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Der Zeitungsträger.
Novellette von Edward Stilgebauer

Vater und Mutter hatte er nie gekannt. In einem Findelhause in Parma hatte man ihn eines Abends in Lumpen eingewickelt abgeliefert, und die weißgetünchten Wände des Kindersaales, in welchem die Bettchen der Findlinge gestanden, waren das erste, worauf sein erstaunter Kinderblick aus großen, weit geöffneten braunen Augen gefallen, jener ziellos starrende Blick des Kinderauges, der noch nicht weiß, was die Gegenstände, die er erfaßt, bedeuten sollen ... Als er laufen konnte und zu sprechen anfing, hatte ihn die Stadt einem Schuster gegen eine jährliche Vergütung von 85 Lire in Pflege gegeben, und in dem Hause dieses Schusters hatte er zum ersten Male das Bewußtsein von dieser Welt erlangt. In einem kleinen Dorfe, durch dessen Gassen Hühner liefen und Enten watschelten, hatte das kleine rebenumrankte Holzhüttchen seiner Pflegeeltern gestanden. In diesem hatte man ihm auf der Erde aus alten Kleidern und Säcken ein Lager bereitet, das er mit den vier Kindern des Schusters zu teilen hatte. Negro, wie die Bauern des Dorfes seinen Pflegevater kurz nannten, und dessen Frau Giuseppa waren verschlossene Leute. Er flickte den Bauern die Schuhe ... eine Ausbesserung kostete 20 Centesimi ... und Frau Giuseppa trug die ausgebesserte Ware zurück in die Hütten der Bauern und holte die zerrissenen heim. Eine Schule gab's in dem Dorfe nicht. Die Kinder, die Lesen und Schreiben lernen sollten, mußten eine Stunde weit in das nächste größere Dorf wandern. Ihn konnte Frau Giuseppa nicht entbehren. Wenn sie von Haus zu Haus ging, die Schuhe zu holen, mußte er in dem Hüttchen die Kleinen hüten und nach dem Maisbrei auf dem Herde sehen, und wehe ihm, wenn dieser nach Frau Giuseppas Rückkunft angebrannt war.

Negro saß den ganzen Tag auf seinem Holzschemel vor der Tür des Hauses unter einem Rebendache und hämmerte auf die Stiefeln der Bauern, als ob er seinen Groll gegen die Menschheit in die Stiefel hineinhämmern wollte.

Da der Findling am Johannistage abgeliefert worden war, hatte man ihm den Vornamen Giovanni gegeben, und weil man keinen Zunamen für ihn wußte, nannte man ihn einfach Parmigiano, da er wahrscheinlich in Parma das Licht der Welt erblickt hatte.

Als Giovanni acht Jahre zählte, griff das Schicksal zum ersten Male entscheidend in sein Leben ein.

An einem heißen Sommertage war Frau Giuseppa in das Dorf gegangen, die Bestellungen von den Bauern entgegenzunehmen. Ihre Familie hatte sich in der Zwischenzeit beträchtlich vermehrt, so daß der kleine Giovanni nun über sieben die Aufsicht zu führen und den Maisbrei für zehn Esser zu überwachen hatte. Negro saß drüben in der Trattoria, um den Staub der Gasse mit einem kühlen Trunke hinunterzuspülen. Giovanni stand auf einem Schemel am Herde und rührte unermüdlich den dampfenden und kochenden Maisbrei, damit dieser nicht anbrennen sollte, indessen die beiden Jüngsten der Frau Giuseppa – Marietta und Julietta – auf dem Boden umherkrochen.

Durch einen unglücklichen Zufall näherte sich die zweijährige Julietta dem Schemel, auf dem Giovanni stand. Giovanni verlor das Gleichgewicht und fiel hintenüber, indessen der große Rührlöffel, den er in seinen Händen hielt, seinen glühenden Inhalt über Juliettas nackte Ärmchen ergoß. Das Kind fing an zu schreien. Giovanni wußte sich keinen Rat, er ließ den dampfenden Maisbrei und die Kleinen im Stiche, lief hinaus und kroch vor lauter Angst in den Ziegenstall, wo er sich in einem Haufen Stroh versteckte. Sein kleines Herz klopfte hörbar, er wagte nicht, sich zu regen, ja kaum zu atmen, und plötzlich, er mochte erst eine Viertelstunde im Stroh gesteckt haben ... plötzlich schien es ihm, als stünde sein Herz still. Negros derbe Hand hatte ihn am Bein gefaßt, und er sah nur noch, wie der wütende Schuster einen mächtigen Holzknüppel über ihm in der Luft schwang. Dann verlor er die Besinnung nach fürchterlichen Schmerzen.

Als er wieder zu sich gekommen, fand er sich in einem weißen Bette liegen, er schloß seine Augen wieder, sein Arm schmerzte. Eine weiche Hand, wie er sie sein Lebtag nicht gefühlt, strich über seine Stirn, wieder schlug er die Augen auf und schaute in das Gesicht einer milden Frau, die, ein weißes Häubchen auf dem Kopfe, sich über ihn geneigt hatte. Da lächelte er und schlief wieder ein.

