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Helene.
Seenovelle von Graf Hans Bernstorff

»Hart upp mit't Roder, Johann! Hart upp!« schrie Schiffer Petersen, Führer der Bremer Brigg »Helene«, dem Mann am Ruder zu und sprang zugleich mit seinem Kajüts-Passagier, Reeder Gillmeister, heran, um das Rad drehen zu helfen und das Schiff zum Abfallen zu bringen.

Der seit Tagen über die Biskaya wehende schwere Nordweststurm war mit einem Ruck auf Nordost umgesprungen. Die Schaumkronen der überbrechenden Seen in einer Wolke von Gischt und Wasserdunst vor sich herfegend, kam eine rasende Bö von Lee herangeschnoben. Faßte sie das Schiff von dieser Seite, so war es unrettbar verloren.

Mit Aufbietung aller Kraft arbeiteten die drei Männer. Kreischend rasselte die Ruderkette um die Führungsrollen. Nach wenigen Sekunden lag das Ruder hart zu Bord. Doch bei der geringen Fahrt vermochte die in der hochgehenden See schwer stampfende Brigg nur langsam dem Druck zu folgen, und bevor sie weit genug abgefallen war, war die Bö heran.

In heulendem Stoß fiel sie in die Segel. Mit peitschendem Knall flogen Stagsegel und Sturmklüver aus den Lieken. Hart gegen Stage und Want legten sich die dicht gereeften Marssegel back. Einen Moment dehnten und reckten die Wanten und Stage sich knackend. Schon tauchten die Rahenocken des zum Kentern überliegenden Schiffes ins Wasser, da – ein dröhnendes, splitterndes Krachen und Brechen und wie von einer Riesenfaust geknickt, brachen Fock- und Großmast nur wenige Fuß über Deck, im Sturz das Mannschaftslogis mit dem daraufstehenden Langboot und die Backbord-Reling zertrümmernd. Weit ab flogen die Splitter.

Es war ein Glück, daß die Masten gingen, denn in der nächsten Sekunde wäre die Brigg gekentert. Jetzt richtete sie sich, von dem furchtbaren, übermächtigen Druck befreit, ein wenig wieder auf. Freilich kein Schiff mehr, sondern ein hilfloses, entmastetes Wrack, das wie ein Klotz auf den Wogen trieb und wie ein Spielball von diesen hin und her geschleudert wurde. Mit stieren Augen blickte der Schiffer sich um und starrte, keines Wortes mächtig, auf sein verwüstetes Fahrzeug. Doch die dumpfen Stöße der Takelage, welche gegen die Bordwand rammten, rissen ihn aus seiner Betäubung empor.

»Kapp! Kapp! Snied weg!« dröhnte die Stimme des alten Mannes, der mit jugendlicher Behendigkeit an die Reling sprang, ein Kappbeil ergriff und mit wuchtigen Schlägen auf das haltende Tauwerk einhieb.

Seim Beispiel feuerte auch die wenigen Leute an, welche die Besatzung der Brigg ausmachten. Einer erfaßte noch ein Kappbeil, die anderen rissen die Messer aus den Scheiden und schnitten darauf los!

»Hol di god fast!« keuchte Niels Nielsen dem Schiffsjungen Willem zu, der neben ihm arbeitete, denn unaufhörlich fluteten schwere Sturzseen wie über eine Klippe über das unglückliche Fahrzeug hinweg und drohten alles mit sich fortzureißen. »Dor geiht sei henn!« schrie Matrose Dirk, der abtreibenden Takelage nachblickend.

Da rollte eine schwere See heran. Hoch hob sich das zersplitterte Ende des Fockmastes, und wie ein Sturmbock schmetterte es mit krachendem Stoß gegen die Bordwand.

Ein lauter Schrei der ganzen Besatzung erscholl, dem ein gellender Doppelschrei aus der Kajüte folgte. Jeder wußte, das Schiff war leck gestoßen und der Untergang unvermeidlich.

»An de Pump!«

Der heisere Ruf des Kapitäns brachte Leben in die vor Schreck erstarrten Glieder. Gleich darauf mischte sich in das Heulen des Sturmes, das Toben der brechenden See das kreischende Geräusch des auf und nieder fliegenden Pumpenschwengels.

»Pump, Lüd, pump!« ermunterte Petersen die Leute, die mit fest aufeinandergebissenen Zähnen und stieren Augen in rasender Hast die Schwengel rührten, während ihr entmastetes Fahrzeug von den empörten Wogen hin und her geschleudert wurde.

»Fackelfeuer! Kapitän! Vielleicht sieht einer uns!« schrie der Reeder Gillmeister Petersen zu, der sich mühsam bis zur Kajütentür tastete, um ein Fackellicht zu holen. Die angstvollen Fragen von Frau und Tochter wehrte er kurz ab mit den Worten: »Töwt dat man aff!«

»'n Tied lang holl wi dat woll noch ut!«

Dann eilte er wieder an Deck, das brennende Fackellicht in der Hand. Glühend rot flammte der Schein über Deck und beleuchtete das grausige Bild der Zerstörung und die um ihr Leben kämpfende Mannschaft.

In weitem Bogen schwang der alte Schiffer, dem das eisgraue Haar feucht am Kopfe klebte, die lodernde Fackel! Scharf spähten die Augen in das Dunkel der Nacht hinaus, ob von irgend woher Antwort käme.

Vergebens! Mit leisem Zischen versprühte der letzte Funke, und doppelt finstere Nacht umgab das hilflose Wrack.

»Vadder, hier is noch Een!« Hell tönte die jugendliche Stimme durch den Aufruhr der Elemente, und eine schlanke Gestalt schmiegte sich dicht an den Mann, der sich selbst mit eiserner Kraft festhalten mußte, um nicht über Bord gespült zu werden. »Büst du dull, Deern?« schrie der Alte auf. »Wullt du versupen?«

»Nee, Vadder, ick wull di hellpen! Hier sünd dröge Rietstieken!« Eine weiche und doch kräftige Hand tastete nach seiner Rechten.

»Min Deern!« Das klang so zärtlich und dabei so hoffnungslos traurig, daß das junge Mädchen ein Schauer überlief.

»Schall ick anstecken, Vadder?«

»Jung's – holl fast!« brüllte der alte Petersen statt einer Antwort, während er zugleich seine Tochter mit dem Arm umschlang und fest an sich preßte. Es war die höchste Zeit gewesen. Eine ungeheuere See bäumte sich dicht vor dem unglücklichen Fahrzeug auf, brach mit donnerndem Brüllen über und stürzte sich über das Schiff her, wie ein Raubtier in jähem Sprung seine Beute überfällt. Ein wütender Schwall von Wasserschaum und Gischt peitschte über Deck, krachend barst die Reeling vor dem ungeheuren Anprall. Ein gellender Hilfeschrei ward laut, und mit dem berstenden, splitternden Holz verschwand eine Gestalt in dem tobenden Strudel, fortgerissen von der kochenden, wirbelnden Flut, die gurgelnd und rauschend durch die Bresche abströmte. Der Schiffsjunge Wilhelm war mit über Bord gerissen. Wohl eine Minute verging, ehe sich die Überlebenden von ihrer Betäubung erholt hatten. Dann erscholl die Stimme des Schiffsführers aufs neue!

»Pump, Lüd! pump! sünnst möt wi all versupen!« Und wieder kreischten die Pumpenschwengel, und wieder flammte das Fackellicht auf, dann ein drittes, viertes, fünftes, um einen Retter aus der entsetzlichen Not herbeizurufen. Doch kein Gegensignal gab Antwort, nur Sturm und See heulten und brausten ihr schauriges Totenlied.

»Dat is dat letzte, Vadder!« rief Grete Petersen. »Wat denn?« »Weet nich, Deern! Wenn der lewe Gott uns nich hellpen deiht! Steck an!«

Wie das glühte und sprühte und knisterte und zischte! »Dat mutt doch een sehn! Leew Hergott, schick doch een!« dachte Grete Petersen mehr, als sie es sprach, und warf einen Blick zum Himmel empor, von dem, in ruhiger Klarheit die Sterne herniederleuchteten.

Das war ein böses Zeichen, denn es deutete auf anhaltenden Sturm. Und doch erschien es ihr wie ein Trost. Irrend ließ sie ihre scharfen jungen Augen dann am Horizont rundum schweifen, während ihr Vater die dem Verlöschen nahe Fackel, die letzte, durch die Luft schwang.

»Dor kömmt een, Vadder! Dor! achtern! da wär'n Raket!« Es war wie ein Jubelschrei.

In hohem Bogen war fern am Horizont ein feuriger Lichtstreif aufgestiegen, dem ein sekundenlanges Aufflammen folgte. Angstvoll starrte Grete Petersen nach der Stelle hin, ob sich die Erscheinung wiederholen würde.

»Noch een, Vadder! Noch een! Se hebbt uns sehn!« Wie ein schluchzendes Lachen brach es aus ihrer Brust hervor und sie deutete mit der Hand voraus. Im selben Augenblick erlosch die letzte Fackel.

»Ut! Nu findt sei uns nicht!« antwortete der Schiffer und ließ mutlos den Kopf sinken. »Goh to Mudder, Grete! Ick roop ju, wenn't to Enn'n ist! Gegen Gottes Willen könnt wi nich an!« Als ob eine eiskalte Woge sie überschüttet hätte, so kalt überlief es Grete. Wenn ihr Vater so reden konnte, den sie noch nie verzagt gesehen hatte, obgleich sie mit ihrer Mutter ihn seit Jahren auf allen Reisen begleitete, dann mußte keine Hoffnung mehr sein. Und doch! Das fremde Schiff hatte geantwortet, also das Notsignal erkannt, und wenn nur ein wenig Aufmerksamkeit drüben herrschte, dann wußten sie die Richtung.

»Schipper, ick kann nich mehr!«

Niels Nielsen ließ den Pumpenschwengel los und taumelte an die Bordwand, wo er sich festzubinden versuchte.

»Awer ick!« rief Grete und sprang an seine Stelle. »Sei mött uns ja finn!« murmelte sie vor sich hin. »N' halw Stunn noch, Lüd, denn is hei hier! Uns' Herrgott ward uns all helpen!«

Das feste Gottvertrauen, das Vater und Mutter sie gelehrt in langen Jahren, hatten selbst diese furchtbaren Stunden der Not nicht erschüttern können, in denen der Tod mit donnernder Faust an die schwachen Planken pochte, welche sie von seiner herzerstarrenden Umarmung trennten; und wie eine Antwort auf ihre letzten Worte zuckte plötzlich ein glänzend heller, leuchtender Strahl auf. Blend weiß, flirrend, in zitternder Bewegung irrte er suchend über die schaumgekrönte, grünlichfunkelnd aufleuchtende See; nun eng zusammengedrückt zu spitzem Pfeil, dann wieder fächerförmig weit ausgebreitet. Hinauf, hinab, in Bogen geschwungen flog der Schein hin und her. Nun traf er voll das treibende Wrack, daß alle geblendet die Augen schließen mußten.

»Pump, Jungens, pump!« schrie der Schiffer. »Dat 's 'n Manowar ( man of war = Kriegsschiff), de findt uns doch! Töw, ick help jug! – Goh weg, Grete! Goh to Mudder un segg ehr ... Pump! pump!« unterbrach er sich und riß den Schwengel auf und nieder; auch der alte Gillmeister stellte sich mit an die Pumpe und half.

» To lat, Schipper, wi sackt!« rief Niels Nielsen.

»Holt Muhl! Ran an de Pump!« brüllte der Alte dagegen und arbeitete wie ein Rasender.

Doch Niels Nielsen hatte recht. Die kleine Pumpe vermochte nicht mehr, des eindringenden Wassers Herr zu werden, und das Achterschiff begann zu sinken. Wenn Rettung noch möglich sein sollte, war es die höchste Zeit.

»Mudder – schall – rut – kommen!« keuchte Petersen seiner Tochter zu, die noch immer an Deck stand und mit weitgeöffneten Augen dem suchenden Lichtstrahl folgte, den der elektrische Scheinwerfer eines Kriegsschiffes aussandte. Gerade jetzt wanderte er wieder über die sinkende Brigg hin, kehrte zurück und blieb dann fest auf die Unglücksstelle gerichtet.

»Sei hebbt uns, Vadder, sei hebbt uns funnen!« schrie Grete auf und schwenkte den Arm in der Luft. »Gliek sünd sei hier! O Mudder!« Sie schwankte nach der Kajütentür, kletterte die wenigen Stufen hinab und trat in den niedrigen Raum, in dem das Wasser schon fast zwei Fuß hoch stand. Ohne Besinnen stapfte Grete durch die trübe Flut, die bei den heftigen Schiffsbewegungen klatschend und rauschend von Wand zu Wand spülte, und zog von der einen Längskoje den Vorhang zurück, hinter dem die Mutter lag.

Aus einem blassen Gesicht schauten zwei große Augen sie fragend an.

»Geiht't to Enn, Grete?« Das klang ruhig und ergeben. Frau Petersen war nicht umsonst 20 Jahre mit ihrem Mann zur See gefahren und hatte sich vor Antritt jeder Reise auf ein derartiges Ende gefaßt gemacht.

»Vadder seggt, du schast rut kommen, Mudding!« antwortete Grete. »Dor kümmt een upp uns to! Viellicht is 't noch Tied!«

»In Gottes Namen! Hei weet Besched!« erwiderte die Mutter, stieg aus der Koje und ging, von ihrer Tochter sorglich gestützt, an Deck.

Aber als sie oben ankam und in dem hellen Schimmer des Scheinwerfers die entsetzliche Verwüstung sah, die in wenigen Sekunden das Schiff, ihr Schiff, zu einem mastenlosen Wrack verwandelt hatte, als die stürzenden Seen sie mit einer Flut eiskalter Tropfen überschütteten und der Sturm ihre Glieder durchkältete, da überlief die willensstarke Frau ein Schauer, und aufstöhnend deckte sie die Hand über die Augen.

»Hol di fast, Mudder!« rief Grete ihr ins Ohr, und führte ihre Hand an einen Koffeljen-Nagel an der Bordwand, den Frau Petersen krampfhaft umklammerte.

Kaum zwei Fuß hoch ragte das Heck der Brigg noch über Wasser und sank Zoll für Zoll tiefer. Doch jede Sekunde brachte auch den Retter näher. Schon sahen die Schiffbrüchigen die farbigen Buglaternen auf und nieder tanzen, wie sich das Schiff durch die schwere See stampfend heranarbeitete. Immer höher tauchte der Rumpf auf, weißschimmernd, trotz der Dunkelheit deutlich erkennbar.

Und jetzt war es heran! Kaum 50 m hinter dem Heck dampfte es langsam vorüber, und über die rauschende See scholl ein dröhnender Ruf, Sturm- und Wogengebraus mächtig übertönend: »Wir kommen gleich zu Hilfe!«

»Een Dütschen! Mudder, o Mudder, een Dütschen, de helpt uns seker!« jubelte Grete auf, während ihr zugleich die Tränen in die Augen schossen und ein krampfhaftes Schluchzen ihre Brust erschütterte. Bis jetzt hatte das tapfere Mädchen dem drohenden Untergang mutig entgegengesehen! Jetzt, wo die Rettung nahte, löste sich die furchtbare Spannung.

Die Mannschaft an der Pumpe wollte die Arbeit einstellen, doch der eiserne Befehl des Führers »Pump«! ließ sie fortfahren, während jeder angstvoll auf die Ruderschläge eines nahenden Bootes horchte. Sie wußten alle, daß es ein kühnes Unternehmen und eine schwere Arbeit war, die ihre Retter ausführen mußten, aber der Klang der deutschen Worte hatte ihnen die sichere Überzeugung verschafft, daß es Landsleute waren, welche sich ans Werk machten, und daß diese es vollbringen würden.

Es war der Kleine Kreuzer »Elisabeth«, auf der Ausreise nach Westafrika begriffen, an dessen Bord das Notzeichen des verunglückten Schiffes bemerkt worden war, und auf die Meldung davon hatte der Kommandant, Korvettenkapitän Heinrich, sofort Befehl gegeben, mit großer Fahrt auf die Unfallstelle zuzuhalten und den Scheinwerfer anzustellen.

Jetzt lag die »Elisabeth« etwas zu Luvward der »Helene«. Der Kommandant stand auf der Kommandobrücke; im zweiten Kutter saß die Rettungsboots-Mannschaft, das Boot war klar zum Fieren.

»Kapitänleutnant von Bernitz! Ich lasse vorn am Bug Öl ausgießen!« rief der Kommandant dem ersten Offizier zu, welcher den Befehl im Rettungsboot übernommen hatte. »Sobald Sie unten sind, ab vom Schiff und Vorsicht drüben beim Anlegen!«

»Zu Befehl!« erwiderte jener.

»Klar zum Fieren! – Fier weg!« befahl Kapitän Heinrich nach einer kurzen Weile. Das massenhaft ausgeschüttete Öl hatte auf eine weite Entfernung die See bedeckt und verhinderte das Überbrechen derselben. Die »Elisabeth« stampfte trotzdem zwar gewaltig, aber es war die einzige Möglichkeit, das Boot zu Wasser zu bringen.

Erst langsam, dann immer schneller rauschte es hinunter.

»Los!« rief der erste Offizier mit Stentorstimme nach oben. In dem Augenblick als der Kutter mit dem Kiel eine aufschäumende See berührte, sauste das Boot in die Tiefe. Im nächsten Moment flog es wieder in die Höhe und tanzte wie toll auf und nieder.

»Absetzen! Ab! Ab!« schrie der Kommandant von oben.

»Steuerbordriemen gegen die Bordwand! Setzt ab! Zum Donnerwetter nochmal! Paß auf da vorne! Ab! Riemen bei! Pull aus!« donnerte Bernitz seinen Leuten zu, und glücklich kamen sie von längsseit fort. Nur zwei Riemen waren zersplittert. Und nun begann der schwere Kampf. Mit Aufbietung aller Kraft legten sich die braven Jungens in die Riemen. Steil hinauf auf einen Wasserberg ging es mühsam. In der nächsten Sekunde schoß der Kutter jäh in die Tiefe hinab. Ohne das ausgegossene Öl wäre er von der ersten brechenden See vollgefüllt worden.

»Pullt aus, Jungens! Pullt aus!« ermunterte der Offizier unaufhörlich seine Mannschaft. »Wir kommen schon näher!« Er winkte mit der Hand nach rückwärts, wo die ganze Besatzung der »Elisabeth« dem Kampf zusah, den der Scheinwerfer mit seinem flirrenden Licht jetzt flüchtig fast taghell beleuchtete, während in der nächsten Sekunde tiefe Dunkelheit alles verhüllte. Langsam kamen sie der Unglücksstelle näher, von wo ihnen verschiedene Zurufe entgegenschallten.

»Wieviel Mann sind an Bord?« schrie Kapitänleutnant von Bernitz.

»Sieben und zwei Frauensleute!« klang es zurück.

»Ich komme so nahe wie möglich ans Heck! Leine werfen! Frauen mit Boje dran festbinden! Über Bord springen! Wir holen sie ein!« Klar und deutlich tönte es zur »Helene« hinüber.

»De weet, wat hei will! Komm', Mudder, du tauerst!« rief Schiffer Petersen und faßte seine Frau um den Leib. Sekunden genügten dem alten Seemann, um sie mit einer Rettungsboje zusammen an der Leine zu befestigen. Dann faßte er mit der Rechten eine Anzahl Buchten.

»Achtung!« und von nerviger Faust geschleudert flog das Ende dem Kutter zu, wo vier Hände sich ihm entgegenstreckten und es auffingen.

»Vorwärts!« rief Hans von Bernitz, der vorn im Bug stand.

Wankenden Schrittes trat die Schifferfrau ans Heck. »Adjüs, Vadder!« »Adjüs, Mudder! Gott mit di!« und ohne Zögern ließ der alte Mann sein Weib, seine treue Schiffsgefährtin in so langen Jahren, hinabgleiten.

