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Für die Heimat.
Novelle von Konrad Telmann

Die alte Baronin hatte ihren schlimmen Tag. Wenn die Gicht sie plagte, tat man immer am besten, nicht in ihre Nähe zu kommen. Das war aber schwierig, weil sie auch dann und dann erst recht alles sehen und hören wollte – trotz ihrer schlechten Augen und noch schlechteren Ohren –, weil sie alles anzuordnen und dabeizusein wünschte, und weil nach ihrer Meinung die gesamte Verwaltung des Gutes ausschließlich in ihren Händen lag. Und das, trotzdem ihr Sohn, Baron Jürgen, nun den Dreißigen nicht mehr allzu fern war und weit und breit als ein ebenso umsichtiger Landwirt galt, der es nur eben wegen der besonderen Verhältnisse auf Buckow zu nichts bringen könnte. Die Baronin hatte Buckow bei dem Tode ihres Gatten übernommen, weil Jürgen damals noch minderjährig gewesen war, und seitdem war sie die Gutsherrin und blieb es. So sehr ihre geistigen und körperlichen Kräfte auch abnahmen, war sie doch fest überzeugt, alles selbständig und alles aufs beste zu leiten; und gerade das Bewußtsein, daß ohne sie alles drunter und drüber gehen würde, hielt sie aufrecht. Und Jürgen ließ sie in ihrem Glauben. Übrigens mißtraute sie ihm keineswegs, im Gegenteil, er war der beste Sohn, den sie sich hätte wünschen können, und daß er von früh bis spät mitten in der Arbeit steckte und nie vor einer zurückschreckte, wußte sie ganz gut. Aber er war in ihren Augen ein merkwürdig unselbständiger Mensch geblieben, und sie war fest davon durchdrungen, daß sie in all und jeder Beziehung des Lebens die Vorsehung für ihn spielen müsse. Da sie das nun gern tat, in dieser Pflichterfüllung eine innere Genugtuung fand und sich als Vormünderin ihres viel zu gutherzigen und viel zu weichmütigen Jungen unentbehrlich wußte, war es nicht zu verwundern, daß Mutter und Sohn sich vortrefflich miteinander standen und die alte Baronin ein strenges Regiment führte.

Die Leute hatten es freilich nicht sonderlich gut dabei, vornehmlich nicht an den »schlimmen« Tagen, wenn die Gicht bei der alten Dame zu Gaste war. Baron Jürgen hatte oft seine liebe Not damit, sie zur Ruhe zu sprechen, wenn sie erklärten, so etwas ließen sie sich doch nicht gefallen, und dabei hörte aller Respekt und alle Geduld auf, und sie machten den ganzen Hokuspokus – denn weiter sei es ja doch nichts – nicht mehr mit, sondern kündigten der alten Baronin, die ja doch gar nichts mehr zu sagen habe, den Gehorsam auf oder gingen überhaupt ihrer Wege. Jürgen mußte viel gute Worte geben, manchmal sogar mit Geld nachhelfen, damit es nicht so weit kam. Und bei jedem neuen Gichtanfall wurde die Sache schwieriger. Die Baronin ließ sich dann in einem Tragstuhl, den Jürgens eigens für sie erdacht hatte, und der nach seinen Angaben gefertigt worden war, überall herumtragen, um nach der Wirtschaft zu sehen, und weil sie dabei die heftigsten Schmerzen empfand, die sie nur mit äußerster Anspannung ihrer Willenskraft ertrug, blieb sie in einem fortwährenden Schelten und rügte alles, was sie sah, mit unerbittlicher Strenge, auch wenn es genau so gemacht war, wie sie es angeordnet hatte. Dazu kam, daß sie manches nur deshalb vermißte, weil sie es tatsächlich nicht sah und in vielen Dingen etwas ganz anderes hörte und verstand, als man ihr zur Aufklärung sagte. Belehren ließ sie sich überhaupt niemals, am allerwenigsten von den Leuten; das wäre ihr denn doch gegen den Respekt gegangen, den man ihr schuldete.

