausländern wird so etwas bekannt, noch weniger interessieren sie sich dafür. Was ich Ihnen sagte aber, ist die Wahrheit. Ich kenne Teischin-Sans Ansichten und mag dieselben nicht kreuzen; im Gegenteil, ich stehe ihr willig bei in allem, was Inas künftiges Glück zu sichern vermag. Und jetzt, lieber Freund, die Hand aufs Herz! Ist es nicht meine Pflicht, einzuschreiten, wenn ich eine Gefahr heraufziehen sehe, die das Kind in seiner Unerfahrenheit als eine solche noch nicht erkennt?«

»Doktor, wahrhaftig, Sie gehen zu weit; ich bin ein anständiger, ehrlicher Kerl – soweit ich mich kenne – und Ina ist ein Kind, viel jünger als ihre achtzehn Jahre. Doch da kommt sie ja; sehen Sie nur wie sie hüpft und rennt!« –

»Findest du nicht, daß Mynheer Lubau schon recht wohl aussieht, Dr. Boduin?« sagte das junge Mädchen, als es mit leichtem Sprunge auf der Veranda angelangt. »Haben wir ihn nicht gut gepflegt?«.

»Der Doktor behauptet, ich sei schon ganz gesund,« bemerkte der Patient trübselig.

»Macht dich denn das traurig?« fragte Ina verwundert. »Gewiß bist du gesund, aber darüber freut man sich doch.«

»Nun ja doch! aber woher weißt du denn, daß ich gesund bin?«

»O, das war doch zu merken, von Tag zu Tag. Als ich zuerst mit dir ausging, da lehntest du dich auf meine Schulter und warst sehr schwer. Dann auf meinen Arm – leicht, ganz leicht. Jetzt, wenn ich mit dir gehe, legst du deinen Arm um mich, und ich fühle gar keine Last mehr. Nicht lange, und du gehst ganz allein.«

Da war etwas recht Unerwartetes zutage gekommen, und Lubau vermochte seine Verwirrung nicht zu verbergen. Desto mehr beeilte er sich mit der Antwort.

»Ich werde schon heute allein gehen,« sagte er. »Der Doktor sagt, daß ich euer Haus verlassen soll.«

Seine Verwirrung machte ihn unüberlegt, sonst würde er damit nicht so herausgeplatzt sein, denn er wußte sehr wohl, daß seine kleine liebevolle Pflegerin eine solche Eröffnung nicht gleichgültig anhören konnte. Die Wirkung seiner Worte aber überstieg noch bei weitem alle Befürchtungen. Das Antlitz des Mädchens verlor im Nu alle seine Heiterkeit, all seinen Glanz. Sie starrte ihn an, tief erschrocken und dennoch wie verständnislos, darauf senkte sie ihr Haupt und ließ die Arme schlaff herabsinken. So stand sie einige Augenblicke völlig regungslos, in schneidendem Gegensatz zu der Lebensfrische und Beweglichkeit ihres sonstigen Wesens. Dann grüßte sie die Herren schweigend, die Augen fortwährend zu Boden gesenkt, und schlich langsam davon.

»Das war nicht mehr der Blick eines Kindes,« sagte der Doktor kopfschüttelnd und sorgenvoll.

»Sie haben recht. Ich will mich auf der Stelle verabschieden. Gott ist mein Zeuge, daß ich nichts Schlimmes beabsichtigte. Ich gäbe mein Leben hin, wenn ich dadurch dieses gastfreundliche Haus vor Unglück bewahren könnte!«

»Wir wollen hoffen, daß kein Unglück sich einstellt. Vorläufig ist nichts zu tun, als jede Störung zu beseitigen. Mein armes, liebes Töchterchen! Wer hätte geglaubt, daß in so kurzer Zeit das Kind dem Weibe weichen würde? – Werden Sie mir nicht zürnen, junger Freund, wenn ich Sie bitte, so schnell und so ruhig als möglich dieses Haus zu verlassen?«

»Morgen, Doktor; ich gehe morgen. Verlangen Sie nicht, daß ich mich ohne ein Wort des Dankes und der Freundschaft davonstehle!«

»Ich weiß nicht, ob ein solches Zögern ratsam ist. Sie dürfen freilich nicht so ohne weiteres davonfliegen. Ich werde mit Teischin reden. Sei es denn morgen. Aber ich beschwöre Sie um Vorsicht! Denken Sie daran, welchen Kummer Sie zurücklassen! Denken Sie, Sie hätten eine Schwester in Ina, und es hinge von dem Benehmen und der Handlungsweise eines Fremdlings ab, ob das Herz derselben gebrochen oder nur von einem vorübergehenden Schmerze heimgesucht werden solle.«

»Aber ich bin hier kein Fremdling mehr,« entgegnete Lubau. »Ich fühle mich hier fast ebenso zu Hause, wie früher daheim bei meiner seligen Mutter. Sie wissen nicht, wie schwer es mir wird, in dieser Weise den mir so lieb gewordenen Ort zu verlassen. Aber seien Sie ohne Sorge. Inas Wohl liegt Ihnen nicht mehr am Herzen als mir.«

