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Es war am Sonnabend den 1. Dezember 190... gegen einviertel drei Uhr nachmittag, als ein alter Mann in einer gestrickten Jacke, grauen Beinkleidern und einer blauen Schürze, auf dem Kopfe ein Käppchen, von schmutzigem Wasser triefend, in das Bureau des Polizeireviers des Raisin-Sec stürzte. Wie ein Meteor glitt er an den Schutzleuten vorbei, lief durch das Wartezimmer, und ohne anzuklopfen drang er in das gefürchtete, verehrte Heiligtum des Wachtmeisters Eglantine. Dieser lehnte behaglich mit seinem majestätischen Bart und Bauch in seinem grünen Lehnsessel und rauchte zur Verdauung eine Zigarre.
Der kühne von Wasser triefende alte Mann fiel hier also wie eine Bombe hinein. Sein Gesicht war vor Schrecken verzerrt und seine Kappe saß schief. Er warf sich vor dem Wachtmeister auf die Knie, und sofort war der Fußboden wie überschwemmt:
»Zu Hilfe, Herr Wachtmeister,« stieß er mit herzzerreißender Stimme hervor.
Heftig war Herr Eglantine aufgesprungen, eine so unpassende Kühnheit erfüllte ihn mehr mit Staunen als mit Entrüstung, und er fragte sich, welches große Unglück geschehen sein müßte, das die Gewagtheit dieses Mannes entschuldigen könnte.
»Wer ... wer sind Sie,« fragte er, »wie können Sie wagen? ...«
»Ich bin Casoar,« sagte der Eindringling, »der Portier aus Rue Clou-dans-le-mur 33. In meiner Loge rinnt ein Bach.«
»Ein Bach,« sagte Herr Eglantine, »Sie sind betrunken!«
»Man kann sich mit Wasser nicht betrinken,« antwortete Casoar, »aber darin ertrinken. Das wäre mir beinahe geschehen ... In dem Augenblick, in dem ich mit Ihnen spreche, wird die Überschwemmung schon größer geworden sein, das Haus wird einstürzen (was wird Herr Druide dazu sagen?), das ganze Viertel wird unter Wasser stehen! Zu Hilfe, zu Hilfe, Herr Wachtmeister!«
»Ich komme,« sagte mit Würde Herr Eglantine und stand auf. Er nahm zwei Schutzleute mit, und sie machten sich auf den Weg. Unterwegs erzählte ihnen Casoar, daß er eine Hängelampe, die man ihm zu seinem Geburtstage geschenkt hatte, anmachen wollte, und als er ein Loch in die Decke seiner Loge bohrte, hatte er plötzlich gefühlt, daß er mit seinem Werkzeug an eine hohle Stelle kam, und im selben Augenblick war eine schlammige Wasserflut aus dem Loch gedrungen und hatte sich so heftig über ihn ergossen, daß sie ihn von dem Tisch schleuderte, auf den er gestiegen war. Die Flut hatte die Loge und den Hof überschwemmt und floß mit einer schrecklichen Gewalt dahin. Er, Casoar wäre nun geflohen, um polizeiliche Hilfe zu suchen ...
Jetzt waren sie vor dem Hause Rue Clou-dans-le-mur 33 angelangt. Es stand eine Menge Leute davor, um den Bach zu beobachten, der aus dem Haustor drang und sich über das Trottoir ergoß. »Das Wasser ist salzig,« meinten die Neugierigen. Ein Schutzmann überwachte die Tür des Grundstücks.
»Ach du Himmel, da ist Herr Druide,« rief Casoar entsetzt und zeigte auf einen würdig aussehenden, glatt rasierten Herrn, der mit dem Schutzmann sprach. »Er ist der Wirt,« erklärte der Portier Herrn Eglantine. Bald waren sie in der Loge, in der das Wasser aus der Decke herabstürzte.
»Casoar,« sagte der Wirt mit strengem Blick, »ich entziehe Ihnen mein Vertrauen.«
»Gnädiger Herr begeht ein Unrecht damit,« murmelte der Unglückliche niedergeschlagen. »Ich trage keine Schuld an dem Vorfall und ich komme um mein Brot.« Er setzte sich auf die Treppe und weinte.