Heute standen die Dinge ganz besonders schlimm. Es war in der Wirtschaft überhaupt nichts so, wie es hatte sein sollen. Alles schien sich gegen sie verschworen zu haben, um es gerade so zu machen, wie sie es nicht haben wollte. Du lieber Himmel! Was gab es da alles zu tadeln, neu anzuordnen, zu ermahnen und zu schelten! Es ging schier über die Kräfte der alten Dame. Dazu waren ihre Schmerzen heute völlig unerträglich, und zu allem übrigen hatte ihr Jürgen diesen Morgen auch noch erklärt, daß er nun wirklich allen Ernstes die Absicht habe, sich zu verheiraten. Nicht, als ob ihr das gegen den Strich gegangen wäre, durchaus nicht, sie hatte es ja im Gegenteil seit langem ihm zur heiligen Pflicht gemacht, und es war die höchste Zeit, daß der Junge zu einer Frau kam, wogegen er sich immer und immer noch gesträubt hatte, denn nur dann konnte man darauf hoffen, daß er endlich selbständiger und entschlossener werden würde – natürlich vorausgesetzt, daß er an die Rechte geriet. Und das war's eben, was die alte Baronin heute so mächtig bei dem Gedanken an Jürgens Verheiratung aufregte. Die Rechte! Leicht war es ja ohnehin nicht für sie, zurücktreten und einer anderen den ersten Platz einräumen zu sollen – denn das mußte sie ja doch, darüber war sie sich ganz klar –; wenn sie es nun gar gemußt hätte angesichts einer, die nicht die Rechte war, die sie, die alte Baronin, nicht dafür hielt, was ja im Grunde genau auf dasselbe hinauslief! Weshalb wollte ihr Jürgen denn nicht sagen, wer es war? Weshalb hatte er so geheimnisvoll und so ängstlich getan, als sie in ihn gedrungen war, mit der Sprache herauszukommen? Weshalb war er ganz scheu und verlegen geworden und hatte immer nur etwas gestammelt, wie »die Zukunft werde es ja schon lehren«, und »man könne nicht immer ganz so wählen, wie man wohl möchte«, und dergleichen unsinniges und nichtssagendes Zeug mehr? Es lag also doch deutlich genug am Tage, daß es die Rechte nicht war, die er gewählt hatte oder wählen wollte. Und weshalb war sie's nicht? Weshalb fragte er sie, seine Mutter, nicht da um Rat, wo doch nur sie hätte raten und helfen können? Was bedeutete diese Regung einer plötzlich auftauchenden Eigenmächtigkeit bei ihm, die doch gleichzeitig wieder mit soviel banger Zaghaftigkeit verknüpft war? Kein Zweifel, Jürgen wollte eine Frau nehmen, von der er wußte, wissen konnte, daß sie seiner Mutter nicht recht sein würde, und weil sich das so verhielt, zögerte und zögerte er mit seiner Entschließung, die er aller Wahrscheinlichkeit nach seinem Charakter entsprechend schon seit Wochen oder Monaten mit sich herumtrug. Dies Zögern machte nun zwar seinem guten Herzen und seinem allzeit bewährten kindlichen Gehorsam alle Ehre, aber wie kam er überhaupt auf einen so verrückten Gedanken, auf ein Mädchen seine Augen zu werfen, von dem er annahm und annehmen mußte, es würde ihr, der alten Baronin, nicht willkommen sein? Es war so durchaus unverständlich, sah ihm so durchaus unähnlich. Und vor allen Dingen mußte der Sache ein Ende gemacht werden, durfte sie, die Baronin, die als gütige Vorsehung über diesen braven, ehrlichen, aber ganz unmündigen und ohne sichere Leitung sich kopflos verirrenden Jungen wachte, die drohende Gefahr sich nicht verwirklichen lassen. Nun, Gott sei Dank, dazu war sie ja auch da, und, der Gicht zum Trotz, noch füllte sie ihren Posten aus, wahrhaftig, das tat sie.