Der Doktor ging, um Teischin-San von Lubaus Entschluß in Kenntnis zu setzen, und dieser blieb seinen Gedanken überlassen. Wenngleich er noch nicht länger als Zwei Jahre in Japan gelebt hatte, so war ihm doch durch seine wohlwollende Beobachtung von Land und Leuten schon gar manches Verständnis in bezug auf das Wesen der letzteren erschlossen worden. Die Vorzüge der männlichen Bevölkerung konnten ihm nicht lange verborgen bleiben, allein auch bei den Frauen hatte er Tugenden und Charakterzüge entdeckt, denen er hohe Achtung und warme Bewunderung zollte, und stets hatte er das leichtfertige Urteil der meisten Ausländer über dieselben mit Unwillen zurückgewiesen. In seinen Augen stand Ina auf genau derselben Stufe wie jede europäische junge Dame desselben Alters und ähnlicher Herkunft; sie hatte aber einen ungleich größeren Anspruch aus seine ritterliche Ergebenheit und seine Protektion, weil die Sitte ihres Landes ihr dergleichen in nur geringem Maße gewährte. Er glaubte sich zugestehen zu dürfen, daß er sich ihr gegenüber in allen Fällen korrekt benommen habe, es lag aber ein so süßer Reiz in dem Verkehr mit dem harmlosen Kinde, daß der Gedanke an die mögliche Wirkung desselben auf Ina ihm gar nicht in den Kopf gekommen war.

Der Doktor mochte ungefähr zehn Minuten gegangen sein, da näherte sich ein leiser, furchtsamer Schritt, und gleich darauf kniete Ina an der Seite ihres Gastes und Pfleglings.

»Ist es denn wahr?« flüsterte sie, ihn traurig und ernst mit ihren großen Augen anblickend.

»Ja, Ina, es ist leider wahr. Ich muß fort, und zwar sobald als möglich.«

»Haben wir gegen dich gefehlt? Ist Ina unaufmerksam gewesen?« fragte sie in kaum vernehmbaren Lauten.

»Mein gutes Kind, du bist stets lieb und freundlich und aufopfernd gewesen, viel mehr, als ich's verdient habe.«

»Vielleicht hat der Doktor dir erzählt, daß einige von unseren älteren Schwestern deine Anwesenheit ungern gesehen haben. Wenn du deswegen gehst, dann machst du mich sündhaft, denn dann muß ich die Schwestern hassen. Sie haben auch gar nichts mit diesem Hause hier zu schaffen, das hat Teischin gebaut zur Aufnahme von Personen, die nach dem Gesetz nicht in den Tempel kommen dürfen.«

»Der Doktor hat mir kein Wort von dem Unwillen der alten Damen gesagt.«

»Und doch willst du fort? Aber warum denn?«

Ein Ausdruck flehendster Bitte sprach aus ihren wunderschönen Augen.

»Weil ich gesund bin. Weil ich nicht länger bleiben darf. Mein Haus, mein Beruf und meine Leute in Tokio warten auf mich.«

Ina seufzte tief und blickte vor sich nieder.

»Wußtest du nicht von Anfang an, daß ich nicht ewig bei euch bleiben konnte?«

»Ich weiß nicht; an dein Fortgehen habe ich nie gedacht. Du sprachst von dem Tempel und von den Schulen, und zuweilen dachte ich wohl, daß dies dein Ernst gewesen.«

Lubau griff begierig nach diesem Faden.

»Ina, höre mir zu. Der Tempel und die Schulen sollen gebaut werden. Ich schwöre dir's bei dem Andenken meiner guten Mutter! Und alles soll dein sein. Du sollst alles haben, was ich irgend nur zu geben imstande bin.«

»Willst du hier bleiben, bis alles fertig ist?«

»Das ist unmöglich. Ich werde aber mit Dr. Boduin sprechen, er soll alles, betreiben. Und du wirst die Oberin im Tempel und die Lehrerin in den Schulen sein.«

»Nicht ohne dich,« sagte sie, traurig den Kopf schüttelnd.

»Ina, meine Freundin, sei verständig. Das Leben besteht aus Finden und Scheiden. Laß uns heiter einander Lebewohl sagen. Es ist unsere Pflicht.«

»Wenn du mir sagst, daß das meine Pflicht ist, so will ich's versuchen. Aber es wird mir schwer werden.«

»Auch mir, Ina. Meinst du –«

Er unterbrach sich. Er fühlte, daß er im Begriff gewesen, sich auf ein gefährliches Gebiet zu begeben.

»Auch dir wird es schwer? Verstand ich dich recht?« fragte sie, zum erstenmal lächelnd, seit sie dort kniete. »Wohl nicht sehr schwer. Du kennst mich ja erst so kurze Zeit, nur eine Woche; das vergißt sich leicht.«

»Und wie lange kennst du mich denn schon?« fragte Lubau, um die Unterhaltung in das breite, gewöhnliche Gebiet abzulenken.