»Herr Wachtmeister,« sagte feierlich Herr Druide, »ich weiß, wer diesen Streich ausgeführt hat. Ein menschliches Wesen, Aubergeois benannt, wohnt zur Unehre dieses Hauses als Mieter im ersten Stock, nur er allein kann mit Hilfe eines schrecklichen Negers, seinen ergebenen Sklaven, diese Sintflut ausgesonnen haben, die an Grausen den entsetzlichsten Verwüstungen, welche die Natur jemals beging, gleicht. Von all den menschlichen Ungeheuern, die mit ihren Lastern, ihrer Grausamkeit und ihrer Verderbnis unsere Erde beflecken, halte ich Aubergeois für das schlimmste ...«
»Wir wollen zu ihm hinaufgehen,« sagte Herr Eglantine, »es ist das Wichtigste. Ihr Casoar hätte das zuerst tun sollen.«
»Er wird es nicht gewagt haben,« sagte Herr Druide, »und ich selbst würde es auch nicht ohne die Unterstützung bewaffneter Macht tun ... Übrigens wird er uns nicht öffnen ...«
»Holen Sie einen Schlosser,« befahl Herr Eglantine dem Portier. Zu Herrn Druide sagte er: »Was hat Ihnen denn dieser Aubergeois getan?« – »Alles,« erwiderte mit düsterer Stimme der Wirt und versank in finsteres Schweigen.
Die Anwesenheit eines Schlossers war keineswegs überflüssig, denn als man hastig gegen die Tür schlug – an der Korridortür des ersten Stockwerks befand sich keine Klingel – wurde nicht geantwortet. Man mußte mit Gewalt den Zugang zur Wohnung öffnen, und das war keine Kleinigkeit: die Doppeltür war mit einer Matratze gepolstert. Man trat ein. Der Korridor war dunkel. Herr Eglantine ging an die erste Tür und öffnete sie. Der Raum, den er betrat, war durch eine Zwischenwand geteilt, die so hoch war, daß der Wachtmeister nicht darüber hinwegsehen konnte. Die Decke des Zimmers war bemalt, und zwar sollte sie wohl den Himmel mit dahinziehenden Wolken darstellen. Man hörte Wasser plätschern und vernahm Vogelstimmen. Ein salziger Geruch stieg einem in die Nase. Herr Druide und Eglantine kletterten auf Stühle, um über die Wand hinwegzusehen. Ein großer See floß zwischen schimmernden und bemalten Wänden dahin, Grotten und Kieselhaufen unterbrachen manchmal seinen Strom; er breitete sich über das ganze Zimmer (den Salon) aus und ging durch die offenstehenden Türen auch in die angrenzenden Räume. Algen und Seegras trieben in der leicht wogenden Flut. Eine junge Robbe zeigte in einem zierlichen Sturz den speckigen Glanz ihres Rückens und verschwand im Wasser. Pinguine saßen auf einem Felsen. Unter den leichten Wellen, die von dem schnellen Flug der Möwen bewegt wurden, sah man schnell dahingleitende Fische durchschimmern. An dem Kamin war eine Austernbank angelegt.
»Mein Gott,« stöhnte Herr Druide nur, und ohnmächtig fiel er vom Stuhl und schlug mit dem Kopf hart auf den Boden.
Aber Herr Eglantine empfand keineswegs den Wunsch, sich um den Hausbesitzer zu kümmern, denn durch die linke Tür kam jetzt in großen gewaltigen Stößen ein dicker, nackter Mann angeschwommen und pustete wie ein Pottfisch. Er heftete seine Blicke auf Herrn Eglantine. Dieser fühlte sich auf seinem wackligen Stuhl unbehaglich. »Ich bin der Wachtmeister,« sagte er und hielt seine trikolorenfarbene Schärpe hoch, die über der Flut flatterte.
»Machen Sie, daß Sie rauskommen,« befahl der dicke Mann.
Er war jetzt bis zu dem Felsen der Pinguine herangeschwommen und setzte sich darauf, bis zur Hälfte im Wasser bleibend. Er kreuzte seine muskulösen Arme und betrachtete Herrn Eglantine, dessen Kopf sich 5 m weit über dem See erhob. Es herrschte erschreckendes Schweigen.