»Hol in!«

Die Leine straffte sich, und nach wenigen Augenblicken hoben vier kräftige Arme die Frau ins Boot, wo sie halb bewußtlos auf einer Ducht niedersank.

»Hol zurück! Die nächste!« rief der Offizier zur »Helene« hinüber, und kaum zwei Minuten später war auch Grete Petersen in vorläufiger Sicherheit. Dann folgten die Matrosen. Zuletzt standen nur noch Schiffer Petersen und ein Mann auf dem dem Untergang geweihten Schiff. Mit Mühe hatte ersterer aus der Kajüte seine Schiffspapiere und etwas bares Geld gerettet und knüpfte sie unter die Weste, um sie möglichst vor Nässe zu bewahren.

Da schleuderte eine gewaltige See den Bug der Brigg hoch auf, daß das Heck tief untertauchte und von dem plötzlichen Stoß ins Wanken geraten, stürzte die Gestalt neben Petersen kopfüber in die gurgelnde Flut.

.

»Vadder!« schrie Grete gellend auf und noch einmal »Vadder«, während ihre Mutter ohnmächtig zurücksank. Sie glaubte, es sei ihr Vater, der verschwunden war.

Bevor die übrigen Bootsinsassen noch recht begriffen hatten, was vorgegangen war, setzte Kapitänleutnant von Bernitz mit weitem Sprung vom Steven des Kutters in die See! Mit wenigen kräftigen Schwimmstößen erreichte er den Wiederauftauchenden, der hilflos mit den Armen um sich griff, und faßte ihn mit starker Hand am Kragen, während er mit der Linken nach der Leine faßte, die vom Schiff zum Boot führte.

Gott sei Dank! Da packte er sie.

»Hol ein!« rief er so laut er konnte, und gleich darauf fühlte er den Zug der Leine. Aber mit der doppelten Last ging es langsamer als bisher, und ein Blick nach der Brigg hin belehrte den Offizier, daß sie jeden Augenblick völlig sinken konnte, dann aber riß der Strudel sie unfehlbar mit hinab.

»Hol ein! Streich überall!« schrie er und das Boot schoß rückwärts, die beiden Schwimmer nach sich ziehend.

»Erst den Mann!« keuchte der Kapitänleutnant von Bernitz, als er endlich nahe genug herangeholt war; doch es kostete unsägliche Mühe, den durch den plötzlichen Sturz betäubten Mann hereinzuholen. So schnell wie möglich folgte ihm der Offizier und donnerte, sich umwendend, dem Schiffer zu: »Spring!«

Fünfundzwanzig Meter trennten sie von der »Helene«, die noch immer vom Scheinwerfer der »Elisabeth« hell beleuchtet wurde. Den Tamp der Leine mit beiden Fäusten fassend, sprang der alte Petersen ohne Besinnen in die See und wurde nach wenigen Augenblicken als letzter in den Kutter geholt.

»Ruder an überall!« Die Riemen peitschten das Wasser und der Kampf gegen Wind und See bei der Rückfahrt begann. Als Hans von Bernitz noch einen Blick zurückwarf, sah er gegen den hellern Horizont den dunklen Bug der Brigg sich scharf abheben. Steil ragte er gen Himmel, schwankte einen Augenblick wie trunken und verschwand. Die unerbittliche Tiefe hatte sich über ihrem Opfer geschlossen und wogte gleichmütig über der Stelle weiter.

Mit Aufbietung aller Kraft legte sich die Bootsbesatzung in die Riemen. Hochaufgerichtet am Heck stand der erste Offizier, die Faust um die Ruderpinne gekrampft. Dicht neben ihm saß Grete Petersen, welche die Mutter fest umschlungen hielt und leise schluchzte. Die übrigen verharrten in dumpfem Schweigen. Fast eine halbe Stunde dauerte das Ringen, bis endlich der Kutter der »Elisabeth« so nahe kam, daß ihm eine Fangleine von oben zugeworfen werden konnte.

Aber nun kam das Schwierigste, neben dem stampfenden und rollenden Schiff die Bootstaljen in dem auf und nieder fliegenden Kutter einzuhaken und ihn mit seiner schweren Last so schnell wie möglich zu heißen.

»Riemen gegen die Bordwand! Gut freihalten vom Schiff!« rief Kapitänleutnant von Bernitz, und mit aller Kraft stemmten sich die Riemen gegen. Zwei, drei zersplitterten wie Glas, ehe das schwere Werk gelang.

»Klar!« rief der erste Offizier.

»Hol steif! Heiß auf!« erscholl das Kommando an Bord und vierhundert Arme spannten sich; dumpf klangen die Schritte der Matrosen, wie sie im Trab längs Deck liefen. In wenigen Sekunden schwebte das Boot frei über den Wogen, die machtlos unter ihm dahinrollten. Das Rettungswerk war gelungen, und wenige Minuten später waren Grete Petersen und ihre Mutter in den bequemen Schlingerkojen des Lazaretts untergebracht, während für Kapitän Petersen und die völlig erschöpfte Besatzung der »Helene« Hängematten aufgezurrt wurden. Im sicheren Gefühl des Geborgenseins verfielen alle sofort in tiefen Schlaf, aus dem sie erst nach Stunden erwachten.

Als der alte Schiffsführer, von einem Matrosen geleitet, aufs Achterdeck kam, begrüßte ihn der erste Offizier und sagte: »Nun, Herr Kapitän, das war die höchste Zeit, daß wir Sie abholten! Viel länger konnten Sie sich nicht halten. Wie hieß das Schiff und wem gehörte es?« »Das Schiff war mein, Herr Leutnant,« antwortete der alte Mann trübe. »Fünfundzwanzig Jahre bin ich gefahren, immer glücklich. Dies sollt' – unsere letzte Reise sein, dann wollt' ich verkaufen! Und nu –« er schluckte ein paarmal – »nu liggt bat upp'n Grund! Alles weg! Das ist hart, Herr Leutnant, für'n alten Kerl; aber gegen Gottes Macht und Willen kann man nicht an!«

Kapitänleutnant von Bernitz drückte ihm die Hand und fragte: »Waren Sie versichert?« Petersen schüttelte den Kopf. »Weil's die letzte Tour war, hatte ich die Versicherung fallen lassen. Ich wollt', ich läg' mit da unten!«

»Aber Herr Kapitän!« sprach der Offizier vorwurfsvoll. »Und Ihre Familie?«

»Sie haben recht, Herr Leutnant!« erwiderte der Alte. »Ich sag' auch nichts mehr davon! Aber swer wird mich das doch ankommen, nu so ganz von vorn anfangen. Mein Deern muß dann in Stellung gehen, das hat sie sonst nich nötig. Na, un ick finn woll'n Platz.«

»Dafür lassen Sie mich nur sorgen!« rief Herr Gillmeister, welcher soeben herantrat, und klopfte dem Alten beruhigend auf die Schulter. »Ihnen aber, Herr Kapitänleutnant, muß ich erst nochmals meinen Dank für die hochherzige Entschlossenheit aussprechen, mit der Sie mir nachsprangen und mich retteten!« wendete er sich dann an den Offizier und streckte ihm die Hand entgegen. »Heute nur mit Worten; aber ich hoffe, schon noch Gelegenheit zu finden, meine Schuld an Sie abzutragen! Wenden Sie sich jedenfalls rückhaltlos an den alten Gillmeister in Bremen, wenn Sie mal eines Freundes bedürfen!«

»Aber ich bitte Sie, Herr Gillmeister, was hab' ich denn weiter getan,« wehrte jener ab. »Jeder meiner Kameraden hätte es ebenso gemacht, dafür sind wir deutsche Seeleute!«

»Wie hieß Ihr Schiff?« fragte er den Kapitän nochmals.

»Helene!« antwortete dieser.

»He-le-ne!« wiederholte der andere langsam, und seine Stimme bebte. Er dachte an eine gleichen Namens, in deren Hand sein ganzes Lebensglück ruhte. Aber sie war ihm ebenso unerreichbar wie jenes Schiff, über welches die Wogen der Biskaya hinrollten.

»Der Kommandant läßt den Herrn Kapitän bitten, in die Kajüte zu kommen!« meldete eine Ordonnanz, und hier mußte Kapitän Petersen alle Vorgänge des Unterganges seines Schiffes zu Protokoll geben. Dabei erzählte er dann zuletzt auch, wie der Offizier des Bootes mit eigener Lebensgefahr Gillmeister gerettet hatte.

»Ihre Leute können das bezeugen?« fragte Korvettenkapitän Heinrich, und die ganze Besatzung der »Helene« bestätigte nachher den Vorgang.

Zum Mittagessen luden die Offiziere Herrn Gillmeister, den Schiffsführer nebst Frau und Tochter in die Messe ein, aber Grete Petersen vermochte kaum einen Bissen herunterzubringen, denn sie genierte sich vor den feinen Herren. Herr Gillmeister aber konnte den Offizieren nicht Worte genug des Lobes über ihr schönes, schnelles Schiff sagen, das er während der vorhergehenden Stunden eingehend besichtigt hatte, und brachte zum Schluß ein Hoch auf den Kaiser und die deutsche Marine aus, in das selbst Grete Petersen zaghaft mit einstimmte.

Am Spätnachmittag desselben Tages lief die »Elisabeth« in den Hafen von Vigo ein, wo die Schiffbrüchigen sofort dem deutschen Konsul zur Weiterbeförderung in die Heimat übergeben wurden. Noch von Landhaus winkten sie der »Elisabeth« zu, solange etwas von dem Schiff zu sehen war, das sogleich nach Rückkehr des Kutters Anker lichtete, um seine unterbrochene Reise fortzusetzen.

* * *

Feuchtschwüle, drückende Hitze lagerte über dem Kamerunfluß, in dem die »Elisabeth« unweit der Joßplatte vor Anker lag. Alle zehn Minuten rauschte ein schwerer Regenguß hernieder, und trotz doppelter Regensegel träufelte es überall an Deck.

»Junge, nee sowat vunn Regen giwwt dat ja nich mal in Kiel! man kriggt den Besen rein nich ut de Hand!« meinte Matrose Rasmussen, als zum sechsten oder siebenten Male in einer Stunde der Befehl gegeben wurde: »Wache Deck abfegen!«

»Jaa!« erwiderte sein Freund und Landsmann Jenssen. »Hest recht unn mit dat Tüg – ick heww siet vertein Dagen all keen drögen Lappen mehr in min Kist!«

»Dor sünn de Swatten beter dran hier to Lann'n!« versetzte Rasmussen. »Nix uppt Liew, unn laat dat Water eenfach afflopen as'n Goos (Gans)!«

»Ick much woll weeten, wat wi hier eigentlich schöllt siet nägen (neun) Monate?« fragte Jenssen und schob mit dem Besenstiel das Regensegel in die Höhe, in dem sich eine tiefe Kute voll Wasser gebildet hatte, das nun in rauschendem Strom auf Deck stürzte.

»Laßt das Schwatzen und fegt Deck ab!« rief der Unteroffizier der Wache, und brummend machten sich die beiden wieder an die nach ihrer Ansicht ganz nutzlose Arbeit.

»Boot mit Gouvernementsflagge kommt längsseit!« meldete der Signalgast von der Kommandobrücke, worauf der wachthabende Offizier langsam ans Fallreep schlenderte und das durch die gelblich trübe Flut des Flusses heranschießende Boot betrachtete.

»Donnerwetter, das ist ja der Gouverneur! Vier Fallreep!« rief er laut, als er den Drinsitzenden erkannte, der gleich danach die Fallreepstreppe heraufstieg.

»Guten Tag, Herr Leutnant! Ist der Kommandant an Bord?« fragte der Gouverneur und verschwand auf die bejahende Antwort in der Kajüte.

»Was mag da los sein?« dachte Leutnant Heyking. »Er sah ja so merkwürdig erregt aus!«

Nach einer halben Stunde wußte es das ganze Schiff. Oben am Ndianfluß, hart an der Grenze des deutsch-englischen Schutzgebietes, hatten Neger eine Faktorei überfallen und einen Europäer fortgeschleppt. Ein zweiter war ihnen mit knapper Not entkommen und hatte sich im Kanoe nach Victoria gerettet.

Weil die Schutztruppe bis auf die unentbehrlichsten Mannschaften auf einem Zuge ins Innere abwesend war, sollte das Landungskorps der »Elisabeth« sofort eine Strafexpedition unternehmen und versuchen, den Weißen zu befreien.

Kaum anderthalb Stunden später hatte die »Elisabeth« Dampf aufgemacht und schoß mit »großer Fahrt« flußabwärts, um noch am Abend die Mündung des Rio del Rey zu erreichen, von wo aus am nächsten Morgen in aller Frühe die Expedition in Booten nach dem Ndian abgehen sollte. »Das Landungskorps mit Handwaffen antreten zur Musterung!« Der Befehl brachte Leben in die Mannschaft, die bisher nichts Genaues erfahren hatte und sich in allerlei Vermutungen erging.

»Nu weetst du, wat wi hier schöllt!« sagte Rasmussen zu Jenssen, indem er Gewehr und Seitengewehr aus der Stütze nahm. »Paß up, dat geiht up de swatten Deibels los!« Damit eilte er an Deck, wohin ihm Rasmussen schleunigst folgte. Einen kurzen Augenblick gab es ein Gedränge und Geschiebe unter den Leuten, die ihre Plätze suchten. Halblaute Rufe: »Wilhelm, hierher!« »Hein, dor gehürst do hen!« »Minsch, gah doch weg, dat 's min Platz!« wurden laut, aber die Unteroffiziere schafften bald Ruhe und Ordnung. »Die Zugführer melden, wieviel Leute fehlen!« befahl der erste Offizier. »Dann Handwaffen und Schuhzeug mustern!«

Als die »Elisabeth« zwischen Kap Kamerun und der Halbinsel Suellaba hindurch die Barre erreicht hatte und im Bogen das Kap rundend, Kurs nach Norden nahm, meldete Kapitänleutnant von Bernitz dem Kommandanten: »Das Landungskorps in Stärke von hundert Mann ist gefechtbereit! Munition, Proviant und Wasser steht klar!«

»Danke!« erwiderte Korvettenkapitän Heinrich und trat vor die Front.

»Leute,« begann er, »Ihr werdet morgen früh unter Führung des ersten Offiziers einen Strafzug gegen unbotmäßige Neger unternehmen, die ohne Veranlassung eine deutsche Faktorei überfallen und geplündert, sowie einen Europäer fortgeschleppt haben. Um ähnliche Vorkommnisse für die Zukunft nach Möglichkeit zu unterdrücken, muß dem Vergehen die Strafe auf dem Fuße folgen und schnell wie der Blitz den Missetätern die deutsche Faust im Nacken sitzen. In erster Linie handelt es sich um die Befreiung unseres Landsmannes, die euch, wie ich hoffe, gelingen wird. Daß unnötiges Blutvergießen und jede Art von Tätlichkeit gegen Weiber, Kinder und Greise unterbleiben, versteht sich für deutsche Matrosen von selbst. Nur, wenn euch bewaffneter Widerstand entgegentritt, drauf, bis er gebrochen ist! Macht eure Sache gut. Ich weiß, daß ich mich auf euch verlassen kann!«

»Zu Befehl, Herr Kapitän!« klang die einstimmige Antwort. Der Kommandant winkte mit der Hand und auf das Kommando des ersten Offiziers »Wegtreten! Handwaffen verstauen!« traten die Leute auseinander.

»Herr Kapitän, vor uns liegt ein Boot, in dem jemand winkt,« meldete der Navigationsoffizier, Kapitänleutnant Delius.

Die Maschine wurde gestoppt und der Kommandant rief hinüber: »Was wollen Sie?«

»Ich bin Christians, der Faktorist!« erscholl die Antwort.

»Kommen Sie an Bord!« rief Kapitän Heinrich.

»Herr Gouverneur haben mir telegraphiert, ich soll Ihnen entgegenfahren und als Führer dienen,« erklärte der junge Mann, nachdem er an Bord gekommen war, und erstattete dann eingehenden Bericht über den Überfall.

»Es ist ein sehr schwieriges Gelände da oben,« fuhr er auf eine Frage danach fort. »Es geht steil bergauf durch dichten Busch, und den armen Ruthart haben sie sicher weit verschleppt, wenn er überhaupt noch lebt.«

»Versprechen kann ich natürlich nichts Bestimmtes, aber was irgend geschehen kann, ihn zu retten, geschieht gewiß!« versetzte der Kommandant beruhigend.

Es war fast finster, als die »Elisabeth« den beabsichtigten Ankerplatz erreichte, und da der Zug schon um vier Uhr am nächsten Morgen beginnen sollte, erhielten die Landungsmannschaften eine Stunde früher Hängematten. An Schlaf dachten aber die wenigsten, dazu hatte das bevorstehende Ereignis alle Gemüter zu sehr erregt. Auch in der Messe saßen die Offiziere noch lange zusammen mit Herrn Christians, der tausend Fragen zu beantworten hatte, während der erste Offizier sich bald in seine Kammer zurückzog, um noch einen Brief an seine Mutter zu schreiben. Hans von Bernitz litt als deutscher Seeoffizier wahrlich nicht an Ahnungen, und das Wort Furcht stand nicht in seinem Lexikon, aber doch konnte er heute abend ein gewisses Gefühl nicht los werden, als ob ihm morgen etwas Besonders bevorstände, und hastig flog seine Feder über das Papier.

»Wenn Du aber erfährst, daß mir hier etwas Menschliches passiert ist, liebste Mutter, dann grüße auch Helene Rhenius sehr, sehr von mir, zum letzten Male! Ich glaube nicht, daß sie es jemals gemerkt hat, wie es seit Jahren um mich stand, und in dem Punkte kann ich mir selbst wohl das Zeugnis eines Ehrenmannes ausstellen. Mein letzter Gruß gilt ihr, wenn – –!«

Den Brief legte Hans von Bernitz dann auf seinen Schreibtisch, mit der Absicht, am nächsten Morgen seinen Burschen genau zu instruieren, was eventuell damit geschehen solle. Doch im Eifer des Dienstes vor der Abfahrt dachte er nicht mehr daran, und ahnungslos wanderte der Bursche, wie er es sonst auch mit adressierten Briefen tun mußte, die auf dem Schreibtisch lagen, damit ins Bureau und übergab ihn der Briefordonnanz zur Beförderung.

»Kommen Sie mir also gesund wieder, Bernitz!« sagte der Kommandant und reichte seinem ersten Offizier die Hand, als dieser die Landungsabteilung von Bord meldete.

»Danke sehr, Herr Kapitän! Hoffentlich!« antwortete dieser, stieg in die Dampfpinaß und fuhr mit seinem kleinen Geschwader ab.

Es war noch völlig dunkel, und nur der glitzernde Schein der Sterne im Wasser, das sich rauschend am Bug der Boote brach, wies den Weg, zu dessen beiden Seiten der Urwald düster und schwarz aufragte.

Die Mannschaft hatte es sich in den Booten nach Möglichkeit bequem gemacht, und vereinzeltes Schnarchen zeigte bald an, daß einer und der andere sich willig dem Schlummer wieder hingab. Die übrigen unterhielten sich leise flüsternd, denn vor der Abfahrt war ihnen Ruhe noch besonders streng zur Pflicht gemacht.

Im Heck der Dampfpinaß saß Kapitänleutnant von Bernitz mit Leutnant Bauer und dem jungen Christians.

»Wenn wir unbemerkt und früh genug hinkommen,« äußerte dieser, »dann überraschen wir die Bande im Dorf, denn sie denken ja gar nicht daran, daß das so schnell geht.«

»Ich schätze, wir sind um zwölf schnellstens da,« versetzte Kapitänleutnant von Bernitz. »Um halb eins kann's losgehen.«

»Seien Sie aber auf jeden Fall vorsichtig, Herr Kapitänleutnant,«, erwiderte Christians, »die Kerls haben eine ganze Anzahl Gewehre, und weil nur ein einziger Weg nach dem Dorf hinaufführt, eigentlich nur eine Regenrinne, in der man kaum zu zweien nebeneinander gehen kann, können sie uns leicht einen Hinterhalt legen, wenn sie gewarnt sind. Und den Negern in Essien traue ich jetzt nicht recht.«

»Wir werden die Kerls schon fassen und ihnen zeigen, daß wir hier die Herren sind, so wahr ich Hans von Bernitz heiße!« rief der erste Offizier.