»Drei Wochen wirklicher Zeit,« antwortete sie. »Aber hier in mir ist's, als könne unsere Bekanntschaft gar nicht nach wirklicher Zeit gemessen werden – ich kann dir's nicht sagen, ich finde die Worte nicht. In meiner Muttersprache könnte ich mich wohl verständlich machen.«

»Versuche es, Ina, es wird dir schon gelingen.«

»Oft meine ich, daß ich dich seit Beginn meines Lebens gekannt habe – ich fühle, daß ich, ehe ich dich kannte, eigentlich noch gar nicht lebte. Anders kann ich's nicht ausdrücken, aber so ist's in Wahrheit.«

»O Ina, so mußt du nicht reden!« entgegnete Lubau tief bewegt. »Mein Besuch, oder besser, mein Auftauchen in eurer Mitte war ein noch nie dagewesenes Ereignis und mußte dir naturgemäß eine Fülle neuer Ideen geben. Laß mich aber nur erst einige Tage fort sein, dann ist alles wieder wie zuvor.«

»Nie wieder,« sagte sie mit bebender Stimme, »nie wieder! Aber ich falle dir beschwerlich. Es ist der letzte Abend deines Hierseins, wie Dr. Bodum sagt, und die Rückerinnerung sollte freundlich sein. Willst du noch einmal mit mir zur Fuji-Laube gehen? Die Sonne sinkt soeben hinter die Waldberge hinab.«

Er erhob sich. Schweigend schritten sie durch den Garten und einen kleinen Hügel hinan, von dessen Höhe sich dem Auge eine liebliche Fernsicht bot.

»Ich werde jeden Abend hierher kommen,« sagte Ina. »Aber es wird nie mehr sein wie bisher.«

»Die Sonnenuntergänge wechseln,« bemerkte Lubau weich; »aber schön ist ein jeder.«

Sie gab keine Antwort; in dem Blick aber, den sie zu ihm erhob, lag ein schmerzlich-sanfter Vorwurf, der ihn tiefer berührte, als Worte dies vermocht hätten.

»Ina, beste Freundin, sei nicht so traurig, ich bitte dich! Wollte Gott, ich könnte dich diese Zeit vollständig vergessen machen, sobald ich dir aus den Augen bin.«

»Du kannst's aber nicht, und das ist ein Glück,« entgegnete sie, sich dichter an ihn schmiegend. »Warum redest du solche Worte? Willst du mich damit strafen?«

»Dich strafen? Dich, die ganz, Güte, ganz Freundschaft gegen mich war?«

»Du legst deinen Arm heute nicht um mich, wie du gestern tatest.«

Alle seine weisen Vorsätze vergessend, wendete er sich zu ihr und drückte die zarte, nachgebende Gestalt lange, fest und mit inniger Glut an seine Brust. Ina, mit Umarmungen noch gänzlich unbekannt, bebte ein wenig, allein aus dem scheuen Aufblick ihrer dunklen Augen sprach eher Zufriedenheit als Erschrecken.

»Nun aber geh', Kind,« sagte er, indem erste wieder freigab; »und schicke mir Haru mit den Lichtern. Ich muß meine Sachen zu morgen in Ordnung bringen.«

Sie ging langsam dem Hause zu. Ehe sie noch hinter dem nächsten Gebüsch verschwand, rief er sie wieder zurück.

»Ina,« sagte er innig, sie von neuem an sich ziehend, »wir sind jetzt zum letztenmal allein. Ich bitte dich, gib mir zum Abschied einen Kuß!«

»Einen Kuß? Japanische Mädchen küssen nicht. Aber dennoch, wenn du es willst, so ist es recht.«

»Nicht, wenn du im Herzen anders denkst,« entgegnete der junge Mann, in dem das Gewissen sich regte.

»Ich küsse dich gern, weil du es wünschest, ob wir nun allein sind, oder ob die ganze Welt es sähe.«

Sie hob ihr süßes Antlitz, bleich vor ungewohnter Erregung, aber mit dem alten Ausdruck kindlichen, engelreinen Vertrauens. Als jedoch Lubaus Lippen die ihren berührten, entfuhr ihr ein leiser Schrei, wie ein Weheruf. Wie eine zu straff gespannte Sehne reißt, so verlor sie in einem Augenblick alle Fassung, alle Kraft. Konvulsivische Schauer erschütterten ihren Körper und sie fand zuerst gar keinen Atem, um die ängstlichen Fragen des erschrockenen jungen Mannes zu beantworten. Nach und nach ward sie ruhiger.

»Es war nichts Böses,« sagte sie auf Lubaus Beteuerungen und Überredungen. »Dein Kuß hat mich glücklich gemacht. Ich weiß nun, daß du Ina lieb gehabt hast. Ich bin ein schwaches, unwissendes Mädchen und voll von Fehlern; jetzt aber sagt mir eine Stimme hier im Herzen, daß du alle meine Fehler vergessen willst.« –

Er geleitete sie zurück bis zu der Halle, welche das Sanktuarium der Klosterschwestern von dem für die Gäste bestimmten Anbau trennte, und suchte dann das trauliche Gemach auf, von welchem man ihm so oft gesagt, daß es ganz sein eigen sei.

Er war voll von Gewissensbissen und schämte sich vor sich selber.