»Nicht wahr, Sie sind doch Herr Aubergeois,« begann Herr Eglantine mit unsicherer Stimme. »Ich komme hierher, mein Herr, um Sie zu benachrichtigen ... daß Sie großen Schaden verursacht haben ... wohl unfreiwillig ..., aber in der Loge des Portiers Casoar stürzt das Wasser ... Dieser ... Angestellte wollte ein Loch bohren ... für eine Hängelampe ... Geburtstagsgeschenk ... Sie werden begreifen, wie unglücklich er ist ... er hat das ganze Wasser auf den Kopf bekommen und eilte zu mir ..., um die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen ... sie wird ihm nicht verweigert werden ... nie wird sie jemand verweigert ...«
Er wartete einen Augenblick.
»Machen Sie, daß Sie rauskommen,« gebot der dicke Mann ruhig.
»Mein Herr, keine Frechheiten,« erklärte majestätisch Herr Eglantine, »ich weiß, daß ich in Ihrer Behausung bin ... (ich bin sogar gesetzwidrig darin, dachte er), aber ich »mache nicht, daß ich rauskomme,« wie Sie sagen, denn es ist meine Pflicht, Ihnen klarzumachen, daß Sie nicht das Recht haben, ein ganzes Stadtviertel in Aufregung zu versetzen ... durch die Anlage eines Sees ... vielmehr eines Meeres ... Sie haben nicht das Recht, die Sicherheit einer Stadt zu bedrohen, hohe Beamte zu stören, einen bescheidenen Portier halb zu ertränken und durch diesen verhängnisvollen Streich Ihrem ehrenwerten Wirt so zu schaden, daß er in diesem Augenblick vielleicht tot in den Armen meiner Schutzleute ruht ... Und dann ist es wirklich eine Schande, eine Gemeinheit, eine Schmach gegen die Sittlichkeit, daß Sie sich mir so nackt zeigen«
»Machen Sie, daß Sie rauskommen! Zum dritten und letzten Male,« befahl Herr Aubergeois.
»Herr Wachtmeister, das Wasser läuft nicht mehr,« schrie vom Treppenabsatz aus der vorsichtige Casoar.
»Ich gehe,« sagte Herr Eglantine zu Herrn Aubergeois. »Ich bedauere, in meinem Revier einen solchen Mann wie Sie zu haben. Ich habe hier nicht mehr zu tun; es ist Herrn Druides Angelegenheit, Sie wegen des verursachten Schadens zu verklagen ...«
»Genug,« sagte Herr Aubergeois, »schon zu lange habe ich Sie sehen müssen. Sie sind häßlich. Wenn ich niederträchtig wäre, würde ich Sie und dieses alte Kamel Druide bei dem Gericht wegen Hausfriedensbruchs anzeigen ... Ich gebe Ihnen den guten Rat, mich zufriedenen lassen. Wäre mein Neger Hickory hier gewesen, hätte er euch nicht hereingelassen, aber er ist nach Arachon gefahren, um Austernbrut zu kaufen. Ich habe versucht, das Loch zu verstopfen, das dieser fürchterliche Dussel in mein Abflußrohr gebohrt hatte, nicht um irgendeine Hängelampe anzumachen, aber um mir meine Perlenmuscheln zu mausen, die mein Vermögen sind. Das war es. Ich will gern glauben, daß Sie das nicht wissen. Macht er das noch einmal, setze ich das ganze Viertel unter Wasser.« Er fuhr fort:
»Nach meinem Kontrakt habe ich das Recht mir eine Badewanne zu halten, deren Größe nicht vorgeschrieben ist ...
Ich nehme sehr gern Seebäder, die mir ein Arzt das ganze Jahr über verordnet ... Und ich fühle mich sehr wohl dabei, weil ich meine Pinguine und meine Robbe und meinen Neger Hickory habe, die mir Gesellschaft leisten ... und ihre Gesellschaft genügt mir, und andere will ich nicht. Das ist doch mein gutes Recht, nicht wahr? Ich bezahle meine Miete! Jetzt aber lassen Sie mich arbeiten!«
»Arbeiten?« stotterte verwirrt der Wachtmeister.
»Ja! Ich mache hier Übungen, damit ich einmal durch den Ärmel-Kanal schwimmen kann!«