Ein heiserer, kreischender Schrei aus nächster Nähe schien die Antwort auf dieses stolze Wort geben zu wollen. Es klang gespenstisch, wie Unheil verkündend, und unwillkürlich fuhr der Offizier zusammen. Dann mußte er über sich selber lachen und sagte laut: »Diese verdammten Reiher werden uns noch verraten.«

»Wenn es erst hell ist, schreien sie nicht mehr, sondern streichen lautlos ab!« erwiderte Christians gleichmütig. »Die Neger halten übrigens die Reiher für Unglücksvögel und behaupten, daß einer sterben muß, wenn solch Tier über ihm schreit. Aber das ist ja Unsinn!« setzte er hinzu. Allmählich wich die tiefe Dunkelheit einer fahlen Dämmerung, und eine helle, fliegende Röte über den Baumgipfeln verkündete das Aufgehen der Sonne. Jetzt wurden auch die Ufer deutlich erkennbar; mehr und mehr rückten sie zusammen, und der bisher ziemlich breite Fluß verengte sich zu einem schmalen Creek, in den die Boote einbogen. Wie aus Stelzen standen zu beiden Seiten hohe Mangrovebäume auf ihren seltsam geformten Luftwurzeln in dem sumpfigen Boden, während ihre Kronen sich zu einem vollständigen Dach wölbten. Lautlose Stille herrschte ringsum. Leise nur murmelte das Wasser am Bug.

Fast zwei Stunden dauerte die eintönige Fahrt, bis sie endlich die Mündung des Ndian-Flusses erreichten, und mit einem Schlage änderte sich die Szenerie. Hohes Schilf und stachlige Pandanusgebüsche bedeckten die Ufer. Dahinter erhoben riesige Baumwollbäume und andere Giganten des Urwaldes ihre Kronen zu schwindelnder Höhe.

In weit geschwungenen Bogen rankten sich Lianen von Stamm zu Stamm, eine zähe, schier unzerreißbare Brücke bildend, und unter ihnen wucherte wie eine grüne Wand buschartiges Unterholz, das jeden Einblick in die Tiefen und Geheimnisse des Urwaldes hinderte.

Plötzlich erhob sich in den beiden Kuttern lautes Geschrei und Gelächter, und die Matrosen wiesen mit den Händen auf den Rand des Waldes hin, wo eine Herde kleiner, schwarzer Affen in eilfertiger Geschwindigkeit auf einer Lianenbrücke entlang turnte. »Kiek! kiek de Aapen!« schrie Rasmussen. »Wat sei springt?!« Der Befehl: »Ruhe im Boot!« ließ die Gesellschaft aber rasch verstummen, und nur leise flüsternd und kichernd teilten sich die einzelnen ihre Bemerkungen über die possierlichen Tierchen mit, die sie zum ersten Male in voller Freiheit erblickt hatten.

»In zehn Minuten sind wir in Essien,« sagte Christians, und plötzlich tauchten unter hochstämmigen, breitblättrigen Bananenstämmen die ersten Hütten des Dorfes auf. Am Flußufer lagen vier Kanoes, in denen einige Neger hockten und faulenzten. Kaum aber hörten sie das Schnauben der Dampfpinaß und erblickten die bemannten Boote, da sprangen sie mit verstörten, entsetzten Gesichtern unter lautem Geschrei auf und waren zwischen den Hütten verschwunden. Unmittelbar darauf dröhnte der Doppelklang der sogenannten Palavertrommel in seinem seltsamen Takt durch die Stille, und im Nu wurde es vor den Hütten und unter den Bananenstauden lebendig.

Gellende, kreischende, angsterfüllte Stimmen wurden laut. Schwarze Gestalten, nur mit einem grell-bunten Tuch um die Hüften bekleidet, huschten schattengleich vorüber und suchten in eiliger Flucht das Weite. Scheu nur lugte noch hier und dort ein dunkler Kopf mit rollenden Augen für den Bruchteil einer Sekunde um eine Hausecke herum, verschwand wie der Blitz, und ehe noch eine halbe Minute verstrichen war, lag das Dorf wie ausgestorben da. Nur aus der Ferne klang noch gedämpfter Trommelschlag mit einem letzten scharfen Auftakt jäh abbrechend. Das Ganze war wie eine Vision gewesen.

»Ich dacht's mir!« rief Christians. »Die Hallunken laufen letzt und warnen die anderen! Los, Herr Kapitänleutnant, was die Maschine leisten kann! Vielleicht kommen wir ihnen noch zuvor!«

»Äußerste Kraft!« befahl Kapitänleutnant von Bernitz, und von der Flut unterstützt, schnoben die Boote den Fluß hinauf.

»Jungens, de springt noch gauer (schneller) as de Aapen!« rief Matrose Rasmussen. »Awerst harr ick man wat in't Gewehr hatt, harr doch wohl een an glöwen müßt! – Herr Leutnant, sollen wir nicht laden?« fragte er dann und öffnete den Verschluß seines Gewehres.

»Runter das Gewehr! Warten, bis es befohlen wird!« herrschte Oberleutnant Brehmer ihn an, den aber selber die Aufregung ergriffen hatte. Er klappte die Haltefeder am Säbelgriff auf und lockerte die Waffe in der Scheide. Das war für die ganze Kutterbesatzung das Signal, ebenfalls nach den Seitengewehren zu fassen und nachzusehen, ob sie sich leicht genug ziehen ließen. Im zweiten Kutter machten sie's ebenso.

Kapitänleutnant von Bernitz aber hatte sich auf die Ducht der Dampfpinasse gestellt, sein Doppelglas herausgenommen und spähte scharf voraus und nach beiden Seiten. Doch nichts regte sich.

»Wie lange noch?« wendete er sich, das Glas absetzend, zu Christians.

Nach einem raschen Blick zum Ufer antwortete dieser: »Eine Viertelstunde!« »Gewehre in die Hand! Klar machen zum Landen!« rief Hans von Bernitz mit schallender Stimme über die geschleppten Boote hin, und die Aufregung der Leute steigerte sich von Sekunde zu Sekunde! Sie wußten »jetzt geht's los!«

»Da ist die Faktorei, und da müssen wir anlegen! rief Christians und wies mit der Hand voraus.

»Klar bei den Leinen! Nach Steuerbord ausscheren! Auf Land laufen und ausschiffen! Leinen los!« befahl der Kapitänleutnant von Bernitz, und knirschend fuhren die Boote auf das steinige Ufer. Kaum berührte der Kiel den Grund, da flogen schon die ersten Gestalten, das Gewehr hoch in der Rechten, mit weitem Sprung an Land. Im Nu waren die Boote geleert. Die Landungskompagnie formierte sich und es wurde geladen, während die Boote im Fluß vor Anker gingen.

»Vorwärts!« rief Hans von Bernitz, zog den Säbel und setzte sich mit Christians an die Spitze.

Steil ging es bergauf. Unter den Fußtritten lockerten sich die Steine; kletternd, kriechend, gleitend, jeden Augenblick nahe daran, zu stürzen, hastete die Schar vorwärts. Rechts und links umsäumte undurchdringlich dichter Busch den Pfad. Glühend heiße, sengende Strahlen sandte die Mittagssonne herab. In Strömen troff der Schweiß über die erhitzten Gesichter, der Atem flog und die Brust keuchte, doch vorwärts, vorwärts ging es ohne Rast, ohne Zögern. Hinauf so schnell wie möglich, hinauf zum Dorf, war die Parole.

Den Säbel in der Faust, eilte Kapitänleutnant von Bernitz seinen Leuten voran.

Einmal flog ihm der Gedanke durch den Kopf: »Hier ein Hinterhalt oder ein halb Dutzend entschlossener Männer und – – keiner kommt lebend hinauf.« Aber ohne Besinnen stürmte er weiter. Er wollte, er mußte den Landsmann retten! Doch je höher er kam, um so steiler und steiniger wurde der Weg, bis endlich, viel zu langsam für seine Ungeduld, der Gipfel des Berges erreicht war. Da machte er halt, um seine Mannschaft herankommen zu lassen und zum Vorrücken gegen das Dorf zu ordnen, dessen Lage Christians erklärt hatte. Mit halblauter Stimme gab er seine Anordnungen und dann als Zeichen einen kurzen Signalpfiff!

Wie die Eber brachen die Jungen in wilden Sätzen durch den Busch, das schießfertige Gewehr in der Hand. Die Zweige peitschten ihnen ins Gesicht, Baumwurzeln und Rankengewächs hinderten den Fuß, hier und da stolperte und stürzte einer. Doch nichts vermochte den Ansturm aufzuhalten. Im Nu waren die Gefallenen wieder auf den Beinen und stürmten den anderen nach. Da wurden die ersten Hütten sichtbar. Noch war kein Schuß gefallen. »Hurra!« donnerte die Stimme des Anführers, und mit lautem Hurra ging es ins Dorf hinein.

Alles war leer und still. Vom Feinde keine Spur, und die niedergebrannten Feuer zeigten, daß die Bewohner schon seit einer Stunde geflohen sein mußten.

»Verdammt!« stieß Kapitänleutnant von Bernitz auf die Meldungen, daß alle Hütten leer seien, hervor und stampfte zornig mit dem Fuß den Boden. »Daran sind die Schufte aus Essien schuld!«

Da wurden vom äußersten Ende des Dorfes Stimmen und Rufe laut. »Hier sind welche, Herr Kapitänleutnant, hier sind zwei von den Kerls!« Und mehrere Matrosen schleppten einen alten, eisgrauen Neger sowie einen Burschen von etwa vierzehn Jahren herbei, die sie in einer abgelegenen Hütte versteckt gefunden hatten. Unter Heulen und Zähneklappern, aschgrau im Gesicht vor Todesangst, schworen beide, ihre Stammesgenossen seien an dem Überfall der Faktorei völlig unbeteiligt und nur aus Furcht vor den Deutschen, deren Kommen ihnen ein Mann aus Essien verraten hatte, in den Busch geflohen.

»Die eigentlichen Missetäter sind Bakundus, weiter im Innern, behaupten sie,« sagte Christians, welcher die beiden ausgefragt hatte. »Ich dachte es mir! Die sollen aber noch keine Ahnung von unserem Hiersein haben!«

»Und Ruthard?« fragte Bernitz.

Nach einigen hastigen Fragen und Antworten erklärte Christians: »Den haben sie gebunden mitgeschleppt, ihm aber sonst nichts zuleide getan. – Zwei Wege führen zu dem Dorf!« setzte er auf eine weitere Frage hinzu. »Es sind über drei Stunden bis dahin!«

»Leutnant von Dewitz, Sie bleiben mit zwanzig Mann hier, Sie, Brehmer, gehen mit dreißig Mann auf dem einen Weg vor! Ich mit dem Rest auf dem zweiten. In zwei Stunden sind wir dort! Lebt er noch, dann retten wir ihn. Vorwärts!« befahl Kapitänleutnant von Bernitz, und unter Führung der Neger waren die beiden Kolonnen in wenigen Augenblicken zwischen den hohen Stämmen des Urwaldes verschwunden.

Bergauf, bergab, durch Sümpfe hindurch, über Wasserläufe hinweg, deren Brücken abgebrochen waren, ging auf schmalen, oft kaum erkennbarem Pfad die wilde Jagd weiter. Wer ermattete, den spornte das Beispiel seiner Offiziere zu neuer Kraftanstrengung an.

Plötzlich sprang etwa hundert Schritt vor Hans von Bernitz ein bewaffneter Neger hinter einem Baumstamm hervor, hob blitzschnell das Gewehr und gab Feuer; dann war er verschwunden. Doch unmittelbar darauf blitzte und krachte es von vorn, von rechts und links den Anstürmenden entgegen. Dicht vor ihnen lag das Dorf.

»Schwärmen! Schnellfeuer!« rief Hans mit Donnerstimme, und im Nu hatten seine Leute das Feuer aufgenommen. Rollend lief es die lange dünne Linie auf und ab. Wildes Geheul und Gebrüll erscholl aus dem Dorfe, dazwischen dröhnender Trommelschlag.

»Drauf!« schrie Hans. »Hornist, schnell avancieren!«

Hell klang das Signal.

»Marsch! Marsch! Hurra!«

»Hurra!« donnerte es auf der ganzen Linie, und unbekümmert um die ihnen entgegenknatternden Schüsse stürmten die Matrosen vorwärts. Im Nu waren die vordersten Hütten erreicht. In wilder Flucht flohen die Neger davon.

Doch noch war der Widerstand nicht gebrochen. Hinter den entfernten Hütten hervor, aus dem Busch heraus, prasselten unaufhörlich die Schüsse, und als die Neger erst die geringe Zahl ihrer Gegner erkannt hatte, sammelten sie sich aufs neue.

»Das hilft nichts, Jungens! Vorwärts! Marsch! Marsch! Hurra!«

Hoch schwang Hans von Bernitz den Säbel und stürmte voran. Doch nur ein Teil seiner Leute hatte den Ruf gehört und vermochte ihm zu folgen. Eine unregelmäßige Salve krachte ihm entgegen. Stolpernd, taumelnd schwankte er noch einige Schritte vorwärts und stürzte vornüber zu Boden. Gellendes Jubelgeheul begleitete seinen Fall.

»Salve! Feuer!« Schneidend scharf rang sich die Stimme durch den wüsten Lärm und das Kampfgetöse. Wie ein Donnerschlag fuhr es aus den Rohren in den schwarzen Haufen hinein; mehrere Neger wälzten sich am Boden, die übrigen warfen die Gewehre von sich und stoben auseinander wie eine Schafherde, in die der Wolf einbricht. Hinter ihnen her stürmten die Deutschen unter Leutnant Brehmer, der mit seinen Leuten sofort Dauerlauf gemacht hatte, als er das Schießen hörte, und gerade zur rechten Zeit eingetroffen war. Wo nur eine der fliehenden Gestalten noch für Sekunden sichtbar war, pfiffen ihr die Kugeln nach. Doch nach wenigen Minuten waren sie verschwunden, wie verschlungen von dem dichten, ihnen nur zu wohl vertrauten Busch!

Der Kampf war zu Ende und auf den wüsten Lärm folgte plötzlich eine fast beängstigende Stille.

Als Leutnant Brehmer mit seiner Mannschaft und mehreren erbeuteten Gefangenen zum Dorf zurückkamen, stürzten einige Matrosen auf ihn zu.

»Ist der Deutsche gefunden?« rief er ihnen entgegen.

»Nein, Herr Leutnant, aber –«

»Alle Hütten genau durchsuchen! Aber genau!« befahl der Offizier. »Wo ist der erste Offizier?«

»Herr Leutnant, der Herr Kapitänleutnant liegt noch immer da und sieht aus –«

»Was? Was ist los?« fragte der Offizier, der den Sinn der Worte gar nicht begriff, hastig. »Wer liegt da? Wo?«

»Der erste Offizier! Da, unterm Baum!«

»Donnerwetter!« Und was er laufen konnte, rannte Leutnant Brehmer nach der Stelle, wo sein Kamerad im Schatten eines riesigen Baumes auf einer Gummidecke lag. Neben ihm kniete der Lazarettgehilfe und bemühte sich, mit einem Schwamm das aus der linken Schulter sickernde Blut abzuwaschen. Christians und mehrere Matrosen standen umher und betrachteten teilnahmsvoll das blasse Gesicht des Verwundeten und die schrecklich zerschossene Schulter.

»Lebt er noch?« fragte der Offizier hastig.

»Jawohl, Herr Leutnant!« antwortete der Lazarettgehilfe. »Das Herz schlägt noch, aber die Verwundung ist schwer, sehr schwer!« setzte er gewichtig hinzu. »Die Schulter scheint zerschmettert zu sein, und ich muß sofort einen regelrechten Verband anlegen, um das Wundfieber zu unterdrücken.«

»Mensch, faseln Sie nicht, sondern machen Sie den Verband!« schrie Leutnant Brehmer ihn an.

Da klang ein lautes Hurra vom Ende der Dorfstraße her, und inmitten eines Trupps von Matrosen kam der Faktorist Ruthard heran, den sie in der letzten Hütte mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen gefunden hatten.

Als er den Offizier erblickte, eilte er auf ihn zu und rief: »Gott sei Dank, Herr Leutnant, daß Sie kamen!« »Still, Ruthard! Nachher!« unterbrach ihn Christians und deutete auf den am Boden Liegenden, dem der Lazarettgehilfe mit einer Nadel den Verband feststeckte.

»Um Gottes Willen! Wer ist das?« flüsterte Ruthard.

»Der erste Offizier vom Kriegsschiff,« antwortete Christians leise. »Als er wie ein Löwe gegen die Bakundus vorging, schossen die Schufte ihn nieder!«

»Fertig, Herr Leutnant!« sagte der Lazarettgehilfe, sich erhebend.

»Die Tragbahre!« befahl Leutnant Brehmer; mit äußerster Vorsicht wurde Hans von Bernitz auf die Tragbahre gelegt und aus dem Dorf hinausgetragen.

»Die Bananenstauden niederschlagen! Dann Feuer an die Hütten!« rief der Offizier seinen Leuten zu, und unter den Streichen der Seitengewehre sanken die breitblättrigen Pisangstämme zu Boden. Dann knisterte es hier und dort. Kleine Flämmchen zuckten auf, dehnten sich aus, wuchsen empor, glitten wie feurige Schlangen züngelnd über die trockenen Dächer und stiegen prasselnd bis über die Kronen des Urwaldes. Hochauf wallte funkendurchsprühter Qualm und Rauch, und wie Hütte um Hütte in feuriger Glut aufflammte, durchflutete der zuckende Schein weithin den schweigenden Wald, über den schon die Dämmerung herniedersank. Auf seinen Säbel gestützt, blickte Leutnant Brehmer, finsteren Auges auf das brennende Dorf. »Die Strafe ist hart, aber gerecht!« sprach er vor sich hin. »Die werden's nicht wieder wagen.« Wie eine Antwort darauf erscholl aus weiter Ferne ein langgedehnter, klagender Schrei. Die über den Wipfeln der Bäume schwebende Rauchwolke hatte den entflohenen Negern verkündet, wie die Deutschen den heimtückischen Überfall auf die wehrlose Faktorei bestraften.

»Düwel, Düwel, dat stinkt aber, duller as in Ellerbek biet Bücklingrökern,« rief der Matrose Rasmussen seinem Freunde Jenssen zu, und die drastische Bemerkung riß den Offizier aus seinem Sinnen empor.

»Antreten! In Reihenkolonne rechtsum! Das Gewehr über! Abteilung Marsch!« kommandierte er laut, und der Zug setzte sich in Bewegung.

»Obermaat Hilprich!« rief Leutnant Brehmer, »Sie bleiben am Tamp und sorgen für die Rückendeckung! Ich gehe nach vorn!« Hastig eilte er an der marschierenden Kolonne entlang, bis er die Spitze erreichte.

»Ist der erste Offizier schon aufgewacht?« fragte er den neben den Krankenträgern schreitenden Lazarettgehilfen.

»Noch nicht, Herr Leutnant!« antwortete dieser. »Der Blutverlust war zu groß, und in solchen Fällen pflegt stets eine mehrstündige Erschöpfung die Folge zu sein. Der aseptische Verband jedoch, den ich angelegt habe –«

Ein schmerzliches Stöhnen, das aus der Trage herausdrang, ließ ihn verstummen.

»Halt!« befahl Leutnant Brehmer, »hinsetzen!«

Er bog sich zu dem verwundeten Kameraden nieder, der ihn mit großen Augen starr anblickte, und sagte:

»Wie fühlen Sie sich, Herr Kapitänleutnant?«

»Ist er gerettet?« flüsterte jener leise.