Nach einer Weile erschien Haru, die Magd, mit dem Abendbrot und einem beschriebenen Zettel. Die Bleistiftzeilen lauteten:

»Ich darf dich heute abend nicht mehr bedienen, wie ich gewünscht hatte. Die Speisen habe ich selber bereitet, wenn Haru sie auch bringt. Mögest du in der letzten Nacht zu Torin-Dschei recht wohl schlafen und am Morgen glücklich erwachen. Dies ist der Wunsch von Ina.«

» Ex ungue leonem,« murmelte Lubau. »Man spürt Teischin-Sans feste Hand. Sie hat etwas gemerkt. Meine arme kleine Ina!«

Sein Gepäck war in Ordnung und bereit. Die Lichter brannten und umstanden das große holländische Buch, in welches er sich eifrig vertiefte, um den Schlaf solange als möglich abzuwehren. Denn trotz des Zettels hoffte er, seine kleine Freundin heute doch noch einmal zu sehen, wenn sie, nach ihrer Gewohnheit, kommen würde, um die Nachtlampe in der Vorhalle aufzustellen und die Fenster und die Türen zu schließen. Wiederum zwar sagte ihm sein Gewissen, daß es seine Schuldigkeit sei, unverzüglich zu Bett zu gehen und nicht hier auf die Möglichkeit einer nochmaligen Begegnung zu lauern, die durch nichts mehr zu rechtfertigen gewesen wäre. Trotzdem blieb er über seinem Buche sitzen.

Allein, der Nachtwachen längst entwöhnt und auch bei weitem noch nicht im Vollbesitz seiner Kraft, wurde es ihm nach Verlauf einiger Zeit sehr schwer, die immer zunehmende Müdigkeit zu bekämpfen. Seine Gedanken vermochten nicht mehr bei dem Inhalt des Buches zu verweilen, sie schweiften hinüber in andere Regionen und führten ihm eine Reihe phantastischer Bilder vor, die ihn in bunter Verwirrung mit Szenen aus den Erlebnissen der letzten Woche umgaukelten, die aber alle Ina zum Mittelpunkt hatten. Während seine Seele so träumte, lag sein Körper vornübergeneigt auf dem Tische, der Kopf auf das Buch gebettet und die Arme auf der Suche nach der bequemsten Lage vor sich ausgestreckt, rings umgeben von den mannigfaltigen und zierlichen Geräten, die den japanischen Tisch zieren, und von einem halben Dutzend bronzener Leuchter, in denen die Lichter zum Teil herabgebrannt waren. So bildete er zwar die Hauptfigur in einer ohne Frage ganz pittoresken Gruppe, allein einem mit dem Baumaterial der japanischen Häuser Vertrauten würde dieser Anblick zu allerlei ernstlichen Bedenken Veranlassung gegeben haben.

V.

»Wenn Sie nach Kioto gekommen sind, um hier Abenteuer zu erleben, so können Sie nachgerade zufrieden sein,« so redete Dr. Boduin am nächsten Tage gegen 5 Uhr früh den ihn verdutzt Anschauenden an. »Zuerst lassen Sie sich von der Sonne mitten auf der Landstraße umwerfen und werden dann durch das romantische Kursystem von Torin-Dschei wieder auf die Beine gebracht. Kaum ist dies gelungen, da stecken Sie sich selber in Brand in einem Hause, das Ihnen nicht einmal gehört, lassen einen großen Teil des Instituts mit in Flammen aufgehen und werden schließlich, wiederum ohne Ihr Zutun, aus der Klemme gezogen, und zwar abermals durch die Anstrengungen einiger tüchtiger Weibsleute. Würde es nun nicht in der Ordnung sein, wenn Sie sich zur Ausübung Ihrer ferneren Streiche eine andere Ortschaft aussuchten?«

Der Doktor war kurz nach Mitternacht aus dem Schlafe geweckt und nach Torin-Dschei gerufen worden. Hier fand er die Insassen und eine Anzahl benachbarter Landleute mit dem Löschen und Zerstreuen der glühenden Reste des Gebäudes beschäftigt, welches zur Unterkunft für die Gäste bestimmt gewesen war. Die guten Leute wünschten sich, nach den Prinzipien ihrer Buddha-Religion, Glück, daß der Unfall nicht größer gewesen war. Einige der Nonnen hatten leichte Verletzungen erlitten. Die älteren Schwestern aber befanden sich in triumphierender Aufregung; sie läuteten unaufhörlich ihre Glöckchen und priesen Fudo Sama in den vorgeschriebenen Strophen des Sanskrit, weil er die Entweihung seines Hauses, wie sie vorausgesehen, gerächt habe. Lubau aber lag in einem ihm fremden Raume wieder auf einem eiligst hergerichteten Lager, noch immer in halber Betäubung; man hatte ihn fast erstickt unter dem brennenden Holz- und Mattengetrümmer hervorgezogen.

»Ist jemand verunglückt?« fragte er stammelnd. Er hatte des Doktors sarkastische Worte nur zur Hälfte verstanden. »Wo ist Ina?«

»Verunglückt ist, Gott sei Dank, niemand. Ina befindet sich jedenfalls in ihrem Bett. Nach einer solchen Arbeit hat sie ein wenig Ruhe wohl verdient. Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie nicht ewig von Ina!«

»Aber ich muß doch wissen, ob sie zu Schaden gekommen ist oder nicht!«

»Sie hat etwas von ihrem Putz und Schmuck eingebüßt, in der Hauptsache aber ist sie müde. Alle sind müde, nur Sie nicht und die alten Weiber da draußen, die sich vor Vergnügen nicht zu lassen wissen darüber, daß Fudo Sama ihre Prophezeiungen erfüllt hat.«

»Ich muß Ina sehen, Doktor.«

»Mein Gott, was sind Sie für ein Mensch! War's denn nicht verabredet, daß Sie sich heute in aller Frühe entfernen und die armen Leute hier endlich in Frieden lassen sollten?«

»Die Sachlage hat sich geändert. Ich muß auch mit Teischin-San und Schiroyama noch reden. Wenn ich die Ursache dieser Feuersbrunst gewesen bin, wie es ja den Anschein hat, so muß ich den Verlust auch ersetzen.«

»Das wäre nicht mehr als recht, vorausgesetzt, daß Sie das können. Verursacht es Ihnen aber Schwierigkeiten, so wird man nicht einen Tempo Japanische durchlöcherte Bronzemünze. von Ihnen annehmen.«

»Ich will ihnen einen neuen Tempel aufbauen!« rief Lubau eifrig.