Als man ihn aus dem Kinderspital entließ, war sein rechter Arm steif. Er kam nicht zu Negro zurück. Das Dorf mit dem rebenumsponnenen Häuschen, der Schuster und Frau Giuseppa, Julietta und der dampfende Maisbrei schwanden aus seiner Erinnerung.

Eines Morgens saß er in Begleitung einer Wärterin in der Eisenbahn und fuhr nach der Stadt. Dort hatte man ein Unterkommen für ihn ausgemacht.

Der Blechschmied Martinoni und seine Frau, die sich zur Aufnahme des von der Behörde ausgeschriebenen Knaben gemeldet hatten, wohnten in einer kleinen engen Gasse, in die das Licht des Tages nicht fallen konnte, und in der es immer nach Salami und Risotto roch. Denn in dem gegenüberliegenden Hause befand sich eine Volksküche, vor deren Tür immer ein Kessel mit kochendem Reisbrei dampfte, aus dem sich die Vorübergehenden ihr Mahl verabreichen ließen.

Auch in Martinonis Kellerwohnung herrschte kein Überfluß, allein der Blechschmied hatte keine Kinder, und so konnte seine Frau für ihren Mann und Giovanni kochen. Die Kunden kamen selber mit den rinnenden Eimern und den durchlöcherten Töpfen, und niemand brauchte die Arbeit auszutragen. Da durfte Giovanni in die Schule gehen und Lesen und Schreiben lernen. Allein das Lernen ging schlecht in seinen Kopf. Als er zehn Jahre alt war, war er kaum dazu imstande, seinen Namen Giovanni Parmigano zu schreiben, und beim Lesen buchstabierte und stotterte er wie ein Sechsjähriger. Martinoni, ein gutmütiger Alter, hätte gern einen Blechschmied aus ihm gemacht, allein der steife Arm hinderte Giovanni, ein Handwerk zu lernen. Als er fünfzehn Jahre zählte, wollte die Gemeinde den Martinonis kein Kostgeld mehr für ihn bezahlen. Der alte Blechschmied hatte Mitleid mit seinem Pflegling; er durfte wohnen bleiben, aber seinen Unterhalt mußte er sich nun verdienen. Da ward er Zeitungsträger in Parma. Viel warf das Zeitungstragen nicht ab. Aber mit dreißig Centesimi kann ein Italiener einen Tag leben, wenn er sich mit Polenta oder Risotto begnügt. Und Giovanni Parmigiano begnügte sich, ja, er machte noch Ersparnisse, da er keine Wohnung brauchte, so daß er Martinoni und dessen Frau noch etwas abgeben konnte. Da brach in der unkanalisierten Gasse in Parma, in der der Blechschmied wohnte, eine Seuche aus. Das Wasser schien vergiftet. Fast alle Anwohner, die aus demselben Brunnen getrunken, erkrankten an Typhus, und Martinoni und seine Frau starben in einer Woche. Nur Giovanni blieb wie durch ein Wunder von der Krankheit verschont.

Nun stand er allein auf der Welt. Man hatte ihm gesagt, daß in den großen Städten mit dem Zeitungsherumtragen viel mehr zu verdienen sei. So schnürte er denn sein Bündel und wanderte nach Mailand. Und wirklich, in Mailand gelang es ihm. Die Expedition des »Secolo« suchte Leute, die die Zeitung in die Cafés und Restaurationen trugen, und Giovanni mit seinem bleichen, leidvollen Gesichte und seinem steifen Arme erschien nicht ungeeignet, das Mitleid der Gäste zu erregen und so manchen kauflustiger zu machen, der die Zeitung nur nahm, um dem armen Schlucker ein Almosen zu geben. Er brachte es auf sechzig Centesimi und manchmal auf einen Lire pro Tag. Viel war das in Mailand freilich nicht; vierzig Centesimi mußte er für seine Schlafstelle geben, da blieben gewöhnlich nur zwanzig, manchmal auch fünfzig und sechzig für seine sonstigen Bedürfnisse. Und den ganzen Tag und die halbe Nacht hatte er zu laufen, um seine Nummern an den Mann zu bringen.

In allen Mailänder Cafés kannte man ihn. Man nannte ihn kurzweg Giovanni. Morgens und abends, wenn die neuen Nummern erschienen waren, stellte er sich an den Haupteingang der Galleria Vittorio Emmanuele auf den Domplatz und schrie den Vorübergehenden zu: Il Secolo di Milano, Signore, cinque Centesimi, prima edizione. Unermüdlich wiederholte er diese Worte, sie waren fast das einzige, was er den ganzen Tag und die halbe Nacht sprach. Sie klangen aus seinem Munde wie aus einem Phonographen. In Mailand kannte er keinen Menschen und schloß sich auch keinem an. Er lebte auf der Straße. Nachts gegen 1 Uhr, wenn man das Licht auf dem Domplatz abdrehte, suchte Giovanni sein Lager auf, und am nächsten Morgen um 7 Uhr war er schon wieder an der Stazione, um den Reisenden die Morgennummer des »Secolo« anzubieten.