»Gott sei Dank! Ja!« antwortete Brehmer. »Aber Sie –«

»Wasser!« hauchte Bernitz, über dessen blasses Gesicht bei der Antwort ein leichtes Lächeln der Freude glitt, und trank in tiefen Zügen aus der gereichten Schale; dann sank er ermattet zurück und schloß die Augen wieder.

»Das ist ein gutes Zeichen,« flüsterte der Lazarettgehilfe, während die Träger ihre Last wieder vorsichtig aufhoben, um den Marsch fortzusetzen, den die hereinbrechende Dunkelheit ganz außerordentlich erschwerte.

»Verdammt, daß wir keine Fackeln mitgenommen haben!« schalt Leutnant Brehmer. »Aber an solchen Nachtmarsch hat auch wirklich keiner gedacht! – Hallo! – Was ist das?« Er wandte sich um und blickte nach rückwärts, wo dunkelroter Schein zwischen den Bäumen aufflammte und rasch näher kam.

»Hier sind ein paar Fackeln, Herr Leutnant!« rief Rasmussen. »Herr Obermaat hat sie in einer Hütte gefunden und mitgenommen!« Dabei hielt er in jeder Hand eine aus Baumrinde und Harz gefertigte Fackel hoch, wie sie die Neger im Kamerungebirge benutzen.

»Ach, das ist gut!« entgegnete der Offizier. »Hier, Heitmann, Müller, jeder eine Fackel, damit rechts und links dicht vor die Träger! Und dann vorwärts so schnell wie möglich!«

Doch trotz aller Anstrengungen der erschöpften Leute erreichte die Kolonne erst nach fast vierstündigem Marsch das Dorf Ndian, wo Leutnant Brehmer notgedrungen eine kurze Rast machen und seine Mannschaft essen lassen mußte. Rasch wurden die Gewehre zusammengesetzt und auf dem Dorfplatz ein großes Feuer angezündet, um das sich die Matrosen lagerten.

»Hier ist alles ruhig geblieben, und kein Neger hat sich blicken lassen!« meldete Leutnant von Dewitz, den Brehmer in kurzen Worten von dem Verlauf der Expedition unterrichtete. »Die Hallunken!« setzte er hinzu, das noch immer wachsbleiche Gesicht seines ersten Offiziers betrachtend, der bis jetzt noch nicht wieder zur Besinnung gekommen war.

»Herr Leutnant, kann ich mir auch ein bißchen verbinden lassen?« fragte der Matrose Conrad, der mühsam herangehumpelt kam.

»Ja zum Donnerwetter, warum melden Sie sich nicht gleich, wenn Sie angeschossen sind?« rief Leutnant Brehmer. »Was ist mit Ihnen?«

»Ach, es brennt jetzt man bloß so'n bißchen, sonst is es nich weiter slimm,« antwortete der Mann. »Hier, ans linke Bein!«

Der rasch herzugerufene Lazarettgehilfe untersuchte die Wunde, die sich als ein Streifschuß am Oberschenkel herausstellte.

»So, nu kann ick wedder lopen!« meinte Conrad ganz vergnügt, nachdem er verbunden war. »Und unterwegs stütz' ich mir mal auf einen, wenn es nich mehr geht, Herr Leutnant!« Vom Getragenwerden wollte er absolut nichts wissen.

»Ein famoser Kerl!« äußerte der Faktorist Christians.

»Ja, es sind brave Burschen!« erwiderte Brehmer, »sie haben höllisch aushalten müssen heute, und darum will ich schleunigst an Bord zurück. Vor allen Dingen macht mir der erste Offizier doch zu viel Sorge, daß er gar nicht aufwacht.«

»Herr Leutnant, der Herr Kapitänleutnant ruft nach Ihnen!« rief der Lazarettgehilfe, und als der Offizier an die Tragbahre trat, sah er zu seiner Freude, daß Hans von Bernitz die Augen geöffnet hatte.

»Wo sind wir?« fragte er mit matter Stimme.

»In Ndian, Herr Kapitänleutnant!« antwortete Brehmer.

»An Bord!« flüsterte Bernitz kaum hörbar und schloß aufs neue die Augen.

»An die Gewehre!« befahl Leutnant Brehmer, und der Abstieg zu den Booten begann, der sich fast noch schwieriger gestaltete als der Marsch durch den Urwald.

»Langsam! Sachte! Vorsichtig!« rief Brehmer ein um das andere Mal den Trägern zu, die mit ihrer Last mehr gleitend und rutschend als gehend in der steilen Wasserrinne hinunterkletterten. Der Weg mußte für den Verwundeten eine furchtbare Qual sein, denn fast bei jedem Schritt stöhnte er laut auf vor Schmerzen, da trotz aller Sorgfalt ein Stoßen und Schütteln der Krankentrage nicht zu vermeiden war. Die zahlreich aus Ndian mitgenommenen Fackeln erleuchteten nur mühsam die nächste Umgebung in der engen Schlucht. Schier endlos dünkte Brehmer die Zeit, bis sie das Rauschen des Wasserfalles vernahmen, der die Nähe des Flusses verkündete. Nach einer Viertelstunde traten die Boote die Rückfahrt an.

Der Kommandant nebst den übrigen Offizieren standen an Deck und beobachteten gespannt das Herankommen der Boote; die freudige Erregung auf den Gesichtern schwand aber rasch, als sie die ernsten Mienen der Darinsitzenden bemerkten.

»Ist etwas passiert?« rief Kapitän Heinrich hinüber, als sie in Rufweite waren.

»Der erste Offizier schwer, ein Mann leicht verwundet!« antwortete Leutnant Brehmer, und sowie der Kutter längsseit kam, eilte der Arzt die Fallreepstreppe hinab.

Ein Blick auf den in der Tragbahre Liegenden genügte für den erfahrenen Mann, zu erkennen, daß hier Gefahr im Verzuge sei. »Sofort ins Lazarett!« befahl er kurz, und wenige Minuten später lag Hans von Bernitz in der Krankenkoje. Mit leichter, sicherer Hand entfernte der Arzt den Verband, aber er erschrak, als er die schrecklich zerfetzte Schulter erblickte, die aussah, als ob sie von einer vollen Schrotladung getroffen sei; was er aber aus der Wunde hervorholte, waren keine Schrotkörner, sondern scharfkantige Eisenstückchen, Splitter eines zerschlagenen eisernen Topfes, die von den Negern mit Vorliebe als Gewehrladung verwendet wurden. Es dauerte über eine Stunde, bis der neue Verband angelegt werden konnte. –

Mehrere Wochen lag Hans von Bernitz infolge seiner Verwundung schwer krank danieder. Ein heftiges Wundfieber hatte sich trotz sorgfältigster Pflege eingestellt, und einige Tage lang verzweifelte der Arzt fast an der Rettung. Es war ein Glück, daß die Eismaschinen ununterbrochen Vorrat liefern konnten, um die verzehrende Glut des Fiebers zu dämpfen. Wunderliche Sprünge hatte während der Zeit seine Phantasie gemacht. Bald glaubte er im Boot zu sitzen, das ausgeschickt war, ein Schiff vom Untergang zu retten und an Land zu schleppen und rief unaufhörlich: »Mut! Mut! Helene! Ich halte dich, wenn du untersinkst!« Dann wieder befand er sich im Kampf mit den Negern und feuerte seine Leute zum Draufgehen an mit den Worten: »Vorwärts! Vorwärts! Die Schufte! Helene! Helene! ich komme!« Dabei fuhr er wild in die Höhe und versuchte aus dem Bett zu springen, so daß die Wärter Mühe hatten, ihn zu halten. Dazwischen schwatzte er allerlei sonderbares Zeug von einer großen Geldsumme, die er verdient hätte und die er Helene schenken wollte.

Das Weihnachtsfest war längst vorüber, als er zum erstenmal mit klarer Besinnung die Augen aufschlug. Nun saß er in einem bequemen Liegestuhl auf der Kampanje und blickte auf die See hinaus. Die »Elisabeth« hatte ihre Erholungsreise nach Kapstadt angetreten und glitt leichtfüßig über die blauen Wogen des Atlantik nach Süden.

In Begleitung des Arztes erschien der Kommandant auf der Kampanje und trat an den Daliegenden heran.

»Nun, lieber Bernitz, wie fühlen Sie sich?« fragte er freundlich.

»Danke, Herr Kapitän!« erwiderte Hans von Bernitz, »ich hoffe, in vier Wochen spätestens meinen Dienst wieder übernehmen zu können.«

»Na, das lassen Sie nur gut sein!« entgegnete Kapitän Heinrich.

»Ich denke, wir können es heute riskieren!« wandte er sich an den Arzt. »Unser Patient sieht ja ganz munter aus.«

Der Doktor griff nach Bernitz' Hand und fühlte einen Augenblick dessen Puls.

»Völlig fieberfrei!« sagte er, die Hand loslassend. »Sie erwarten doch keinerlei besondere Nachrichten von Haus?« fragte er dann.

Kapitänleutnant von Bernitz sah ihn verwundert an. »Nein! Wie kommen Sie darauf?« fragte er dagegen.

»O, es war nur eine Frage!« antwortete Dr. Dirks lächelnd. »Sonst hätte ich Ihnen Ihre Briefe noch vorenthalten! Aber nun – –«

»Hier!« sprach Kapitän Heinrich, dem Kranken eine Anzahl Briefe hinreichend.

»Unterhalten Sie sich gut damit, Bernitz! Eine kleine Kiste ist auch noch für Sie angekommen. Die erhalten Sie aber erst später, wenn wir mit Ihnen Nach-Weihnachten feiern können.«

Er verließ, freundlich grüßend, mit dem Arzt das Achterdeck, und Hans v. Bernitz sah sich, wie das fast jeder Mensch zu tun pflegt, zunächst die Handschriften der Adressen an, um die Absender zu erraten. Nachdem er sie alle durchgesehen hatte, blickte er suchend erst in seinen Schoß, dann rechts und links neben sich auf Deck. Schließlich nahm er sämtliche Briefe nochmals zur Hand und besah flüchtig die Adressen.

Als er das, was er suchte, nicht fand, überflog ein trauriges Lächeln sein Gesicht. Aufseufzend legte er sich in den Stuhl zurück und fing an zu lesen. Zuerst den Brief von seiner Mutter. Klagen über seine Verwundung, die Hoffnung auf baldige Genesung. Mitteilungen aus ihrem eigenen Lebenskreise! Hastig überflog Hans die Zeilen des umfangreichen Schriftstückes, Plötzlich leuchteten seine Augen auf! Da unten am Rande der letzten Seite zeigte sich eine andere Schrift. Groß, steil, fest und kühn hob sie sich fast männlich von den feinen Schriftzügen der Mutter ab. Nur wenige Worte!

»Mein armer Hans, daß Du so sehr leiden mußt. Ich habe solche Angst um Dich ausgestanden. Aber stolz bin ich doch auf Dich! Gott behüte und beschütze Dich! Helene.«

Scheu blickte Hans von Bernitz sich um, und als er sich unbeobachtet sah, preßte er schnell das Blatt an die Lippen. Mit frohem, glücklichem Lächeln las er die kurzen Sätze immer wieder. Dann öffnete er die übrigen Briefe, meistens Glückwünsche der Kameraden, Anspielungen auf den zu erwartenden Piepmatz mit Schwertern, freundschaftlich derbe Benennungen, wie: Duselmeier, Vogelfänger, Negerfeldherr und anderes.

Aber hier ein längerer Brief aus Wilhelmshaven von seinem Kameraden Wilberg.

»Zu dem großen Kasinoball, Anfang Januar, war unsere gemeinschaftliche Cousine Helene Rhenius bei uns zum Besuch. Donnerwetter, machte die Furore! Wallwitz war vom ersten Moment an vollständig weg und machte ihr auf Deubel komm raus die Kur. Sie ist ja auch ein entzückendes Mädel, nur ein bissel zu ernst. Aber mit Egon schien sie sich gut zu stehen. Die beiden schwatzten und lachten und tanzten den ganzen Abend zusammen, und ich glaube, der Graf »Schmetterling«, wie er doch allgemein heißt, hat sich bei Helene gehörig die Flügel versenkt. Als zukünftiger Majoratsherr kann er sich's ja auch leisten, ein armes Mädel zu heiraten, und als er hörte, daß Helene unser Gast sei, holte er am nächsten Tage den bisher versäumten Besuch bei uns nach, natürlich nur Helenes wegen, die ihn auch sehr freundlich empfing. Es sollte mich wirklich freuen, wenn das Mädel eine solche Partie machte, denn sonst! Sie hat doch effektiv nichts, und als Gouvernante irgendwo zu verkümmern, wäre doch ewig schade um sie. Übrigens, da fällt mir ein, hast Du Dich mit ihr irgendwie oder wo erzürnt? Wir hatten Wallwitz zu Tische geladen, und da gerade die Nachricht von Deinem afrikanischen Feldzug und Deiner Verwundung eingetroffen war – die Schweinehunde! –, so warst Du natürlich das Hauptthema der Unterhaltung, und wir lobten Dich über den grünen Klee und sangen Dein Lob, besonders Anna, daß Dir entschieden sämtliche Ohren wie Kirchenglocken geklungen haben müssen, wenn Du überhaupt schon wieder hören konntest. Natürlich dachten wir, daß Helene sich riesig dafür interessieren würde, und Wallwitz erzählte ihr noch extra, was Du für ein Prachtbengel wärst, da sagte sie plötzlich ganz cooly: ›Bitte, sprechen wir von etwas anderem!‹ Ich wurde wütend und sagte ihr: ›Du solltest dich freuen, daß Hans so gut davongekommen ist! Wenn er den Schuß in den Kopf kriegte statt in die Schulter, dann war er futsch, und wir hätten ihn höchstens noch von der crew aus einen feinen Grabstein in Afrika setzen lassen können!‹ Was macht das Frauenzimmer? Sieht mich groß an und sagt: ›Bitte, laß das!‹ Natürlich hielt ich's Maul und fing von was anderem an, China, oder Amerika oder weiß der Geier was, und allmählich kamen wir ja auch wieder ins Gespräch. Aber gewundert hat's mich doch von ihr! Ich dachte, Ihr wäret ein Herz und eine Seele! Nun also, ich schreib' Dir dies nur, damit Du Bescheid weißt, wenn Du übers Jahr der Frau Gräfin Wallwitz, geborene Rhenius, hier begegnest. Auf Deine Rückkehr freuen wir uns, besonders Anna, schon wie die Schottendiebe und da voraussichtlich ein Dutzend von uns hier ist, werde ich einen Extra- crew-Abend arrangieren mit Heldenmarsch von Wagner oder irgendeinem anderen Musikanten und einem hervorragenden schakulla!

Also a rivederci! Herzlichen Gruß! Dein Ede.«

Nachdem Hans von Bernitz den Brief zu Ende gelesen hatte, ließ er die Hand sinken und blickte starr vor sich hin. In seinem Kopf sauste und brauste es, und obwohl er sich Mühe gab, seine Gedanken zusammenzuhalten, gingen sie wirr auseinander, bis schließlich ein einziges Bild vor seinem geistigen Auge stand.

Er sah seinen Kameraden Graf Wallwitz in Galauniform vor dem Altar stehen und neben ihm, hoch, schlank und stolz Helene Rhenius, im weißen Atlaskleid, den Myrtenkranz im goldenen Haar. Laut und deutlich hörte er ihr »Ja!« als Antwort auf die Frage des Predigers, ob sie dem Grafen von Wallwitz als ehelich getrautes Weib angehören wolle, ihn nicht verlassen in Not und Gefahr, »bis einst der Tod euch scheidet!«

Mit rauschendem Klang setzte die Orgel ein.

Da verlor Hans von Bernitz das Bewußtsein und er sank mit geschlossenen Augen zur Seite.

So fand ihn Dr. Dirks, der heraufkam, um sich nach ihm umzusehen. Erschreckt faßte er nach dem Puls des Bewußtlosen, und die hastigen, ungleichmäßigen Schläge verrieten ihm sofort einen Fieberrückfall. Hastig schob er zunächst sämtliche Briefschaften in ein großes Kuvert und ließ sich dann eine Flasche Rotwein bringen, von dem er Hans nach und nach ein Glas einflößte.

»Wo sind meine Briefe?« war dessen erste Frage, als seine Besinnung zurückkehrte, und er streckte die Hand danach aus.

»Soll ich sie nicht lieber einschließen?« fragte der Arzt dagegen, doch davon wollte Hans nichts hören, sondern barg sie eilig in seine Rocktasche.

»Herr Kapitänleutnant, ich bitte Sie dringend, die Briefe vorläufig ruhen zu lassen und nicht mehr zu lesen!« sprach der Doktor mit ernster Miene. Die tief eingesunkenen Augen und die fliegende Röte auf dem Gesicht seines Patienten gefielen ihm gar nicht, und er machte sich Vorwürfe, jenem die Briefe überhaupt gegeben zu haben, denn daß die so plötzliche Ohnmacht damit in Verbindung stand, war für ihn außer Zweifel.

»Ach, Doktor, lassen Sie nur!« entgegnete Hans von Bernitz. »Machen Sie mich baldmöglichst gesund, daß ich wieder in Dienst kann. Alles andere ist Nebensache!« Dabei machte er einen mißlungenen Versuch zu lachen.

Die nächste Zeit war für den Arzt eine außerordentlich aufregende. Der Fieberanfall verging zwar rasch, aber des Verwundeten hatte sich eine so tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigt, daß auch sein körperliches Befinden darunter litt und die vollständige Genesung verzögert wurde. Schließlich wußte sich der Doktor nicht anders zu helfen, als daß er zum Kommandanten ging und diesem, der selbst schon mehrfach seine Verwunderung über das gedrückte Wesen des Offiziers ausgesprochen hatte, seine Ansicht über die Ursache dazu mitteilte.

»Hm! So! also wieder mal cherchez la femme!« antwortete Kapitän Heinrich. »Die verdammten Weiber – Pardon, Herr Doktor, Sie sind aber ja nicht verheiratet – ja! Na, ich werde mal mit ihm sprechen! Aber Caprivi hatte recht, wenn er sagte, ein verheirateter Seeoffizier ist nur ein halber Offizier und ein verliebter taugt gar nichts!«

»Ich bitte aber zu bedenken, Herr Kapitän, daß der erste Offizier auch körperlich noch recht schwach ist und eine große Aufregung – –«

»Schon gut, schon gut!« unterbrach ihn der Kommandant, und als Hans von Bernitz am Nachmittag wieder in seinem Stuhl auf der Kampanje lag, ging er hinauf. »Na, Bernitz, wie steht's?« redete er ihn an. »Das ist doch eine andere Art zu fahren auf solchem Schiffchen wie dieser ›Elisabeth‹ gegen früher! In drei Tagen sind wir in Kapstadt, denk' ich, und da werde ich Sie zur vollständigen Erholung während der ganzen Zeit an Land schicken. Draußen in Seapoint wohnt ein alter Freund von mir, reizendes Haus, reizende Familie, allerliebste Töchter und so, wissen Sie. Die machen sich ein besonderes Vergnügen daraus, mir meinen ersten Offizier wieder gesund zu kurieren.«

Hans von Bernitz versuchte zu lächeln, als ob er sich schon ungeheuer auf diesen Aufenthalt freute; aber ein scharfer Beobachter hätte ihm angemerkt, daß es ihm im Grunde vollständig gleichgültig war.

»Eins bitte ich mir aber aus,« fuhr Kapitän Heinrich fort, »verlieben Sie sich nicht etwa! Oder wenn schon, dann wenigstens in alle drei zugleich! Das ist zwar etwas anstrengender, aber nicht so gefährlich! Sie wissen ja, Inspektor Bräsig hatte auch drei Brautens und heiratete darum gar keine! Und das war sehr weise von ihm gehandelt! Der Mann hätte in der Beziehung Seeoffizier werden können.«

Hans machte wieder einen Versuch, mit Lächeln auf den Scherz einzugehen, der aber so mißglückte wie der vorige.