»Meinetwegen. Besprechen Sie das mit Teischin-San. Jetzt aber wollen wir uns nach dem Frühstück umtun. Hoffentlich haben Sie heute nacht nicht schon alles in Bausch und Bogen im voraus gekocht. Nachher können wir einen Sodan Ratsversammlung. abhalten.«

Zwei Stunden später wurde Henry Lubau in das offizielle Konferenzzimmer des Klosters geladen. Hier saßen auf einer erhöhten Estrade Schiroyama und seine beiden Töchter. Die drei grüßten feierlich nach der Landessitte, und auch Lubau machte seine tiefste Verbeugung. Ina schickte sich an, ihm entgegenzukommen, allein ein strenger Blick von Teischin-San hielt sie zurück.

»Die Oberin ist sehr schlimm auf Sie zu sprechen,« raunte der Doktor dem jungen Manne zu. »Sie muß irgend etwas entdeckt haben.«

»Willst du die große Güte haben, Ina-San,« begann Lubau, »deiner hochverehrten Schwester zu sagen –«

»Der Doktor Boduin hat uns versprochen, die Worte zwischen uns und dem Dana-San zu übersetzen,« unterbrach ihn Teischin-San auf japanisch. »Meine Schwester ist unwohl.«

Ina warf der Sprecherin einen schmerzvollen Blick zu, und Lubaus Antlitz ward dunkelrot bei dieser direkten Eröffnung der Feindseligkeiten. Er beherrschte sich aber und sprach aufrichtig und herzlich sein Bedauern über den durch ihn hervorgerufenen Unfall aus, auch gelang es ihm, sein Anerbieten, den Verlust zu ersetzen, mit allem nötigen Takt vorzubringen.

Teischin-San überlegte ein wenig und entgegnete dann im Ton eisigster Kälte:

»An das, was zerstört wurde, verschwenden wir keinen Gedanken mehr. Unser Haus stand dem Fremdling offen; es war das seine, er konnte damit tun, was ihm beliebte. Was wir haben, wir geben es gern hin im Namen der Menschenliebe. Der Zufall, der uns einiger armseliger Räumlichkeiten beraubte, kümmert uns wenig; die Bosheit des Herzens aber, welche die Unschuld kränkt, welche unsere freundliche Hilfe wohl annimmt, sie aber vergilt mit schnödem Verrat, wird nimmermehr unsere Verzeihung erhalten. Wohltaten aus des Feindes Hand weisen wir zurück. Möge der Fremdling seines Weges gehen und vergessen sein.«

»Sie gibt's Ihnen gut,« sagte Dr. Boduin. »Hören Sie nur: –«

Teischin unterbrach ihn.

»Was ich soeben geredet, soll Ina dem Dana-San übersetzen,« sagte sie.

»O, Nei-San!« flehte das Mädchen in Angst. »Erlaß mir das! Ich kann diese Worte nicht wiederholen! Sie sind grausam und ungerecht!«

»Ina-San, es ist mein Wunsch und du wirst gehorchen!«

Zum hundertsten Male während seines Aufenthaltes im Kloster fühlte Lubau jetzt den fast unwiderstehlichen Drang, den Leuten zu sagen, daß er ihre Sprache verstehe. Der Doktor aber kam ihm zuvor. Derselbe sagte ihm in drei Worten den Inhalt der Rede und rief dann schnell:

»Nicht nötig, Teischin-San; ich habe es ihm bereits mitgeteilt.«

»Es scheint mir, daß meine gestrenge Wirtin sich ihrer armen Schwester als eines Strafinstruments für mich bedienen will,« sagte Luban jetzt zu Dr. Boduin. »Man läßt das Mädchen dort mit bedecktem Haupte sitzen; nach der Landessitte ist das eine geflissentliche Unhöflichkeit gegen den Gast. Ohne Zwang täte das Kind dies sicher nicht.«

»Teischin ist ganz ohne Zweifel sehr zornig auf Sie,« entgegnete der Doktor. »Sie hat etwas auf der Seele, was ich noch nicht ergründen kann. Ihnen, lieber Freund, ist die Sache vielleicht weniger unklar. Wegen des Kopftuches aber sind Sie im Irrtum. Ich weiß, weswegen sie das trägt.«

»So. Nun, ich weiß es nicht, und deshalb werde ich Ina selber nach dem Grunde fragen,« sagte Lubau, unwillig über die Bemerkung des alten Herrn.

»Das dürfen Sie nicht!« sagte dieser schnell und erschrocken, aber schon hatte der andere sich zu dem Mädchen gewendet.