So war es Jahre gegangen. Giovanni kannte nun jede Gasse, jedes Haus in Mailand, aber keinen Menschen. Denn er mußte laufen und laufen, um im besten Falle seinen Lire zusammenzubekommen. Bei einem Menschen sich aufhalten, das durfte er nicht, dazu hatte Giovanni keine Zeit.

In der glühenden Hitze des Juli und August, in dem scharfen Winde des Dezembers und Januars hatte er schon unzählige Male an dem Eingang der Galleria gestanden. Er gehörte gewissermaßen am Morgen und Abend zu der Physiognomie des Domplatzes, und seine Kunden, die regelmäßig an ihm vorüberkamen, streckten ihre Hand nach ihm aus wie nach einem Automaten, aus dem man den gewünschten Gegenstand nach Einwurf eines Nickels entgegennimmt.

Und bald kam eine Zeit, da nannten ihn die Leute, er selbst wußte kaum, warum, den »alten Giovanni«, und der zeitungsspendende Automat an der Galleria zitterte, wenn er den Nickel in Empfang nahm. Die Maschine schien nicht mehr ganz in Ordnung zu sein. Und eines Morgens fiel einem Herrn, der die Galleria passierte, und der mechanisch, ohne viel hinzuschauen, seine Hand nach dem Automaten ausgestreckt hatte, der Nickel auf die Erde. Erstaunt blickte er auf, dann nahm er seinen Nickel wieder an sich und steckte ihn ruhig in seine Tasche. Zum ersten Male, seitdem der Herr sich erinnern konnte, stand Giovanni Parmigiano nicht auf seinem Platze an der Galleria, und der Platz blieb leer.

Nach einigen Tagen hatte man den Zeitungsträger, der sich zum Erstaunen aller nirgend mehr einfand, fiebernd in seinem Bette gefunden, und der herbeigeholte Armenarzt hatte dessen sofortige Überführung in das Krankenhaus angeordnet, da sein Zustand im höchsten Grade bedenklich sei. Noch einmal kam Giovanni über den Domplatz, allein die leere Stelle, seinen Platz an der Galleria, auf dem er jahrzehntelang gestanden, den konnte er selbst nicht sehen, da er fiebernd in einem mit Segeltuch überzogenen Tragkorbe des Ospedale lag.

Ein trübes Lächeln zog über die Züge, des Hospitalarztes, als er am Bette des alten fiebernden Giovanni stand. Auch er hatte ihn oft an der Galleria gesehen, und ein leiser Schauer überlief ihn, als der fiebernde Kranke im Phantasieren die welke zitternde Hand nach ihm ausstreckte und mit trockenen Lippen und leiser Stimme flüsterte: Il Secolo di Milano, Signore, cinque Centesimi, prima edizione.

Der Arzt gab die Hoffnung auf, das Alter und der Hunger und Wind und Wetter, die schlechte Nahrung und was wußte er noch alles, mußten ja seinen Körper auf die Dauer zugrunde richten.

Fünf Tage lang lag Giovanni im Fieber. Man gab ihm Chinin, und endlich wich die Krankheit, allein die Kräfte kamen nicht wieder. Am Morgen des sechsten Tages, als die Macht des Fiebers, aber mit dieser auch die Lebenskraft des Körpers gebrochen war, hatte Giovanni einen wunderbaren Traum. Er war im Himmel. Der Krankensaal lag dicht neben der Spitalkirche. Es war an einem Sonntagmorgen, und auf einmal hörte Giovanni eine wunderbare Musik, zu der die Engel in Chören sangen. Er schlug die Augen auf, und da neigte sich zu seinen Häupten die Jungfrau Maria. Sehnsüchtig breitete Giovanni seine Arme aus, und wirklich wieder, wie schon einmal in seinem Leben, ein einziges Mal, fühlte er eine weiche Hand auf seiner Stirn. Das war die Hand der Jungfrau Maria. Und diese Hand wischte mit einem weichen Tuche alles Erdenleid aus seinem Gesichte, und leiser und leiser ertönte mit einem Male der herrliche Gesang und die himmlische Musik, die er gehört hatte. Aber die weiche Hand lag auf seinem Haupte, und er lächelte mit den welken Lippen.

Und nun fühlte er, wie ein warmes Angesicht sich zu ihm niederneigte ... die Jungfrau ... die Sinne wollten ihm vergehen ... er fühlte noch, wie sie einen Kuß, den ersten, den er in seinem Leben empfangen, auf seine kalte Stirn drückte ... und dann war alles aus.

Als der Arzt in den Krankensaal trat, meldete ihm die Schwester, daß der Kranke im Bett Nummero 7 soeben gestorben sei. Der Arzt trat an das Bett. Da lag Giovanni Parmigiano wie ein Verklärter, ein seliges Lächeln auf dem stummen, eingefallenen Angesicht.


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