»Und überhaupt!« sprach der Kommandant weiter. »Was soll ein Seeoffizier mit einer Frau? Er ist draußen! Sie sitzt zu Haus! Er denkt an sie und die eventuellen Kinder, sorgt und grämt sich vielleicht, wird nervös, möchte am liebsten wieder nach Haus, und wenn die Post kommt, ist Feuer im Dach, sobald sie nicht mehrere Quadratmeter beschriebenen Papiers bringt! Ist das ein Zustand! – Ja, natürlich! Aber was für einer!«

»Das würde ich nie tun!« versicherte Hans von Bernitz mit einiger Anstrengung. Ihm war dies Gespräch unsäglich peinlich.

»Lieber. Bernitz,« sagte der Kommandant plötzlich sehr ernst, »Sie täuschen sich selbst, aber mich nicht! Ich will nicht fragen, was Sie in letzter Zeit so verstört gemacht hat, aber als Kamerad, und einer, der es wirklich gut mit Ihnen meint, sage ich Ihnen, machen Sie Schotten dicht oder Sie kentern! Hier« – er zeigte nach vorn über das Schiff – »da steckt Ihr Heilmittel! Wollen Sie nur gesund werden, und Sie werden's! Erst außen, dann innen! Dem Kaiser, dem Reich, dem Vaterlande gehört Ihre Kraft! Niemand anders! Wollen Sie daran denken, Bernitz?«

Er streckte Hans die Hand hin, die jener mit festem Druck erfaßte. »Jawohl Herr Kapitän!« erwiderte er, und als der Kommandant gegangen war, zog er zwei Briefe aus der Tasche, deren durchscheuerten Kniffen man es ansah, daß sie unzählige Male auseinandergefaltet und wieder zusammengelegt worden waren. Ohne einen Augenblick zu zögern, zerriß er sie in kleine Stückchen, stand auf und warf sie über Bord. Wirbelnd flatterten sie davon und sanken auf das Wasser nieder, wo die wallenden Strudel des Schraubenwassers sie erfaßten und verschlangen.

Schritte, welche auf der zur Kompanje führenden Treppe erklangen, veranlaßten Hans von Bernitz, sich umzuwenden. Leutnant Brehmer kam herauf und ging auf den ersten Offizier zu.

»Na, Brehmer, Sie wollen wohl nachsehen, ob ich nicht bald wieder in Erscheinung trete?« rief Bernitz ihm entgegen. »Wird Ihnen der Dienst langweilig?«

»Aber ich bitte Sie, Herr Kapitänleutnant!« entgegnete Brehmer. »In: Gegenteil! Je mehr Dienst, je mehr Ehr'! Nein, ich wollte mich nur erkundigen, wie es Ihnen geht. Sie seh'n ja heute plötzlich ganz anders aus! G'rad so, als ob Ihnen etwas sehr Gutes passiert wäre.«

»Ist es auch!« erwiderte Kapitänleutnant von Bernitz. »Jetzt sollen Sie mal sehen, wie fix ich wieder gesund bin.«

»Aber das wird gefeiert, Herr Kapitänleutnant!« rief Brehmer. »Und dann womöglich gleich noch der rote Schwertermatz dazu, alle Hagel! Hoffentlich passiert's noch in Kapstadt, wenn der Kahn angebunden liegt, sonst fällt er am Ende um vor Vergnügen!«

»Dann stützen Sie ihn von einer Seite mit den Kronenschwertern und ich von der anderen mit den roten!« lachte Hans von Bernitz, und er wunderte sich selber, daß er wieder lachen konnte.

»Wenn ich nur was abbekomme!« meinte Leutnant Brehmer zweifelnd.

»Aber selbstredend!« rief der erste Offizier. »Sie sind ebensogut dazu eingegeben wie ich, das hat mir der Kommandant schon gesagt. Ob Dewitz und Bauer was kriegen, weiß ich nicht, hoffe es aber.«

»Für Sie kann ich dann ja wohl gleich beim Meister eine Backspier bestellen!« versetzte Leutnant Brehmer. »Zu der Rettungsmedaille noch Schwerterorden und das Veilchen, alles innerhalb zwei Jahren! Alle Achtung! Das blüht den gewöhnlichen Sterblichen nicht leicht.«

»Na ja, 's ist immerhin etwas für den Anfang!« entgegnete Hans von Bernitz. »Die Pflaume ist ja auch was wert, aber die anderen Dinger sind mir doch lieber! Jetzt muß ich mich aber erst mal wieder setzen, das Stehen wird dem alten Mann sauer!«

Als Leutnant von Brehmer gegangen war, verfiel Hans von Bernitz doch wieder in Nachdenken, und sein Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an.

»Lebe wohl, Helene! Gott schütze und behüte dich!« sprach er vor sich hin, in Gedanken die Worte des Briefes wiederholend. Dann aber raffte er sich gewaltsam auf. »Schotten dicht!« sagte er so laut, daß der Signalgast auf der achternen Kommandobrücke sich erstaunt umwendete und sagte: »Wie befehlen, Herr Kapitänleutnant?«

»Unsinn!« erwiderte der erste Offizier. »Der Lazarettgehilfe soll zum Massieren in meine Kammer kommen!« rief er dem Läufer an Deck zu und ging hinunter.

Als die »Elisabeth« in Kapstadt an der Mole lag, wollte Kapitän Heinrich seinen ersten Offizier sofort ausschiffen, aber dieser lehnte das Anerbieten ab und bat, an Bord bleiben zu dürfen.

»Ich fühle mich hier wirklich wohler, Herr Kapitän,« sagte er, »und ich weiß, daß ich auch innenbords schneller gesund werde, wenn ich mit den Kameraden zusammen bin.«

Der Kommandant sah ihm scharf ins Gesicht, doch, ohne zu zucken, hielt Hans von Bernitz den Blick aus.

»Gut, wie Sie wollen!« erwiderte jener darauf. »Sie hätten es sonst dort wirklich nett gehabt.«

Hans von Bernitz gab sich auch die erdenklichste Mühe, nicht an das zu denken, was ihn im innersten Herzen brannte und schmerzte. Aber jedesmal wenn die Briefordonnanz an Bord kam und in der Messe die eingetroffenen Briefe verteilte, zog er sich in seine Kammer zurück. Mit zitternden Fingern riß er den Umschlag von dem Brief seiner Mutter ab, und suchend überflogen seine Augen die engbeschriebenen Seiten in Furcht und Hoffnung. Wenn dann das Gefürchtete, die Mitteilung von Helenens Verlobung nicht darin stand, holte er sein Album hervor und betrachtete stumm eine Weile das liebliche Bild des schönen Mädchens. Leise, leise regte dann die Hoffnung wieder ihre Flügel und trug ihn auf leichten Schwingen der fernen Heimat zu, zu ihr, die in solchen Augenblicken doch wieder sein ganzes Herz erfüllte.

Der schrille Klang der Bootsmannsmaatenpfeife, irgendein laut gegebener Befehl oder schon das Trappeln der vorübereilenden Matrosen, riß ihn aber jedesmal rasch aus seiner Träumerei, und hastig verschloß er das lockende Bild.

Vierzehn Tage schon lag die »Elisabeth« im Hafen, und gerade drei Monate waren Vergangenheit dem Tage, an welchem Hans von Bernitz verwundet worden war, da ließ der Kommandant ihn rufen und sagte: »Kapitänleutnant von Bernitz, es wäre mir lieb, wenn Sie heute zur Musterung erscheinen könnten.«

»Zu Befehl!« entgegnete dieser, und als der gellende Alle Mann-Pfiff die Besatzung an Deck rief, ging er auch hinauf, wo er zu seinem Erstaunen bemerkte, daß der Kommandant und sämtliche Offiziere, anstatt wie gewöhnlich im Bordjackett, im Rock erschienen waren. Nachdem die eigentliche Musterung vorüber war, stieg der Kommandant auf die achtere Kommandobrücke und befahl: »Alle Mann achteraus!« dann entfaltete er ein großes Schriftstück und begann unter lautloser Stille der neugierig aufhorchenden Mannschaft:

»Allerhöchste Kabinettsorder! Auf den Mir gehaltenen Vortrag bestimme Ich: Wegen tapferen Verhaltens vor dem Feind, bei Ausführung der Rettung des von aufrührerischen Schwarzen im Deutschen Schutzgebiet von Westafrika gefangen genommenen deutschen Untertanen Ruthard, erhalten die nachbenannten Offiziere und Mannschaften folgende Auszeichnungen: der erste Offizier Meines Kleinen Kreuzers »Elisabeth«, Kapitänleutnant Hans von Bernitz, den Roten Adlerorden IV. Klasse mit Schwertern; der Oberleutnant zur See Brehmer, sowie die Leutnants zur See von Dewitz und Bauer, sämtlich vom Stabe Meines Kleinen Kreuzers »Elisabeth«, den Kronenorden IV. Klasse mit Schwertern; der Oberbootsmannsmaat Hilprich, die Bootsmannsmaate Schneider, Back und Urban das Allgemeine Ehrenzeichen I. Klasse; die Obermatrosen Peters, Wilhelmi, die Matrosen Rasmussen, Jensen und Conrad das Allgemeine Ehrenzeichen II. Klasse am schwarz-weißen Bande; ferner spreche Ich sämtlichen an der Strafexpedition gegen die Bakundus am 12. Dezember 1901 Beteiligten meine Allerhöchste Anerkennung wegen ihres guten Verhaltens dabei aus.«

Gegeben an Bord Meiner Jacht »Hohenzollern«.

Kiel, den 12. Februar 1902. Wilhelm II.
(I. R.)

Ein leises Rauschen, Raunen und Flüstern ging durch die Besatzung, als der Kommandant geendet hatte. Doch sogleich reckten alle wieder die Hälse, als Kapitän Heinrich ein zweites Schreiben entfaltete und verlas, in welchem der Staatssekretär des Marineamtes die eben gelesene Order bekannt gab, mit dem Hinzufügen, sie sofort nach Eintreffen der Besatzung zur Kenntnis zu bringen und die Auszeichnungen zu verteilen. Mit lauter Stimme rief er darauf zuerst den ersten Offizier auf die Brücke und überreichte ihm die Dekoration. »Ein Pflaster für die Wunde,« sagte er scherzend dazu. »Das hilft zur Genesung. Ich gratuliere Ihnen von Herzen, lieber Bernitz.«

Als Hans von Bernitz die Stufen wieder hinabstieg, das kleine rote Kästchen in der Hand, wallte es in ihm auf und ein frohes Glücksgefühl erfüllte ihn. Es war doch etwas sehr, sehr Schönes um solche Auszeichnung, und er hatte sie redlich verdient, im Kampf mit eigener Lebensgefahr. Vorsichtig öffnete er die Schachtel und betrachtete das am schwarz-weißen Bande befestigte Ehrenzeichen, während die Kameraden sich beglückwünschend um ihn drängten. Da hörte er plötzlich, wie aus weiter, weiter Ferne eine liebe Stimme, die sprach: »Aber stolz bin ich doch auf dich,« und einen Moment schloß er die Augen. »Kameraden!« unterbrach die markige Stimme des Kommandanten das freudige Lachen und Sprechen an Deck, und alle horchten auf. »Kameraden, es ist mir eine ganz besondere Ehre und Freude gewesen, die Allerhöchste Kabinettsorder auf meinem Schiff bekanntmachen zu dürfen. Die Auszeichnungen, welche unseren Kameraden in wohlverdienter Weise zuteil geworden sind, sind uns ein Beweis, wie Seine Majestät treue Pflichterfüllung in Gnaden belohnt. Sie sollen uns aber auch ein Ansporn sein, in dieser Pflichterfüllung nicht nachzulassen. Das geloben wir aufs neue mit dem Ruf: Seine Majestät, unser Allergnädigster Kaiser, König und Herr Hurra! Hurra! Hurra!

Jubelnd, brausend, erklang das Hurra, was eine Anzahl halberwachsene Burschen, die sich am Kai herumtrieben und schon mit Verwunderung dem ganzen Vorgang zugeschaut hatten, so begeisterte, daß sie ihre Mützen in die Luft warfen und ein krähendes »Hurra« ausstießen.

Während die Mannschaft sich nach vorn zerstreute und die Offiziere sich gegenseitig nochmals beglückwünschten, trat der Zahlmeister an den ersten Offizier heran.

»Herr Kapitänleutnant, ich habe auch noch etwas für Sie,« sprach er schmunzelnd.

»Hab' ich etwa das große Los gewonnen?« fragte jener lachend, »ich spiele ja gar nicht.«

»Das ist noch besser,« erwiderte der Zahlmeister, »Sie sind nach Maßgabe des Etats vom ersten dieses Monats in die erste Gehaltsklasse aufgerückt.«

»Ach, Herr Kapitänleutnant, erlauben Sie mal einen Augenblick!« rief Brehmer und griff nach dessen linker Hand. »Sie haben da ohne Zweifel den Ring des Polykrates, und der muß entschieden geopfert werden. Da hört denn doch Verschiedenes dabei auf. Nun aber Sekt, und zwar nicht so knapp! Und Sie, Dewitz, jagen schleunigst den Steward an Land und lassen uns für heut' abend ein fürstliches Diner aufzäumen. Mit Orden und Schwertern, bitte! Mit Orden und Schwertern, verstehen Sie?«

In ausgelassener, heiterer Stimmung gingen sie in die Messe und gleich darauf knallten die Pfropfen. Am Abend aber gab es wirklich ein fürstliches Diner, und Brehmer versicherte immer einmal über das andere: »Es war faktisch mit Schwertern und Orden!«

Erst spät trennte sich die fröhliche Gesellschaft. Während jedoch die Kameraden müde zur Koje gingen, saß Hans von Bernitz noch lange in seiner Kammer und rechnete. In trübem Sinnen starrte er auf das Resultat seiner Rechnung. Wenn – ja wenn er nicht für seine Schwester noch so lange Jahre sorgen müßte, dann hätte er es wagen dürfen, um Helenes Hand anzuhalten. Aber so reichte es doch lange noch nicht. Noch einmal holte er ihr Bild hervor und sah lange darauf nieder. Dann schloß er es fort und streckte sich auf der Koje aus. Er hatte seine Hoffnungen und Wünsche ein für allemal begraben.

Als die »Elisabeth« acht Tage später Kapstadt verließ, um auf ihre Station zurückzukehren, meldete sich Kapitänleutnant von Bernitz wieder in Dienst.

* * *

Helene Rhenius saß in ihrem Zimmer, das sie bewohnte, wenn sie bei ihrer Cousine Anna und deren Mann, dem Kapitänleutnant Wilberg, in Wilhelmshaven zum Besuch weilte. Vor ihr auf dem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Buch, dessen Blätter zum Teil mit aufgeklebten Zeitungsausschnitten, zum Teil mit ihrer großen steilen Schrift bedeckt waren. In Gedanken versunken, schlug sie langsam eine Seite nach der anderen um und horchte dabei auf das ungestüme Sausen des scharfen Nord-Ost-Sturmes, der pfeifend über die Stadt hinfegte und in wildem Wirbeltanz große weiße Flocken vor sich herjagte. Ein leises Klopfen an der Tür schreckte sie auf. Hastig barg sie das Buch im Schreibtisch und schloß es ein. Dann erst rief sie: »Herein!«

»Guten Abend!« sagte Grete Petersen, die Tochter des alten Seeschiffsführers der versunkenen Brigg »Helene«, welche seit kurzem bei Wilbergs eine Stelle als Zofe angenommen hatte. »Die gnädige Frau schickt mich, um dem gnädigen Fräulein bei der Toilette zu helfen, aber gnädiges Fräulein haben ja noch gar nicht mal angefangen, und gnädige Frau ist gleich fertig.«

»Guten Abend, Grete!« erwiderte Helene Rhenius freundlich. »Ist es denn schon so spät? An den Ball habe ich aber wirklich gar nicht mehr gedacht. Wenn Sie mich nur rasch frisieren wollten! Das übrige mach' ich mir schon allein.«

Sie nahm vor dem Spiegel Platz, dessen Lichter Grete Petersen entzündet hatte, und diese löste ihr das volle, goldblonde Haar, das wie eine goldene Flut über den Rücken wallte. Während Grete vorsichtig mit dem Kamm durch das dichte Gewoge fuhr, plauderte sie von allem Möglichen und sah sich dabei gleichzeitig neugierig im Zimmer um. Von dem einfachen weißen Ballkleid flog ihr Blick nach dem Schreibtisch hinüber, auf dem ein mit fünf Brillanten besetztes Armband, Helenes einziger Schmuck, im flackernden Schein der Kerzen funkelte.

»Ach, das ist ja Herr Kapitänleutnant von Bernitz,« rief sie plötzlich freudig und deutete mit dem Kamm auf eine angelehnt stehende Photographie ohne Rahmen. Zu gleicher Zeit ließ sie aber erschrocken die dichten Haarmassen los, welche sie mit der linken Hand gefaßt hielt, denn Helene Rhenius hatte mit einem so plötzlichen, schreckhaften Ruck den Kopf gewendet, daß Grete schon fürchtete, ihr wehe getan zu haben.

»Kennen Sie den?« Die Frage klang stockend und verlegen, und gleichzeitig bemerkte Grete, daß das Gesicht der Fragerin wie mit Glut übergossen war.

»Natürlich!« lachte sie. »Den kenne ich sogar sehr gut. Der hat uns alle doch damals gerettet, als Vaters Schiff, die »Helene« – »Herrje!« unterbrach sie sich, »die hieß ja gerade so, wie gnädiges Fräulein auch mit Vornamen. Das ist doch komisch, nicht?« »Es gibt wohl noch mehr Mädchen, die so heißen,« entgegnete Fräulein Rhenius, sich wieder dem Spiegel zuwendend. »Erzählen Sie mir das doch mal!«

Diese Aufforderung war Wasser auf Gretes Mühle, und mit großer Lebendigkeit schilderte sie jene furchtbare Sturmnacht.

»Ja, und dann sah ich mit 'n mal das Licht und dachte gleich: nun werden wir gerettet. Und als wir hörten, daß es ein Deutscher war, wußten wir es ganz sicher, und dann kam das Boot und holte uns ab. Wir mußten all' zu Wasser, weil sie doch nicht so dicht herankonnten, und als Herr Gillmeister über Bord fiel, weil er nicht aufgepaßt hatte, sprang Kapitänleutnant von Bernitz nach und holte ihn. Das hätte so leicht kein anderer getan, aber er, wupps, war er drin. Ich schrie ja los, weil ich dachte, es wäre Vadder, aber nachher war er es doch nicht gewesen, sondern Herr Gillmeister, und der ist ja auch bald nachher gestorben. Er war ja schon ein alter Mann, aber schade war es doch, sonst hätte Vadder wohl wieder ein Schiff gekriegt, das hatte er ihm schon versprochen. Na, nu war er tot und mit 'nem andern Schiff wurde es nix, sonst hätte ich auch nicht in Stellung zu gehen brauchen. Aber was der Herr Kapitänleutnant ist, wenn der mal herkäme und ich kriegte ihn hier zu sehen, da würde ich mich schrecklich drüber freuen. Der war der netteste von allen und der beste Offizier an Bord. Das sagten alle, und der eine Unteroffizier sagte: »Für unseren ersten Offizier lassen wir uns totschlagen! Kennen Fräulein ihn auch? ich meine man, weil das Bild dasteht,« setzte sie wie entschuldigend hinzu.

»Er ist mein Vetter!« entgegnete Helene Rhenius.

»Ach nee!« rief Grete Petersen in hellem Erstaunen., »Das ist aber man schade, daß der Herr Vetter heute abend nicht hier is; der wäre doch sicher auch der hübscheste von allen mit seinen blauen Augen.«

»Sie scheinen ihn sich ja recht genau angesehen zu haben, Grete!« versuchte Helene Rhenius zu scherzen, wobei sie im Spiegel prüfend das hübsche, frische Gesicht des Mädchens musterte.