»Ina-San,« rief Lubau, »meine liebe Freundin, nie hätte ich geglaubt, dich mit einem Tonugui vor mir zu sehen. Es steht dir ja sehr gut, allein ich sah dich stets lieber ohne ein solches.«

Ina errötete lebhaft und fuhr mit der Hand nach dem Tuch, als ob sie es abnehmen wollte. Allein sie besann sich und sagte zu ihrer Schwester:

»Er mag mich nicht in dem Tonugni sehen. Was soll ich tun? Er darf doch unmöglich wissen, daß –«

»Nimmermehr,« antwortete Teischin. »Es geht ihn auch nichts an.«

»Was steckt denn für ein Geheimnis dahinter?« fragte Lubau lächelnd. »Bitte, Ina-San, laß mich alles wissen.«

»Aber so quälen Sie sie doch nicht!« rief Dr. Boduin jetzt ebenfalls zornig. »Betragen Sie sich wie ein Gentleman, damit wir zu Ende kommen!«

Lubau tat, als habe er nichts gehört.

»Ina,« wiederholte er sanft, »soll ich vergebens bitten?«

»Er will's nicht anders!« sprudelte der Doktor in komischer Wut. »Gut, mein Junge! Nein, Ina, laß mich, jetzt soll er's hören! Wollen mal sehen, ob ihm noch spaßhaft zumute sein wird, wenn er's weiß. Also, Mynheer Brandstifter, sie trägt das Kopftuch, das Sie in Ihrer lächerlichen Anmaßung auf sich beziehen, weil sie auf der einen Seite all ihr schönes Haar verloren hat. Es verbrannte ihr, verbrannte zu Asche nebst ihrem Kleide, als sie Sie, Ihren kostbaren Pflegling, den Flammen entriß und in Sicherheit brachte! Nun, so lachen Sie doch, junger Mensch! Ist das nicht so ein Späßchen, das einem zeitlebens vorhalten kann?«

Lubau sah und hörte den Doktor nicht mehr. Er war längst auf die Estrade gesprungen, hatte Ina aufgehoben und hielt sie fest an sein Herz gepreßt, als ob es weder einen Schiroyama noch eine zürnende Teischin-San in der Welt gäbe.

»Meine Ina!« stammelte er unter stürzenden Tränen. »Meine Einzige! Meine Liebste! Mein Alles!«

In einem japanischen Hause konnte eine solche Szene nicht länger als wenige Sekunden währen. Teischin-San stürzte wie ein Geier auf die beiden zu, riß ihre Schwester aus der entweihenden Umarmung des fremden Barbaren und stieß sie fort aus seinem Bereiche. Schiroyamas würdiges Antlitz blickte finster und empört; seine Hand war vergeblich nach dem Gürtel gefahren, wo er die beiden Schwerter zu tragen gewohnt gewesen, ehe dieser ritterliche Brauch durch das Dekret des Kaisers aufgehoben wurden. Dr. Boduin aber erkannte, daß die Affäre plötzlich eine ganz wunderbare Wendung genommen habe.

»Ich übernehme die Verantwortung für alles!« schrie er auf japanisch. »Der Dana-San Lubau ist ein ehrenhafter Mann!« Dann wendete er sich an den letzteren und fügte hinzu: »Ich habe ihnen gesagt, daß sie sich von Ihnen, als einem Gentleman, keiner bösen Absicht zu versehen hätten.«

»Es freut mich, daß Sie endlich einen lichten Moment haben, lieber Freund,« antwortete der junge Mann scherzend. »Wenn Sie nun noch so freundlich sein wollen, Herrn Schiroyama und jene Dame, die mich mit ihrer Abneigung beehrt, zu veranlassen, mir noch einige Minuten ruhig zuzuhören, so sollen auch sie erfahren, daß sie sich in mir nicht täuschten.«

»Und Ina?«

»Wenn Ina uns jetzt auf eine kurze Zeit verlassen will, so wäre ich ihr dankbar. Es gilt ihr und mein Glück.«

Ina ging langsam zur Tür, ohne ihre Schwester oder ihren Vater erst befragt zu haben.

»Aber du gehst inzwischen nicht fort?« sagte sie leise.

»Ich? Ohne dich? Niemals!« rief der junge Mann mit Feuer.

Die Tür schob sich hinter ihr zu.

»Herr Dr. Boduin,« begann Henry Lubau jetzt ernst und feierlich, »ich ersuche Sie, Schiroyama-San zu eröffnen, daß ich denselben um Ina, seine Tochter, bitte.«

Der Doktor betrachtete ihn mit zögernden und kritischen Blicken.

»Sachte, Freund Lubau,« sagte er. »Immer ruhig und besonnen!«

»Ich bin ruhig und besonnen und weiß, was ich tue. Lassen Sie Ihr holländisches Mißtrauen beiseite und entsprechen Sie meiner Bitte. Wollen Sie das nicht, so stoppele ich selber wohl so viel Japanisch zusammen, um mich Schiroyama-San verständlich zu machen.«

»Da würde etwas Schönes zutage kommen. Aber wie Sie wünschen. Sie müssen's ja am besten wissen.«

Und nunmehr trug er mit der gespreizten Formalität des Landes und in meisterhaftem Japanisch das Anliegen des Gastes von Torin-Dschei den schweigend und würdevoll zuhörenden Herrschaften vor. Als er geendet hatte, erwiderte Schiroyama ebenso höflich und feierlich, daß man ihn und Teischin-San auf einige Zeit entschuldigen möge, da die Angelegenheit zunächst eine Besprechung unter vier Augen erheische. Damit erhoben sich die Herrschaften und gingen nach gegenseitigen tiefen Verbeugungen hinaus.

»Mit dem Vater wird es keine Schwierigkeit haben,« sagte der Doktor. »Er liebt Ina so innig, daß er ihrem Glück nie im Wege sein wird, und die Kleine dürfte ihn nicht lange darüber, was für sie Glück bedeutet, in Zweifel lassen. Teischin aber ist weniger leicht zu behandeln.«

»Sie wird doch hoffentlich verstanden haben, daß ich Ina zu meiner ehelichen Gemahlin begehre,« bemerkte Lubau.

Der Doktor starrte ihn an, und dieser Blick sprach Bände.

Der junge Mann schlug die Augen nieder.

»Ich bitte um Verzeihung, Doktor, herzlich und aufrichtig!« sagte er. »Allein, wie die Sache hier in Japan nun einmal liegt, konnte sie ja auch der Ansicht sein, daß alle Ausländer die eingeborenen Mädchen als ihre natürliche Beute betrachten.«

»Sie verkennen die Höhe der Gesinnung Ihrer Gastfreunde noch immer ganz gewaltig. Indessen, um auf etwas Tatsächliches zu kommen: darf ich einige Fragen an Sie stellen? Man wird von mir Informationen über Sie verlangen, und mit Recht. Darf ich also?«

Ich bitte, Doktor; selbstverständlich.«

»Sind Sie in der Lage, für Ina ausreichend zu sorgen?«

»Ich bin reich.«

»Sie redeten davon, den abgebrannten Teil des Tempels wieder aufbauen zu wollen.«

»Ich kann den Leuten, wenn es sein muß, zehn Tempel bauen lassen.«

»Wahrhaftig? Nun, das höre ich gern. Ina wird durch Reichtum nie verdorben werden. Aber noch eine Frage, da ich nun doch einmal der Nakodo Vermittler, auch Kuppler. bin: Sind Sie vollkommen Herr über sich selbst und über Ihre Handlungen?«

»Vollkommen.«

»Sie haben aber wohl Verwandte, die ein Geschrei über den Schritt, den Sie beabsichtigen, erheben werden? Ich kenne das.«

»Mein Vater ist ein vorurteilsfreier Mann, dessen Zustimmung und Segen ich gewiß bin. Sonst kümmere ich mich um niemand.«

»Das war alles. Ihre Hand, mein Sohn! Das ist der erste derartige Fall in meiner Praxis. Aber ich freue mich herzlich. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lieb ich das Kind habe! Gott segne Sie beide! Ich bin überzeugt, daß Sie ihr ein guter Gatte sein werden!«

Wie der Doktor vorausgesehen, rief man ihn bald zur Teilnahme an dem Familienrat. Eine weitere halbe Stunde verging. Dann öffneten sich die Türen, und die Gesellschaft erschien wieder im Konferenzzimmer. Teischin führte ihre Schwester an der Hand und ging direkt auf Lubau zu.

»Ich beklage,« sagte sie auf japanisch, »daß meine Worte ihm durch die Übersetzung kalt und dürr erscheinen müssen. Du wirst ihm doch nur den Schatten von dem mitteilen können, was ich hineinlegen möchte, Ina-San.«

»Dann bitte ich dich, Teischin-San, in deiner eigenen Sprache zu mir zu reden,« rief Lubau. »Ich hätte euch schon lange sagen müssen, daß ich dieselbe sehr wohl verstehe.«

Diese in recht gutem Japanisch gesprochenen Worte wirkten fast erstarrend. Ina begriff ihre Tragweite zuerst.

»O, Nei-San!« rief sie. »Dann hat er von Anfang an alles gehört und verstanden!«

»Es war nicht mein Wunsch, euch zu hintergehen,« bemerkte Lubau nicht ohne Verlegenheit.

»Das ist wohl glaubhaft,« sagte Teischin. »Er hat sicher manches gehört, was wir ihm zu verbergen gedachten. Wenn das so ist, so war seine Verheimlichung nicht tadelnswert.«

»Es ist, wie du sagst, Teischin-San; ich danke dir für deine gerechte Beurteilung.«

»Ich freue mich, dich jetzt gerecht beurteilen zu können,« antwortete sie. »Bis jetzt ließ mein Vorurteil dies nicht zu. Doch das ist vorbei. Fortan will ich mich bemühen, nur Gutes an dir zu sehen, denn mit ganz verändertem, mit willigem Herzen gebe ich dir hier meine Schwester, mein Kleinod, die einzige Freude meines einsamen Lebens. Ich habe von jeher nur allein ihr Glück im Auge gehabt. Wenn sie jetzt dasselbe ohne mein Zutun gefunden hat, so ziemt es mir nicht, ihr entgegen zu sein. Ich las in ihrer Seele, daß sie zu fühlen gelernt hat, was ich nie gefühlt – was ich fürchtete, das keine Frau in diesem Lande fühlen dürfe, ohne Schmach und Elend fürchten zu müssen. Du, ein Fremdling, hast die heilige Flamme entfacht, du wirst, das hoffe ich, dieselbe auch lebendig erhalten können. Der gute Doktor unser Freund, hat uns erzählt, was in deinem Vaterlande und in deiner Rasse Frau und Mann einander sein sollen und können. Das ist wunderbar anzuhören, aber ich verschließe mein Herz jeglichem Unglauben und Mißtrauen um Inas willen. Schenke ihr deine Liebe; ohne sie wird sie dahinwelken und sterben. Schenke ihr deine Liebe und nimm dafür die Segnungen, die wir von unseren Göttern auf alle herabflehen, die gut sind und treu. Mein Vater, Schiroyama Nobuhara, befiehlt mir, dir zu sagen, daß die letzte Tochter unseres Hauses jetzt dir zu eigen gehört.«