»Hab' ich auch, gnädiges Fräulein. Natürlich!« rief Grete begeistert. »Wenn einer einen vom Ertrinken rettet und denn soll man sich den noch nicht mal angucken, wenn er nachher so freundlich is! Vadder sagt auch immer, wenn alle so wären, dann brauchten wir vor andere Marins kein Bang haben, aber viele von dem Schlag gibt's nich.«

Inzwischen hatte sie mit kunstvoller Hand die Frisur beendet. »So is wohl recht!« meinte sie, ihr Werk musternd. »Nu lauf' ich schnell noch mal runter zur gnädigen Frau und komme dann fix wieder rauf.«

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da sprang Helene Rhenius auf und eilte an den Schreibtisch. Mit leidenschaftlicher Gebärde ergriff sie das Bild und drückte es an die Lippen.

»Hans! Mein geliebter Hans!« flüsterte sie leise. »Ja, es ist wahr, du bist der schönste und tapferste von allen, und keiner kommt dir gleich! Ach Hans, warum bist du nicht bei mir, mich zu schützen! Was soll ich tun? Was soll ich tun? Es ist ja alles so trostlos!«

Sie preßte das Bild an ihre wogende Brust und sah starr vor sich hin, während große Tränen langsam über ihre Wangen rollten.

Dann aber raffte sie sich energisch auf, schloß es zu dem Buch ein und begann ihre Toilette. Grete Petersen, die nach kurzer Zeit wieder eintrat, stieß einen Ruf des Entzückens aus, als sie die wundervolle Gestalt ganz in Weiß vor sich stehen sah. Nur die brennend roten Wangen, welche selbst das kalte Wasser nicht hatte kühlen können, gefielen ihr nicht, und sie meinte treuherzig: »Ich werd' man schnell ein bißchen Puder holen, sonst sieht gnädiges Fräulein aus, als ob Sie geweint hätten.« Aber Helene lehnte lächelnd ab und ging zu der harrenden Freundin hinab.

»Donnerwetter, Helene, siehst du famos aus!« rief Kapitänleutnant Wilberg bei ihrem Eintritt. »Na, ich weiß jemand, der sich heute abend ganz riesig auf dich freut, und wer weiß, was wir erleben! Vielleicht feiern wir morgen ein freudiges Ereignis!«

Er hätte noch weiter geredet, wenn seine Frau, welcher der gequälte Ausdruck in dem Gesicht des jungen Mädchens bei den letzten Worten auffiel, ihm nicht einen Wink gegeben hätte, dieses Thema fallen zu lassen.

»Na, Kinder, denn macht euch fertig! Der Wagen muß gleich kommen,« fuhr er fort. »Du mußt nämlich wissen, Helene, daß es jetzt in Wilhelmshaven wirklich mehrere Wagen gibt außer den zwei Hotelomnibussen, die früher immer schon wochenlang vorher bestellt wurden, wenn irgendwo Gesellschaft war. Die gondelten dann im Dorf umher und holten die Damen truppweise ab, während die Herren Offiziere zu Fuß gehen mußten, ganz egal, wie das Wetter war. Nach den Kasernen hinaus kam solch Vehikel natürlich niemals, weil da keine Damen, sondern nur Leutnants hausten, und wenn der Schmierkram auf den Straßen gar zu groß war, so daß man sich eigentlich nur mit Seestiefeln hinauswagen konnte, setzten sich die Herren Leutnants auf eine Protze vom Landungsgeschütz und ließen sich von ihren getreuen Karls, Friedrichs und Augusts ziehen. Einmal sollen auch zwei Damen auf diese Weise befördert sein. Aber das ist natürlich eine Fabel, wenn auch eine mögliche! Ist der Wagen da?«

»Zu Befehl, Herr Kapitänleutnant!« antwortete der eintretende Bursche, und wenige Minuten später waren sie im Kasino angelangt. Als Frau Wildberg und Helene Rhenius aus dem Toilettenzimmer auf den Korridor traten, um sich in die oberen Festräume zu begeben, stand plötzlich Graf Wallwitz vor ihnen, der sie mit tiefer Verbeugung begrüßte und dann ohne weiteres Helene den Arm bot, um sie hinaufzuführen.

»Endlich!« flüsterte er leise, »seit einer Stunde schon warte ich auf Ihr Erscheinen!«

Er versuchte der neben ihm Schreitenden in die Augen zu sehen, aber Helene hielt den Kopf hartnäckig gesenkt.

»Haben Sie sich gar nicht ein wenig auf den heutigen Abend gefreut, gnädiges Fräulein?« fuhr der Graf fort. »Wenn ich Ihnen nur sagen dürfte –«

»Doch, doch, Herr Graf,« unterbrach ihn Helene schnell, »Sie wissen ja, ich tanze sehr gern, und alle Ihre Kameraden sind vorzügliche Tänzer.«

»Alle meine Kameraden? O ja, gewiß!« entgegnete Graf Wallwitz. »Natürlich tanzen sie alle brillant! Und einzig und allein darauf haben Sie sich gefreut? Sonst hatten Sie gar keinen Grund? Wissen Sie denn nicht, ahnen Sie gar nicht, Helene, wie unsäglich ich diesen Abend herbeigesehnt habe?«

Helene Rhenius zuckte zusammen, als sie sich mit ihrem Vornamen angeredet hörte, und ein scheuer Blick streifte flüchtig ihren Begleiter; aber sie erschrak vor dem glühenden Ausdruck, der in seinen Augen leuchtete, und rasch senkte sie den Kopf wieder. »Hans! Hans! Wo bist du? Warum kommst du mir nicht zur Hilfe?« flog es ihr durch den Sinn. Ach, er war ja so weit, so weit fort, und selbst wenn er hier gewesen wäre, was hätte es geholfen. Mit Riesenschritten sah sie das Verhängnis nahen, und die hämmernden Schläge ihres Herzens verrieten ihr nur zu deutlich, daß Graf Wallwitz noch heute abend eine bestimmte Antwort auf seine Werbung von ihr fordern würde.

Ein befreiender Atemzug hob für einen Augenblick ihre Brust, als sie jetzt die Eingangstür zu dem großen Kasinosaal erreichten und ein Schwarm von Seeoffizieren das Paar umringte. Mindestens zwanzig Hände streckten sich nach ihrer Tanzkarte aus, die Wallwitz aber fest in der Hand hielt.

»Erlauben Sie, Herrschaften!« sagte er ruhig und fing an, seinen Namen an verschiedenen Stellen einzuschreiben, während Helene mit freundlichem Neigen des schönen Kopfes die Begrüßungen der anderen Herren erwiderte.

»Wallwitz, nun hören Sie aber endlich auf, sonst bleibt für uns überhaupt kein Tanz mehr übrig!« rief der lange Zimmermann und streckte die Hand nach der Karte aus.

»Das ist überhaupt gegen die Verabredung,« setzte Leutnant von Witzleben hinzu. »Es war extra bei Tisch ausgemacht, daß jeder nur einen Tanz belegen dürfte!«

»Bitte, meine Herren!« versetzte der Graf kühl, » après vous!«, was bekanntlich auf deutsch heißt: Nachher, Sie!« Er reichte Zimmermann die Karte.

»Nein, das geht nicht! Das ist unerhört!« rief dieser wieder. »Walzer! Galopp! Quadrille! Tischwalzer! Kotillon! Schlußwalzer! Das sind eins, zwei, drei – sechs Tänze! I wo! Das erlauben wir einfach nicht! Gnädiges Fräulein, ich bitte um den ersten Galopp!«

»Das machen die Herren bitte untereinander aus!« entgegnete Helene Rhenius, der es endlich gelang, den dichten Kreis ihrer Verehrer zu durchbrechen und den Saal zu betreten, um die anwesenden älteren Damen zu begrüßen.

Die Gäste waren bereits zahlreich versammelt, und ein heller Kranz duftiger Toiletten zog sich an den Wänden entlang. Die Seeoffiziere in ihren goldglänzenden Uniformen eilten durch den weiten, lichterfüllten Raum und suchten, sich ihre Tänzerinnen zu sichern. Heiteres Lachen und Plaudern erscholl ringsum, und aus der einen mit Blattpflanzen verdeckten Ecke klang es ab und zu wie das leise probierende Zwitschern eines Vogels. Die Geiger stimmten ihre Instrumente nochmals nach.

»Nun, mein Schatz, bist du durch?« fragte Frau Wilberg ihre Cousine, als diese neben ihr Platz nahm.

»Gott sei Dank!« erwiderte Helene Rhenius. »Es ist das reine Spießrutenlaufen! Ich weiß gar nicht, weshalb mich alle so aufmerksam ansehen. Ich hab' doch gar nichts so Besonderes an mir!«

»Außer, daß du bildhübsch bist, natürlich nichts!« lachte Frau Anna. »Wieviel Tänze hast du denn dem Herrn Grafen bewilligt?«

»Gar keinen!« erwiderte Helene etwas schroff. »Aber er hat sich sechsmal aufgeschrieben!«

»Nur sechsmal! Ich war überzeugt, er würde gleich über die ganze Karte eine Klammer machen und erklären: ›Die Königin des Festes gehört mir ganz allein heut' abend,‹;« scherzte Frau Wilberg.

»Du bist schlecht, Anna!« entgegnete ihre Cousine und machte ein erzürntes Gesicht ...

Da kam Graf Wallwitz mit ihrer Tanzkarte heran.

»Ich bin Sieger geblieben, gnädiges Fräulein!« rief er triumphierend. »Auf die Gefahr hin, mich mit einigen meiner Kameraden duellieren zu müssen. – Sind Sie mir böse, Helene, daß ich so unbescheiden war?« setzte er leiser hinzu.

»Bitte, geben Sie mir meine Karte!« erwiderte Helene statt einer Antwort und schien dann das Blättchen eifrig zu studieren, ohne sich um den vor ihr Stehenden zu kümmern.

Eine lebhafte Bewegung, welche durch den ganzen Saal ging, das Rücken und Scharren von Stühlen ließ sie aufblicken. Seine Exzellenz, der Stationschef nebst Gemahlin war eingetreten, und während die Herren sich verbeugten, machten die Damen ihre Knixe. Huldvoll nach allen Seiten hin grüßend, nickend und winkend, schritt Ihre Exzellenz durch den Saal, an dessen einer Schmalseite sie sich niederließ. Im selben Augenblick setzte die Musik mit den ersten Takten des Straußschen »Wiener-Blut«-Walzers ein und die Paare flogen über das glänzende Parkett dahin, allen voran Graf Wallwitz mit Helene Rhenius.

Fünf- oder sechsmal hatte das Paar schon den Saal durchmessen, da bat Helene: »Lassen Sie uns einen Augenblick aufhören!«

Sie zitterte und bebte am ganzen Körper, denn, wenn der Graf auch nur ein einziges Wort gesprochen hätte, so verriet ihr doch der tiefe, leidenschaftliche Klang, mit dem er ihren Namen nannte, alles, was jenen bewegte, und seine eigene Erregung teilte sich ihr mit.

»Gnädiges Fräulein! – Sie gestatten, Wallwitz!«

Leutnant von Steinau machte eine kurze Verbeugung und führte Helene im Tanz davon! Und kaum hatte er sie auf ihren Platz zurückgeführt, erscholl es schon von zwei, drei Seiten: »Gnädiges Fräulein! – Sie gestatten, Wallwitz!« Am Arm eines neuen Tänzers, flog sie davon; ein Dritter, Vierter, Fünfter folgte, und um nicht unhöflich zu erscheinen, mußte Graf Wallwitz jedesmal erwidern: »Bitte sehr!«

Innerlich war er wütend! Das sah ja gerade wie eine Verabredung aus! »Gnädiges Fräulein! – Sie gestatten, Wallwitz,« sagte Nummer Sechs! »Bedauere!« entgegnete der Graf kalt, umfaßte Helene Rhenius und stürmte geradezu mit ihr dahin. Erst beim letzten Geigenstrich hörte er auf und führte seine Partnerin an ihren Platz neben Frau Willberg zurück, worauf er sich mit einem vielsagenden »Bis nachher!« empfahl.

Tanz folgte auf Tanz, und in den Zwischenpausen eilten die Ordonnanzen mit Erfrischungen umher. Unter allen Damen war Helene Rhenius unzweifelhaft die begehrteste Tänzerin, und als Graf Wallwitz den vierten Rundtanz wieder mit ihr eröffnete, setzte sich Ihre Exzellenz zu Frau Willberg und äußerte, mit dem Fächer auf das Paar deutend: »Da kann man wohl bald gratulieren, meine liebe Frau Willberg! Unser guter Graf scheint sich ja sehr ernstlich um Ihre hübsche Cousine zu bemühen!«

»Ich weiß wirklich nicht, Exzellenz!« stotterte Frau Anna.

»Nun, es sollte mich aufrichtig freuen!« sprach die Exzellenz weiter. »Hat sie Vermögen?«

»Nicht einen Pfennig!« platzte Frau Willberg heraus.

»Um so besser!« versetzte die hohe Dame. »Dann weiß sie wenigstens, daß es von seiner Seite nur Neigung ist, wenn er sie heiratet. Und sie würde ja eine entzückende Gräfin abgeben. Diese Figur, die Haltung, das feine Benehmen! Wirklich, es würde mich aufrichtig freuen, wenn wir sie in unseren Kreis aufnehmen könnten.« Dann erhob sie sich, nickte noch einmal wohlwollend und beehrte eine andere Dame mit einer Anrede.

* * *

Während in den weiten Räumen des Kasinos sich die glänzende Gesellschaft nach Herzenslust amüsierte, scherzte und lachte, schnob draußen über die Jade der Nordsturm und jagte ganze Wolken stiebenden Schnees über den großen Dampfer hin, der unangefochten vom Wind und Seegang mit ruhiger Stetigkeit unter der sicheren Führung der Lotsen seinen Weg fortsetzte. Auf den von elektrischem Licht blendend hell erleuchteten Molen aber hantierte trotz des Schneetreibens eine Anzahl Arbeiter mit Leinen und bereitete die schweren eisernen Schleusentore zum Öffnen vor, sobald der schon von der Außenreede signalisierte Dampfer nahe genug herangekommen sein würde, um einlaufen zu können.

Da tauchten die farbigen Positionslichter draußen auf! Näher und näher heran schob sich eine gewaltige Masse! Ein heulender Ton der Dampfpfeife scholl herüber, und leise schwankend glitt der mächtige Bau um die Mole herum. Einige kurze Kommandos wurden hörbar. Dazwischen das helle Läuten des Maschinentelegraphen. Ein paar Leinen sausten von kräftiger Hand geschleudert, von Land zum Schiff hinüber! »Hol ein!« Wie graue Riesenschlangen krochen die schweren Trossen hinterher, strafften sich, knisternd und knackend. Ein kurzes heftiges Rauschen der rückwärts schlagenden Schraubenflügel! »Stopp die Maschine!« erscholl vom Land der Befehl! »Schleusentore schließen!« Und wie die Flügel eines riesigen Nachtfalters klappten die mächtigen Tore langsam gegeneinander! Der Dampfer lag gesichert in der Schleuse! »Gott sei Dank, daß sie uns noch hereingelassen haben!« sagte Korvettenkapitän Heinrich zu Hans von Bernitz. »Die Nacht über draußen wäre sehr ungemütlich gewesen.«

»Guten Abend, meine Herren!« erscholl von der Tür her eine Stimme, und eine über und über mit Schnee bedeckte Gestalt trat in den Rauchsalon des Dampfers.

»Hallo! Hassel, das war nett von Ihnen, daß wir rein konnten! Guten Abend, alter Kerl!« rief Kapitän Heinrich und schüttelte dem Hafenkapitän die Hand. »Wie geht es denn und wie sieht's aus im Dorf?«

Kapitän von Hassel mußte sich aber erst durch die ganze Reihe der zum Ablösungstransport gehörigen Offiziere, die die »Marcomannia« nebst den Mannschaften der Ost- und Westafrikanischen Station nach Hause gebracht hatte, hindurchschütteln, bevor er antworten konnte.

»Das war auch knapp genug!« erwiderte er endlich. »Vor einer Stunde kam erst die Depesche von Wangeroog, weil die Leitung gestört war, und ich bin direkt vom Kasino in full wat paint hergelaufen! Da hat außer dem Stationschef kein Mensch eine Ahnung davon! Ich sollte nichts sagen, meinte Exzellenz, aber Sie sollten gleich alle nach dem Einlaufen hinkommen. Er freut sich schon mächtig auf die Überraschung!«

»Was ist denn da los? Wir haben ja gar keinen Schimmer!« riefen die Kameraden.

»Na, heut' ist doch großer Kasinoball!« versetzte Kapitän von Hassel, als ob es ganz selbstverständlich wäre.

»Ja, Menschenskind, das müssen Sie doch sagen!« rief Kapitän Heinrich. »Wir kommen doch von See und haben seit vier Wochen keine Post gehabt. Sie sind wirklich ein gottvoller Kerl.«

»Na, das schadet nicht,« entgegnete der Hafenkapitän. »Jedenfalls sollen Sie hinkommen und melden können Sie sich morgen! Machen Sie nur rasch! Ich muß auch gleich wieder hin, sonst hat meine Dame keinen Herrn zu Tisch!«

»Erst ein Glas Sekt! Steward, rasch! Sekt! Gläser!« rief Heinrich und fragte dann:

»Nun, meine Herren, wer von Ihnen hat Lust, heute abend noch das Tanzbein zu schwingen?«

Nach einigem Hin und Her erklärten sich alle bereit! Kapitän von Hassel versprach, einige Wagen zu bestellen, und nachdem er hastig ein Glas Sekt getrunken, stiefelte er mit seinen langen Beinen davon.

* * *

Im Kasino hatte inzwischen der Ball seinen Fortgang genommen, aber die Pausen zwischen den einzelnen Tänzen erschienen allen Beteiligten ungebührlich lang.

»Ich werde die Kerls mal etwas aufmuntern,« sagte Graf Wallwitz zu Frau Wilberg und Helene Rhenius und ging an die Musikecke.

Als er zurückkehrte, sah er zu seiner Freude, daß das junge Mädchen allein in der Fensternische stand. Ein rascher Blick zeigte ihm, daß der Saal fast leer war.

»Jetzt oder nie!« dachte er und trat auf Helene zu, die in Gedanken verloren durch die Scheiben in das Schneetreiben hinausgesehen hatte.

»Helene!« begann er leise und zärtlich. »Bitte, hören Sie mich an!« fuhr er schnell fort, als er ihr erschrecktes Gesicht sah. »Sie wissen es doch schon lange, daß ich Sie von ganzem Herzen liebe! Wollen Sie mir Ihre Hand geben? Für immer?«

Ein heftiges Zittern durchflog die schlanke Gestalt bei diesen Worten und die großen blauen Augen irrten wie hilflos umher.

»Vergeben Sie mir, wenn ich Sie erschreckt habe,« sprach Graf Wallwitz weiter. »Aber ich habe Sie ja den ganzen Abend noch keine Minute allein sprechen können, und wenn ich zu Wilbergs komme, weichen Sie mir jedesmal aus! Haben Sie mich gar nicht ein bißchen lieb? Sehen Sie mich doch einmal an und sprechen Sie ein Wort.«

Als Helene Rhenius noch immer schwieg, redete er hastig weiter.

»Kehren Sie sich nicht an das, was man Ihnen vielleicht von mir erzählt hat, ich weiß, man nennt mich Graf Schmetterling,« versuchte er zu scherzen, obgleich seine Stimme bebte. »Aber, mein Wort, das ist vorbei für immer. Und ich denke, auf das Wort eines deutschen Seeoffiziers können Sie sich verlassen,« setzte er mit festem Ton hinzu.

»Herr Graf, ich bin ein ganz, ganz armes Mädchen, vater- und mutterlos! und –«

»Drum will ich Ihnen Vater und Mutter ersetzen!« rief der Graf zärtlich, »und wenn Sie nichts besitzen, um so besser! Ich habe für uns beide mehr als genug! O, sagen Sie ja, Helene, ich habe Sie doch so von Herzen lieb!«

Er faßte nach ihrer schlaff herniederhängenden Rechten, die sie ihm vergebens zu entziehen suchte, während eine helle Röte ihr Gesicht färbte.

Da wurde es draußen auf dem Korridor und in den Nebensälen lebendig. Laute, freudige Rufe erklangen. »In den Saal! In den Saal!« Im Nu war derselbe gefüllt. Die Musik intonierte den Einzugsmarsch der Gäste auf der Wartburg, und unter Führung von Kapitän Heinrich traten die soeben nach zweijähriger Abwesenheit zurückgekehrten Offiziere herein.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Helene Rhenius nach der Tür. Leichenblässe überzog ihr Gesicht, die in der nächsten Sekunde einem flammenden Rot wich.

»Hans!« Der ganze Jubel, die volle Seligkeit eines angstbefreiten, liebenden, glückseligen Herzens klang aus dem Ruf hervor, und als Graf Wallwitz, der sich überrascht umgewendet hatte, um die Ursache des freudigen Lärmes zu entdecken, der ihm höchst ungelegen kam, Helenen ins Gesicht sah, da wußte er, daß er verloren hatte. Rasch beugte er sich über die kühle, weiße Hand, welche in unbewußtem Druck seine Rechte umklammert hielt und drückte einen Kuß darauf. Dann richtete er sich empor und sagte mit fester, wenn auch etwas schwerfällig klingender Stimme hastig: »Leben Sie wohl, Helene und – vergessen Sie diese Minute.«

Noch eine tiefe Verbeugung und er mischte sich in den Kreis, welcher die so unerwartet Erschienenen umringte.

Es dauerte eine Weile, ehe sich die allgemeine Aufregung legte, und Helene Rhenius hatte Zeit, ihrer furchtbaren Erregung Herr zu werden. Aber sie vermochte sich nicht zu regen, sondern stand wie gebannt in der Fensternische. Nur ihre Augen folgten Hans von Bernitz, wie er grüßend von einem zum anderen schritt. Da, jetzt hatte er Anna Wilberg erreicht und begrüßte sie herzlich. Nun reckte er sich hoch auf und suchend flogen seine Blicke durch den Saal. Sie sah, wie seine Brust sich in tiefem Atemzug dehnte und er sich Gewalt antat, um ruhig zu bleiben. Dann einige hastige Schritte. Fast rücksichtslos schob er die Umstehenden beiseite und stand vor ihr. Langsam streckte sie ihm die Hand entgegen.

»Guten Abend, Helene!« Seine Stimme klang heiser und gepreßt, als ob sie sich nur mühsam aus der Kehle hervorringe.

»Guten Abend, Hans!« Das klang so kühl und gemessen, als ob sie sich täglich gesehen und erst heute nachmittag für das Wiedersehen auf dem Ball verabredet hätten.

»Hast du mir sonst gar nichts zu sagen?« fragte Hans.

»Ich freue mich, daß du wieder hier bist!«

»Na, mein alter Hans, das war doch noch eine Überraschung!« rief Kapitänleutnant Wilberg dazwischen, der mit seiner Frau herantrat. »Das habt Ihr ja brillant gemacht! Und der Tommy, der alte Kunde, Schlauberger, wie er ist, sagt kein Wort davon, sondern läßt Euch plötzlich antreten. Ich fiel ja beinahe vom Stengel, als ich Euch sah! Und hier Helene, die hättest du auch nicht erwartet heut' abend, he? Du, wir sitzen natürlich zusammen bei Tisch, und du führst Helene selbstverständlich! Oder bist du schon versagt, Helene? Dumme Frage!« unterbrach er sich. »An Wallwitz natürlich! Aber den wimmle ich ab! Verwandtschaft geht vor! Noch dazu so 'n Kerl wie Hans! Zeig' mal, wie du eigentlich aussiehst mit all deinen Orden und Ehrenzeichen! Famos, was? Da, schon bläst es zum Essen! Und hier ist auch der Graf Egon von, auf und zu Wallwitz! Lieber Egon, zum Souper müssen Sie schon zurücktreten als Tischherr, unbeschadet Ihrer späteren Rechte!«

»Ich kam in der Absicht, Ihnen, lieber Bernitz, meine Stelle als Tischherr abzutreten!« antwortete der Graf. »Natürlich nur, wenn Ihr Fräulein Cousine damit einverstanden ist.«

»Auf keinen Fall!« rief Hans von Bernitz. »Komm', Anna, du gehst ja doch wahrscheinlich immer noch mit deinem Manne, und dafür muß er heute abend büßen, indem er allein geht und dich mir überläßt.« Ohne sich um die anderen zu kümmern, führte er Frau Wilberg in den Nebensaal an eines der zahlreichen kleinen Tischchen, welche dort aufgestellt waren, und schleppte dann eilfertig von dem riesigen Büfett alle möglichen Delikatessen herbei, bis Frau Anna lachend rief: »Genug, Hans! Du denkst wohl, ich komme auch eben erst von See! Komm', Helene, du mußt mir helfen, sonst kann ich nachher keinen Schritt mehr tanzen,« ermunterte sie ihre Cousine, die sich, von Graf Wallwitz geführt, mit an den Tisch gesetzt hatte.

Helene Rhenius nahm auch zum Schein einiges von den Speisen auf ihren Teller, aber sie rührte sie kaum an, gab auch auf alle Fragen und Bemerkungen nur widerstrebend Antwort, dazu sah sie erschreckend blaß aus. Hans von Bernitz dagegen plauderte scheinbar ganz unbefangen mit Wilbergs und erzählte von seinen Reiseerlebnissen.

»Na, prost, lieber Hans! Sollst leben!« rief Wilberg. »Jetzt stoßen wir vier Schönen noch einmal besonders mit ihm an!« Er hob sein Glas. »Also auf dein Wohl und das deiner Zukünftigen!« Dazu lachte er selber laut auf, während Helene Rhenius einen leichten Schrei ausstieß. Sie hatte ihr Glas angestoßen und der schlanke Kelch war auf dem Teller zersplittert. Wilberg beorderte rasch ein neues Glas und schenkte wieder ein.

»Glück und Glas, wie leicht bricht das!« sprach Hans von Bernitz, als sein Glas an dasjenige Helenens anklang, doch ohne Zögern erwiderte sie: »Lieber Scherben eines zertrümmerten Glückes als ein ganzes Unglück.«

»Aber, Kinder, was redet Ihr da für dummes Zeug von Glück und Unglück und Scherben und sonst noch was! Wir freuen uns, daß du wieder bei uns bist, Hans, und wollen fidel sein. Eduard, schenk' ein, und du, Helene, mach' mal nicht solch Gesicht, als ob das bißchen Sektglas dein zertrümmertes Glück wäre. Gott sei Dank, das Kasino hat mehr davon,« rief Frau Wilberg.

Es gelang der munteren Frau auch, durch ihr Geplauder allmählich die Stimmung etwas zu verbessern, und schließlich fand sogar Helene Rhenius ihre Unbefangenheit so weit wieder, daß sie sich an dem Gespräch beteiligte und mit Hans von Bernitz lachte und scherzte. Es entging aber Wallwitz nicht, wie ganz anders ihr Auge aufleuchtete, sobald sie glaubte, jenen unbemerkt beobachten zu können. Ahnte der denn gar nicht, wie es um seine schöne Base stand und daß er nur die Hand nach ihr auszustrecken brauchte? Plötzlich wurde er stutzig.

»Nein, ich kann überhaupt nicht daran denken!« antwortete Hans auf eine neckende Frage Frau Annas. »Weder eine Ausländerin, noch eine hiesige. Erst muß mal mein Schwesterlein ganz sicher auf eigenen Füßen und geborgen dastehen, was mindestens noch zehn Jahre dauert, na, und dann werde ich ausrangiert.«

»Schade, Hans, du paßtest so gut zum Ehemann!« meinte Frau Anna dagegen. »Ich glaube sogar besser als der Graf.«

»Ach, gnädige Frau, was mich anbetrifft, so werde ich – –« Weiter kam Wallwitz nicht mit seiner Entgegnung, denn im selben Augenblick schlug der Stationschef an sein Glas und hieß die vom Ausland zurückgekehrten Kameraden in seiner bekannten launigen Weise in der Heimat willkommen. »Wünschen wir ihnen vor allen Dingen, daß sie nach den Stürmen da draußen jetzt den Frieden in einer eigenen Häuslichkeit finden mögen. Wer noch keine hat, muß sich bald eine anschaffen! Also, meine Damen! Jetzt liegt die Sache in Ihren schönen Augen und Händen! Bezaubern Sie die jungen Herren erst ein bißchen und dann halten Sie sie fest. Heute abend aber machen Sie ihnen die Heimat wieder so recht liebenswert, was ja keiner schwer fällt, und seien Sie recht freundlich gegen die armen Seefahrer. Daß ihnen auch späterhin immer wieder eine so glückliche Heimkehr beschieden sein möge, mit diesem Wunsch begrüßen wir sie und rufen: ›Unsere zurückgekehrten Kameraden, Hurra!‹«

Mit brausendem Tusch fiel die Musik in das Hurra ein und von allen Seiten strömten die Damen und Kameraden herbei. Als Helene Rhenius ihr Glas gegen Hans von Bernitz hob, lag noch ein leichter Hauch jenes warmen Glücksscheines auf ihren Zügen.

»Von ganzem Herzen willkommen daheim,« sprach sie laut. »Auf dein Wohl und das deiner Mutter!«

»Ich danke dir!« antwortete Hans. Frau Wilberg aber rief ganz entsetzt: »Eduard, du bist aber auch ein schrecklicher Mensch! Den ganzen Abend hast du noch nicht ein einziges Mal an Hans' Mutter gedacht! Also, lieber Hans, ich schließe mich Helene an!«

Das Gläserklingen und -klirren nahm fast kein Ende, und erst nach geraumer Zeit vermochte Kapitän Heinrich für den liebenswürdigen Empfang zu danken; dann lockte die Musik wieder zum Tanz.

»Na, kann ich's noch?« fragte Hans von Bernitz Frau Wilberg nach einigen Runden.

»Ja, ja!« lachte sie. »Der Walzerkönig hat seine Kunst noch nicht verlernt! Aber jetzt geh' schleunigst und engagiere Helene, denn sonst ist sie überhaupt nicht zu haben.«

Als Hans von Bernitz den Arm um Helenes Taille legte und mit ihr davonflog, überlief ein Schauer das junge Mädchen.

»Wenn, ach wenn er so vor dir stehen könnte, wie vorhin jener andere,« dachte sie, und unwillkürlich schlossen sich ihre Finger um seine Hand. Da geriet der Walzerkönig, wie Hans von allen Damen genannt wurde, zum erstenmal in seinem Leben aus dem Takt und fing an zu stolpern. Mit einem leise gemurmelten »Verzeih'« hörte er auf zu tanzen, zog ihren Arm in den seinen und führte sie seinem Kameraden wieder zu. Kaum aber war der Tischwalzer beendet, da eilte Helene auf Frau Wilberg zu und bat: »Laß mich nach Hause fahren! Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen!« In Wirklichkeit fühlte sie ihre Kraft trotz aller Selbstbeherrschung schwinden. Die heftige Erregung, in welche sie der Antrag des Grafen und das plötzliche Wiedersehen mit Hans versetzt hatte, zitterte in ihr nach, und trotz aller Bitten von Frau Anna bestand sie darauf, den Ball zu verlassen.

Zu Hause angelangt, erstieg sie mühsam die Treppe zu ihrem Zimmer, wo sie schluchzend auf ihrem Bett niedersank. Als Wilbergs einige Stunden später ebenfalls zurückkehrten, lag sie noch immer angekleidet da und starrte mit weit offenen Augen vor sich hin. Auf das Klopfen ihrer Base und die Frage nach ihrem Befinden gab sie keine Antwort.

* * *

Auf der »Markomannia« herrschte am nächsten Morgen ein reges Leben. Die abgesetzten Mannschaften wurden ihren Truppenteilen wieder überwiesen und verließen truppweise das Schiff.

»Kommen Sie mit auf die Station zur Meldung, Herr Kapitänleutnant?« fragte Leutnant Brehmer Hans von Bernitz, als alle von Bord waren.

»Ja!« entgegnete dieser. »Aber wir wollen über die Post gehen. Ich möchte meiner Mutter telegraphieren, daß ich morgen früh ankomme.«

Er erhob sich und schickte sich an, mit dem jungen Kameraden den Rauchsalon des Dampfers zu verlassen.

»Entschuldigen Sie, meine Herren, wo treffe ich den Herrn Kapitänleutnant von Bernitz?« sprach im selben Augenblick ein Herr in Zivil, der in Begleitung eines älteren Mannes den Raum betreten hatte.

»Mein Name ist von Bernitz!« entgegnete Hans.

»Hildebrandt, Justizrat und Notar!« stellte sich der Fremde vor. »Hier,« er wies auf seinen Begleiter, »Herr Heinemann, Prokurist der Firma Gillmeister in Bremen! Kann ich Sie in einer wichtigen und dringenden Angelegenheit sofort für einige Zeit ungestört sprechen, Herr von Bernitz?«

»Hier an Bord wird das kaum möglich sein, Herr Justizrat,« antwortete Hans. »Der Dampfer verläßt in einer Stunde den Hafen und da –«

»Dann vielleicht in meinem Hotel,« schlug der andere vor. »Es handelt sich, wie gesagt, um eine sehr wichtige und dringende Sache, welche Sie selber betrifft, und mein Auftrag lautet auf unverzügliche Erledigung sofort nach Ihrem Eintreffen.«

»Meinetwegen!« erwiderte Hans von Bernitz, der sich durchaus nicht denken konnte, was das bedeuten sollte, und sich das feierliche Wesen des Justizrats nicht zu erklären vermochte. »Lieber Brehmer, Sie entschuldigen! Ich komme dann später nach und wir treffen uns im Kasino!«

»Bitte, Herr Justizrat!«

Er verließ mit den beiden Herren das Schiff und sie schlugen den Weg zum Hotel ein.

»Wollen Sie mir nicht sagen, um was es sich handelt?« fragte Hans, nachdem sie eine kurze Strecke schweigend zurückgelegt hatten.

»Sowie wir in meinem Zimmer sind, Herr Kapitänleutnant!« entgegnete der Justizrat, seine Schritte beschleunigend, und nach wenigen Minuten saßen die drei um einen Tisch, nachdem Heinemann vorsichtig die Tür verschlossen hatte.

Justizrat Hildebrandt öffnete eine Aktenmappe, entnahm derselben mehrere Schriftstücke, faltete eines derselben auseinander und blickte einen Augenblick prüfend hinein. Dann räusperte er sich und begann: »Herr Kapitänleutnant, ich habe Sie mit dem letzten Willen des am 14. April 1901 in Bremen nach kurzem Krankheitslager verstorbenen Reeders und Senators, Herrn Eduard Gillmeister, bekannt zu machen und Ihre Zustimmung zu demselben einzuholen. Das gesetzlich vollzogene und gültige Schriftstück lautet folgendermaßen: ›Ich, Endesunterzeichneter, bestimme hiermit aus freien Stücken und als meinen unanfechtbaren letzten Willen wie folgt: Meine Reederei nebst allem dazugehörigen Inventar sowie das zur Aufrechterhaltung des Betriebes verfügbare Kapital im Werte von rund ein und einer halben Million Mark geht nach meinem Tode in den alleinigen Besitz meines Lebensretters, des Kapitänleutnants in der Kaiserlich Deutschen Marine, Herrn Hans von Bernitz, über, unter der Bedingung, daß derselbe aus dem Dienst in der Kaiserlichen Marine austritt, die Leitung und den Betrieb der Reederei nach Möglichkeit in vollem Umfang aufrecht erhält, ohne zwingenden Grund keinen meiner langjährigen Angestellten entläßt, insonderheit gilt dies für meinen Buchhalter und Prokuristen Friedrich Heinemann, der nur auf eigenen Wunsch entlassen werden soll, und daß der Kapitänleutnant Hans von Bernitz sich verpflichtet, meinen Namen dem seinigen anzufügen‹.«

Hier machte der Justizrat eine Pause und sah Hans an.

Blaß, keines Wortes mächtig, saß dieser da, die Hände um den Säbelgriff geklammert.

»Ist – das – steht das – wirklich – da?« fragte er endlich mit heiserer Stimme, der er vergeblich einige Festigkeit zu geben versuchte.

Herr Heinemann nickte lebhaft mit dem Kopf, während der Justizrat antwortete:

»Wörtlich so, wie ich es Ihnen vorgelesen habe. Soll ich fortfahren?«

»Bitte!« stieß Hans hervor.

Justizrat Hildebrandt fing wieder an zu lesen, aber Hans von Bernitz hatte die Empfindung, als ob die Worte hohl klängen und wie aus weiter, weiter Ferne an sein Ohr schlügen. Er war wie betäubt.

Plötzlich fuhr er zusammen, als er wieder seinen Namen ausgesprochen hörte, und bemühte sich, schärfer aufzupassen.

»Sollte wider mein Erwarten Herr Kapitänleutnant Hans von Bernitz die ihm zugedachte Erbschaft aus irgendeinem Grunde nicht annehmen wollen oder können, so ist meine Reederei aufzulösen und der Gesamterlös nebst dem vorhandenen Bargelde den nachstehend näher bezeichneten Stiftungen zu überweisen.«

Es folgte eine Reihe von Bestimmungen, von denen Hans kaum ein Wort vernahm, bis endlich der Justizrat mit erhobener Stimme den Namen des Erblassers sowie der Zeugen verlas.

Eine minutenlange Pause trat ein.

»Nun, Herr Kapitänleutnant, wie entscheiden Sie sich?« unterbrach letzterer das Schweigen.

Hans von Bernitz sprang auf, trat, ohne zu antworten, an das Fenster und blickte hinaus auf die Straße. Mehrere seiner Kameraden gingen heiter plaudernd und lachend vorüber. Vor seinem geistigen Auge stieg seine Zukunft in der Marine, eine glänzende Laufbahn, auf. Er hörte sich, wie er den Eid der Treue schwor, fest zu stehen für Kaiser und Reich, wo immer es sei. Er hörte das Rauschen der Flagge, die sein Heiligtum war, die zu schützen, für die zu sterben er gelobt hatte! Das alles sollte in den Wind gesprochen gewesen sein, um schnöden Geldes willen? Wie ein Treuloser, ein Fahnenflüchtiger kam er sich vor, der sein Wort, seine Ehre zu verkaufen im Begriff steht! – Nie und nimmermehr!

Mit schroffer Bewegung wandte er sich um und sagte hart und laut: »Ich lehne die Erbschaft ab!«

Der Justizrat und der Prokurist sprangen von ihren Stühlen auf.

»Unmöglich!« rief der erstere. »Überlegen Sie doch, bitte –«

»Ich brauche nicht mehr zu überlegen! Ich bin vollständig im klaren damit,« entgegnete Hans, und in immer mehr sich überstürzender Rede setzte er den beiden Herren seine Gründe auseinander.

»Und dann noch eins!« rief er zum Schluß. »Selbst wenn das alles nicht wäre – für ein bißchen Nachspringen eine Erbschaft von mehr als zwei Millionen annehmen! Nein, meine Herren! Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich – lehne ab.«

Ohne ein Wort der Unterbrechung hatten die beiden Herren ihn aussprechen lassen, doch nun hob Heinemann den Kopf und begann langsam und eindringlich: »Herr Kapitänleutnant, wollen Sie einem alten Mann einige Worte erlauben? Was Sie gesagt haben, haben Sie ausgesprochen in dem Gedanken, daß Sie Offizier sind und bleiben müssen, weil Sie es einmal geworden sind. Sie werden es gewiß bis zum Admiral bringen, wenn Sie dienstfähig bleiben, aber – es kann auch anders kommen.«

»Das liegt in meinem Beruf, und damit kann ich nicht rechnen!« rief Hans.