Langsam sank sie vor dem tief ergriffenen jungen Manne auf die Knie, sie verhüllte ihr Antlitz in den Falten ihres Obergewandes und zog mit der Rechten die Schwester herbei, bis dieselbe an Lubaus Seite stand, der, vergebens nach Worten suchend, das junge Madchen fest an sich drückte ...

VI.

Als die Schwesterschaft von Torin-Dschei von dem Ereignis Kunde erhielt, da war es, als ob ein Erdbeben die heilige Stille des Klosters unterbrochen hätte. Das also waren die Folgen davon, daß man einen kranken Ungläubigen der Begünstigungen teilhaftig gemacht, die allein für die Söhne und Töchter Dai Nippons bestimmt gewesen! Das Feuer von Fudo Sama hatte das Herz der von allen geliebten jungen Novize ergriffen. Die jüngeren Nonnen begrüßten dies einstimmig als eine glückliche Fügung; die älteren aber schüttelten unglückverheißend die Köpfe, bis plötzlich die Nachricht einlief, daß der Fremdling Anstalten treffe, das niedergebrannte Gebäude in doppelter Größe und in nie dagewesener Pracht wieder aufbauen zu lassen, und daß er auch dem Feuergotte reiche Geschenke darzubringen gesonnen sei. Das gab einen Umschlag in der Stimmung der alten Damen, ja man ging sogar so weit, zu mutmaßen, daß der Fremdling vielleicht gar ein Proselyt und ein Anhänger der Tendai-Sekte werden könne. Teischin nahm jetzt Lubaus Anerbieten willig an, jedoch nicht, ohne die überschwengliche Großmut desselben weise zu beschränken. Inas Stolz und Glück kannten keine Grenzen, als sie gewahr wurde, welche Gelegenheiten, Gutes zu tun, ihr durch den Besitz so großer irdischer Güter gewährt wurden; es war dies der einzige Maßstab, den sie an den Wert des Reichtums legte.

Die Neuigkeit von der Verlobung des jungen Großkaufmannes Henry Lubau, von der Firma Lubau & Sohn in Tokio, mit einer Japanerin wurde in den Kreisen der in Japan wohnenden Europäer zuerst ungläubig, dann aber fast allgemein mit Entrüstung aufgenommen. Daß ein notorisch liebenswürdiger junger Mann, die Zierde der europäischen Gesellschaft Japans, dazu ein Millionär, noch laborierend unter den Folgen einer durch Sonnenstich verursachten Gehirnentzündung, auf so schnöde Weise die Beute einer ränkevollen, heruntergekommenen Samurai-Familie geworden war, wurde als höchst bezeichnend für die Art und Weise der zu allem fähigen orientalischen Perfidie angesehen. Man hielt eine energische Intervention von seiten der diplomatischen Vertreter Europas am Hofe des Mikado für unbedingt geboten. Als aber nichts Derartiges geschah, da übernahmen es einige der Wohlmeinenden, den verblendeten Mann persönlich auf seinen Mißgriff aufmerksam zu machen und ihm vorzuhalten, daß er durch eine solche Heirat der gesamten zivilisierten Gesellschaft gleichsam ins Gesicht schlage; worauf der verblendete Mann aber seine Ansicht über die zivilisierte Gesellschaft in so drastischer Weise aussprach, daß der Wortlaut hier nicht wiedergegeben werden kann; nur so viel sei angedeutet, daß der Bruch zwischen ihm und dieser ehrwürdigen Gesellschaft seither ein vollständiger und anscheinend unheilbarer ist.

Nach seiner Verheiratung, die am achtzehnten Geburtstage Inas stattfand, erbaute er mit der Erlaubnis der Regierung in der Umgebung von Kioto ein zweites Kloster in dem genauen Stile desjenigen, in welchem er die Erwählte seines Herzens kennen gelernt. In Verbindung mit demselben ließ er auch eine Anzahl von Kinderschulen errichten, in denen heute, nach Inas Plan, die einsamen Klosterschwestern Unterricht erteilen und so ihr Los leichter tragen.

Dr. Boduin beobachtet mit herzlicher Freude das immer zunehmende Glück Ina-Sans, die mit ihrem Gatten einen großen Teil des Jahres in Kioto zubringt. Schiroyama hat über dem Segen, der seiner jüngsten Tochter geworden ist, den Kummer der früheren Jahre fast ganz vergessen, und er sieht in dem »fremden Barbaren« jetzt den Stolz seines alten Hauses. Teischin-San, das edle, selbstlose Weib, trägt den Verlust der Schwester opferfreudig und still zufrieden, weiß sie doch, daß ihrem Liebling das höchste Glück der Frauen beschieden wurde, und zwar, wie ihr harmloser Glaube sie lehrt, durch das heilige Feuer von Torin-Dschei.


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