»Gewiß nicht, Herr Kapitänleutnant,« fuhr Heinemann fort. »Wir stehen alle in Gottes Hand! Aber ich meine, das, was Herr Gillmeister, Gott hab' ihn selig, Ihnen zugedacht hat, ist nicht nur der Dank dafür, daß Sie ihm zufällig das Leben gerettet haben. Unsere Reederei besteht seit fünfzig Jahren, und ich hab' sie mit Herrn Gillmeister zusammen hochgebracht. Es war oft ein tüchtiges Stück Arbeit, durchzukommen, aber es ist gegangen, und die Leute, die bei der Reederei Gillmeister in Dienst sind, hingen an der Firma. Da ist keiner, der nicht weiß, daß nach Kräften für ihn gesorgt wird, wenn er nicht mehr so recht mittun kann. Herr Gillmeister selig war geliebt wie ein Vater von allen, und wie ein Vater hat er für sie geschafft und sich um sie gekümmert. Das wollte er aufrecht erhalten haben, und darum hat er Sie zum Erben eingesetzt. – ›Hans von Bernitz wird mein Erbe, und ich weiß ganz gewiß, daß er in meinem Sinne weiterarbeiten wird.‹ So hat Herr Gillmeister noch kurz vor seinem Ende zu mir gesprochen, und nun denken Sie mal daran, daß es doch auch eine schöne Aufgabe für einen Mann ist, so weiter zu arbeiten. Leicht ist es gewiß nicht, was Sie da übernehmen sollen, Herr, im Gegenteil. Bis in die späte Nacht haben wir oft zusammengesessen und gerechnet, wenn ein neues Schiff gekauft oder gebaut werden sollte, ob's ging oder nicht. Der Pfennig wurde geachtet wie die Krone. So hat Herr Gillmeister es vorwärts gebracht. Hunderte von Seeleuten und Arbeitern finden bei uns ihr Brot, und als Herr Gillmeister gestorben war, sind die Leute gekommen und haben voll Angst gefragt, was nun aus ihnen werden sollte. Ob sie sich anderswo Unterkunft suchen müßten. Gott sei Dank konnte ich ihnen sagen, ›vorläufig nicht! Es bleibt alles beim alten!‹ Und jetzt? – Herr, wenn Sie ablehnen, wirklich ablehnen, dann – ja, dann wird die Firma Gillmeister im Handelsregister gelöscht! Das ist leicht gemacht, aber was aus unseren Leuten wird, das mag der liebe Gott wissen!«

»Herr Kapitänleutnant!« ergriff der Justizrat das Wort. »Was Herr Heinemann von Herrn Gillmeister gesprochen hat, kann ich in vollem Umfang bestätigen, besonders, soweit es Sie selber betrifft! ›Er soll nicht denken, daß ich ihm nur für die Lebensrettung damit danken will,‹ hat er mir ausdrücklich versichert. ›Die hätte ein anderer ebensogut ausführen können. Er soll mein Lebenswerk weiterführen, denn er ist der Mann dazu, wenn er es übernimmt.‹ Und daß Sie im Kriegsfall selbst noch wieder in die Marine eintreten, ist doch nicht ausgeschlossen!«

»Aber ganz und gar, Herr Justizrat!« rief Hans, der bisher schweigend zugehört hatte. »Wer einmal raus ist aus dem aktiven Dienst, kommt nie wieder hinein! Und ich bin Offizier mit Leib und Seele! Meine Untergebenen und mich selbst erziehen und weiterbilden für den Ernstfall, das ist mein Beruf, und den – kann ich nicht lassen!«

»Und haben Sie es in dem neuen, Ihnen gebotenen Beruf nicht ebensogut in der Hand, für tüchtige Seeleute zu sorgen, die dem Vaterlande in der Marine dienen sollen?« entgegnete Justizrat Hildebrandt lebhaft.

»Das will ich gerne glauben!« erwiderte Hans, der seiner widerstreitenden Gefühle nicht Herr zu werden vermochte. »Aber – ich muß es noch mal wiederholen, es ist zu viel! Über – zwei – Millionen!«

»Die bekommen Sie aber doch nicht nur geschenkt!« warf Heinemann ein. »Sehen Sie, Herr Kapitänleutnant, wenn mein seliger Chef Ihnen einfach zwei Millionen vermacht hätte, nur, weil Sie ihn aus dem Wasser zogen, dann würde ich auch sagen, das ist zuviel, nehmen Sie mir's nicht übel! Aber so sollen Sie arbeiten dafür, und zwar tüchtig, in einer ehrenhaften, gesicherten Stellung!«

Hans von Bernitz ging erregt im Zimmer auf und ab. Diese Seite seiner neuen Stellung hatte er gar nicht in Betracht gezogen, sondern in der Erbschaft nur die Belohnung für sein Nachspringen gesehen. Was sollte er tun? Sein stark ausgeprägtes Empfinden als Offizier und Kamerad ließ ihm die Sache in minder hellem Licht erscheinen. Aber die Worte des alten Heinemann hatten doch einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Selbständiger Leiter eines großen Unternehmens, mitarbeitend an dem Wohl vieler Hunderter und für sie sorgend, berufen, an der Lösung der sozialen Frage mitzuwirken, geehrt, geachtet im Kreise seiner Mitbürger, das von einem anderen begonnene Werk weiterführend, vielleicht zu glanzvoller Höhe, um es dereinst seinen Kindern –

Ein jähes Rot färbte ihm Stirn und Wangen! – Helene!? – Was wird sie dazu sagen? Wenn er die Erbschaft annahm, war er mit einem Schlage ein reicher Mann und konnte ihr seine Liebe gestehen!

Doch ebenso rasch, wie ihm der Gedanke gekommen war, verwarf er ihn wieder. Von eines Mädchens Denken und Willen durfte seine Entscheidung nicht abhänge ... Er wandte sich zu den beiden ihn gespannt beobachtenden Herren und sagte: »He Justizrat, wollen Sie mir das Testament für kurze Zeit anvertrauen? Es ist das rasch über mich hereingebrochen, daß ich mir die endgültige Entscheidung noch vorbehalten muß! Ihre Ausführungen haben mir die ganze Angelegenheit in einem neuen Licht gezeigt, das will ich gern zugeben! Aber daß ich einen derartigen Schritt nicht ohne reifliche Überlegung tue, wird Ihnen begreiflich sein! In einigen Stunden wollen Sie mich bitte hier wieder erwarten!«

Er steckte das Schreiben in die Tasche und begab sich auf die Station. Der Stationschef, auf dessen Wohlwollen und Rat er bauen konnte, sollte ihm helfen. Nachdem er kurz seine dienstliche Meldung erstattet hatte, sprach er mit etwas zögernder Stimme: »Euer Exzellenz bitte ich gehorsamst, mir in einer Privatangelegenheit einen Rat geben zu wollen!«

»Na, was haben Sie denn, Bernitz?« fragte der Chef. »Sie sehen ja so feierlich aus!«

»Exzellenz, es handelt sich für mich um Abschied oder Bleiben in der Marine!« entgegnete Hans und zog das Testament heraus: »Ich bitte, dieses Schreiben durchzulesen!«

Während der Stationschef las, bemühte sich Hans von Bernitz vergeblich, aus seinem Gesichtsausdruck etwas herauszufinden, was seine Meinung verriet, und die Minuten wurden ihm zu Ewigkeiten.

Endlich hatte der hohe Herr die Lektüre beendet, wandte sich um und fragte kurz: »Wie denken Sie selbst darüber?«

»Ich habe abgelehnt, Exzellenz!« antwortete Hans.

»Endgültig?«

»Nein! Ich wollte erst um Euer Exzellenz Ansicht bitten!«

»Nun, wenn ich Ihnen einen Rat geben soll, so nehmen Sie an!« erwiderte der Stationschef. »Wäre Ihnen nur Geld vermacht, würde ich Ihnen die Annahme abraten, aber hier wird Ihnen eine Stellung geboten, die ihren Lohn bringt, aber auch ihre Arbeit verlangt! So leid es mir persönlich und auch den übrigen Kameraden tun wird, einen tüchtigen, aufstrebenden Offizier zu verlieren, so bietet sich Ihnen hier doch jedenfalls Gelegenheit, am Ganzen mitzuwirken, mehr vielleicht, als wenn Sie aktiv bleiben! Wäre ich an Ihrer Stelle, würde ich unbedingt ja sagen! Wie ist denn das gekommen?«

Hans erzählte seinem Vorgesetzten alle näheren Umstände, auch die Unterredung, die er im Hotel gehabt hatte, und führte die Gründe an, die ihn zur Ablehnung bestimmten.

»Das verstehe ich vollkommen, lieber Bernitz!« sprach der Chef. »Aber so wie Sie die Dinge ansehen, ist es nicht! Ein rechter Mann auf dem rechten Posten ist überall von Nutzen, und daß Sie Ihre neue Stellung ausfüllen werden, davon bin ich überzeugt. Ich freue mich aufrichtig für Sie! Ihre bezüglichen Gesuche müssen natürlich den Instanzenweg. gehen!«

Er reichte Hans die Hand und entließ ihn mit freundlichem Gruße.

Als Hans auf dem Korridor stand, fuhr er sich hastig mit dem Taschentuch über die Augen. Das Glück überwältigte ihn fast. Dann stürmte er hinaus und lief mehr, als er ging, die Adalbertstraße hinab zu Wilbergs Haus.

»Helene,« war sein einziger Gedanke.

»Onkel Hans, wo kommst du her?« empfing ihn Wilbergs kleine zehnjährige Tochter Elisabeth, die ihm auf sein Klingeln geöffnet hatte. »Mama ist nicht zu Hause und Tante Helene auch nicht! Die sind mit Papa nach den Molen gegangen, berichtete sie auf die hastige Frage. »Dann werde ich hier warten!« erklärte Hans und ging in das ihm wohlbekannte Wohnzimmer. »Und du kannst mir so lange Gesellschaft leisten, nicht wahr?«

Er fing an, mit dem Kind zu plaudern und wollte ihm von seiner Reise erzählen, aber die kleine Elisabeth unterbrach ihn bald mit den Worten: »Das weiß ich alles schon, Onkel Hans! Das habe ich alles schon gelesen.«

»Hoho!« rief Hans. »Liest das kleine Fräulein etwa schon Zeitungen?«

»Nein, aber es stand in einem Buch!« versetzte das Mädel und sah ihn altklug an.

»In einem Buch? In was für einem Buch?« forschte Hans.

»Das sag' ich nicht! Etsch, etsch! Das sag' ich nicht!« lachte der Kobold auf und sprang im Zimmer umher.

»Komm' mal her!« lockte Hans sie heran. »Wenn du hübsch artig bist und mir es sagst, hab' ich dir auch etwas Schönes mitgebracht.«

»Nein, das sag' ich nicht! Nein, das sag' ich nicht!« wiederholte der Wildfang.

»Warte mal, ich werde raten,« versuchte Hans nun, ihr das Geheimnis zu entlocken. »Bei Papa.«

»Hihihi!« kicherte Elisabeth.

»Nicht, also bei Mama!«

»Hihihi!« erscholl es wieder als Antwort.

»Auch nicht! Wart', jetzt hab' ich's! Bei Elisabeth Wilberg!« Nun kannte die Fröhlichkeit des Mädels aber gar keine Grenzen mehr. Sie lachte laut auf und prustete wie eine junge Katze.

»Ja, dann weiß ich es nicht!« meinte Hans, eine nachdenkliche Miene aufsetzend. »Sonst ist doch niemand hier.«

»Etsch! Es ist doch noch jemand hier!« widersprach der kleine Quälgeist.

»So, wer denn?« fragte Hans, scheinbar unwissend.

»Etsch, Onkel Hans, du weißt es doch! Tante Helene! Tante Helene!« jubelte Elisabeth.

Mit raschem Griff erfaßte Hans den Wildfang und zog ihn heran.

»Also bei Tante Helene! Und was war das für ein Buch?«

»Au, Onkel Hans, du tust mir ja weh!« schmollte die Kleine ungnädig und verzog den Mund.

Aber Hans von Bernitz hielt sie fest. Er mußte um jeden Preis wissen, was für eine Bewandtnis es mit dem Buch hatte, und so sagte er streng: »Dann werde ich also Tante Helene und Mama erzählen, daß du in ihrem Zimmer gewesen bist.«

»Nein, nein, Onkel Hans, bitte, bitte nicht!« bettelte nun aber das Mädchen. »Ich habe es nur einmal gesehen. Da lag es offen auf dem Tisch und da stand alles drin, wo du gewesen bist, und Tante hatte es aus der Zeitung ausgeschnitten und aufgeklebt, und auf der anderen Seite stand –«

»Na, was denn?«

»Das habe ich nur einmal gesehen, da hatte Tante Helene geschrieben – – hihihi!« kicherte sie von neuem los.

»Nun, was hatte sie geschrieben?« drängte Hans.

»Du darfst es aber nicht wieder sagen, Onkel Hans! Sonst sage ich es dir nicht!« versicherte sich Elisabeth erst seines Schweigens.

»Nein, gewiß nicht, also was stand da?«

»Ich will es dir ins Ohr sagen!« flüsterte die Kleine. »Komm' her! – Nein so! da stand ... hihihi! ... da stand ... mein geliebter Hans!« Mit einem Ruck riß sie sich los und lief laut lachend aus der Tür. Gleich darauf hörte Hans sie draußen rufen: »Mama, Tante Helene, Onkel Hans ist da! Er wartet schon auf euch!«

Dann Helenes Stimme: »Ich komme gleich wieder herunter!« Die Tür ging auf, und Frau Wilberg trat ein.

»Das ist lieb von dir, Hans, daß du gleich gekommen bist!« rief sie nach der ersten Begrüßung. »Wir wollten dich abholen, kamen aber zu spät. Hast du lange gewartet?«

»Elisabeth hat mich unterhalten!« entgegnete Hans. »Wie geht es Helene? Ist euch der Ball gut bekommen?«

Hin und her ging Rede und Antwort, doch unaufhörlich blickte Hans nach der Tür und horchte auf einen leichten Schritt draußen.

Endlich!

Mit Aufbietung aller Selbstbeherrschung ging er der Eintretenden entgegen, deren blasses Gesicht noch die Spuren der vergangenen schlaflosen Nacht zeigte. Er faßte ihre Hand und führte sie zu einem Sessel.

»Ich muß seinen Augenblick nach der Küche sehen! Ihr unterhaltet euch auch wohl allein miteinander!« sprach Frau Wilberg, die mit feinem Takt fühlte, daß sich da irgend etwas zwischen den beiden ereignen würde. »Komm', Elisabeth!« Elisabeth wollte aber viel lieber im Zimmer bleiben und zuhören, denn sie traute Onkel Hans doch nicht so recht, daß er nichts von dem Buch sagen würde, und erst dem nochmaligen Ruf gehorchte sie zögernd.

»Helene! Ich möchte dich etwas fragen!« begann Hans von Bernitz, und von dem seltsamen Klange seiner Stimme betroffen, hob das junge Mädchen den Kopf, aber vor dem Strahl heißer, inniger Liebe, der ihr entgegenleuchtete, schloß sie die Augen und erwartete mit klopfendem Herzen das Weitere.

»Denke dir,« fuhr Hans fort, und ein glückliches, übermütiges Lächeln erhellte seine Züge, »während ich fort war, hat jemand über mich eine Art Tagebuch geführt und dazu Bemerkungen geschrieben. Muß ich mir das gefallen lassen?«

Mit flammendem Gesicht sprang Helene Rhenius auf. »Wer hat dir das verraten?!« rief sie laut. »Das ist schlecht! schlecht! Und von dir ist es schlecht, so etwas von mir zu glauben!«

Sie wollte aus der Tür eilen, aber Hans hielt sie fest.

»Also warst du es! Nun hast du dich verraten!« rief er aus. »Und zur Strafe dafür mußt du mir eine andere Frage beantworten!« Er zog die Widerstrebende an sich und fragte leise: »Bin ich wirklich dein geliebter Hans?«

Ein heftiges Schluchzen war die Antwort. Dann stieß ihn Helene zurück und sagte, sich hoch aufrichtend: »Wer hat dir das erzählt?«

»Ein kleiner Vogel!« erwiderte Hans. »Und der hat mir heute auch den Mut gegeben, Helene Rhenius zu fragen, ob sie meine geliebte Frau werden will!« Starr sah Helene ihn an! »Und deine Mutter? Deine Schwester?« hauchte sie tonlos.

»Ach, Schatz, süßer, geliebter Schatz, Helene, mein Liebling! Es ist ja alles gut, wenn du mich nur wirklich lieb hast!« jubelte Hans. »Ich bin ja reich! Viel, viel reicher, als ich's mir je hätte träumen lassen. Da, sieh her!« Er riß den Brief aus der Tasche und las ihn ihr mit fliegender Eile vor.

Stumm, keines Wortes mächtig hörte Helene zu.

»Ist es denn wirklich wahr?« fragte sie schließlich matt. »Ich, ... ich soll deine ...«

»Ja,« jubelte Hans. »Du und keine andere!«

»Und deine Stellung als Marineoffizier? Deine Karriere? Willst du die aufgeben?«

»Ja, Schatz! Die Uniform ziehe ich aus!« entgegnete Hans ernst werdend. »Aber der Rock des arbeitenden Bürgers ist auch ein Ehrenkleid, und ich gedenke ihm keine Schande zu machen! Meine Tätigkeit wird ja eine ganz andere werden, und ich muß mich erst einleben! Doch das wird mir schon gelingen, und wenn ich dann so weit bin, dann komme ich und hole dich! Das heißt, falls du mich als Zivilisten noch haben willst!« |

»Wenn ich dir's offen sagen soll, sogar noch lieber!« versetzte Helene. »Denn dann brauchst du nicht mehr auf die Reise und –«

»Und du brauchst kein Tagebuch mehr zu führen!« scherzte Hans. »Aber, Spaß beiseite, es ist mir doch selber vorläufig noch alles wie ein Traum oder wie ein Nebelgebilde, das wieder verfliegen kann. Dabei liegt das Testament hier vor uns auf dem Tisch. Komm', wir wollen es nochmal in Ruhe durchlesen!«

Er zog Helene an deiner Seite auf dem Sofa nieder, legte den Arm um ihre Taille, und so, eng aneinandergeschmiegt, begannen sie das bedeutungsvolle Schreiben zu lesen.

»Hallo! Was ist denn hier los?« rief plötzlich eine Stimme. Hans und Helene fuhren erschrocken auseinander und sahen in das lachende Gesicht Wilbergs, dessen Eintritt sie überhört hatten.

Hans faßte sich aber rasch und antwortete: »Du kannst mir doppelt gratulieren, Ede! Erstens habe ich mich eben mit Helene verlobt und zweitens habe ich so an die zwei Millionen geerbt!«

»Du scheinst die afrikanische Hitze noch nicht ganz überwunden zu haben, mein Lieber!« entgegnete Wilberg, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich von der Wahrheit des Gesagten überzeugte. Dann rief er aus: »Und du hast gleich angenommen?«

»Nein!« antwortete Hans. »Im Gegenteil! Die beiden Herren warten noch auf meine Entscheidung. Ich muß sofort hin.«

»Ach wo!« versetzte Wilberg. »Ich schicke meinen Burschen hin und lasse sie hierher bitten.«

Als der Justizrat mit Heinemann nach einer Weile eintraf und Hans sie vorgestellt hatte, sagte dieser: »Meine Herren, ich erkläre Ihnen hiermit zunächst privatim, daß ich das Vermächtnis des Herrn Gillmeister übernehme und mich verpflichte, in seinem Sinne weiter zu arbeiten. Unterstützen wird mich dabei meine zukünftige Frau und das erste Schiff, das für die Reederei neu angeschafft wird, Herr Heinemann, soll ihren Namen führen. Denselben Namen, wie ihn das Schiff führte, auf dem mein Wohltäter seine letzte Seereise machte. Aus den Trümmern des gesunkenen soll ein neues Schiff gebaut werden, und als Zeichen neuen Glücks soll es heißen: » Helene«.«


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