Die alte Baronin wälzte alle diese Gedanken in ihrer Seele umher, während sie unablässig heute nach dem Rechten sah und unablässig um sich herum zu schelten und zu rügen hatte. Sie gebrauchte manchmal sehr unzweideutige, sehr allgemeinverständliche Worte dabei, ein Blatt hatte sie nie in ihrem Leben vor den Mund genommen. Und Jürgen ließ sich nicht sehen. Der Inspektor Dorschfeldt erklärte, der Herr Baron sei in die Stadt geritten. Was er da in der Stadt nur wieder zu tun hatte! Das war in der letzten Zeit ein ewiges Hin und Her mit der Stadt gewesen. Früher kannte man dergleichen auf Buckow nicht. Jetzt war es wahrhaftig schon vorgekommen, daß Herren ans der Stadt in den Ställen, in den Wirtschaftsgebäuden und auf den Feldern von Buckow umherspazierten, als ob sie da halb und halb zu Hause wären. »Viehhändler und Getreidejuden« hatte sie der alte Dorschfeldt genannt und sehr ingrimmig dabei ausgesehen. Nun, dafür hatte die Baronin sie natürlich auch angesehen, aber früher war diese Sorte von Menschen, die man ja nun einmal nicht ganz von der Hand weisen konnte, doch niemals so aufdringlich gewesen, hatte sich niemals so wahlberechtigt hier gefühlt. Es war merkwürdig, daß Jürgen sogar keine Empfindung dafür zu haben schien. Im Grunde hatte er doch wirklich ein gut Teil gröbere Empfindungen, als sein Vater, der gute Jürgen, und ein klein wenig war er auf Buckow wohl in der Tat schon verbauert. Nun, wenn er nur jetzt zu einer Frau kam, die ihn zu nehmen verstand, zu einer, die wirklich für ihn paßte; – da war's wieder, um dies eine drehte sich eben alles, das war das A und O für Jürgens Zukunft.

Erst als es zu dämmern begann, ließ sich die Baronin in ihr Zimmer hinauftragen. Aber Ruhe hatte sie auch dort noch nicht. Seit einiger Zeit, wo ihre Augen anfingen, etwas schwächer zu werden – in Wahrheit sah sie schon seit Jahren wenig mehr –, hatte sie sich ein altes Fernrohr ihres verstorbenen Mannes wieder instand setzen und mittelst einer bequemen Vorrichtung an ihrem Fenster anbringen lassen. Wenn sie dort auf ihrem bequemen Polsterstuhl saß, konnte sie jeden Augenblick ohne besondere Anstrengung einen guten Teil des Buckower Gutsbezirks überschauen und fühlte sich dann dauernd mitten im Zentrum ihrer Tätigkeit. Sie behielt hierbei immer das Bewußtsein, daß sich alles um sie drehte und von ihr abhänge, und daß nichts ihrer Wachsamkeit entgehen konnte. Das stärkte ihr Selbstgefühl beträchtlich und sie war stolz auf ihre Erfindung. Übrigens hatte sie wirklich auf solche Art schon mancherlei Entdeckungen gemacht.

Heute spähte sie eifriger als je durch ihr Glas, um die letzte Tageshelle noch zu nützen. Sie drehte es nach allen Richtungen. Es war eine merkwürdige, treibende Unruhe in ihr. Und während sie schaute und schaute, kreisten unaufhörlich die Gedanken in ihr: wen der arme, gute Jürgen sich wohl zu seiner Frau ausgesucht haben mochte, und weshalb war es nicht die Rechte, die er sich erwählt hatte?

Das Fernrohr drehte sich langsam von Osten nach Westen. In seiner Linse spiegelte sich jetzt das Kleefeld, – dort fuhr man eben das letzte Kleeheu ein, und der alte Dorschfeldt, der ja auch wohl mit jedem Tage brummiger und knurriger wurde und eigentlich gar nichts mehr sagte, sondern immer nur mit einem halben Fluch ingrimmig vor sich hinspie, stand dabei und beaufsichtigte die Leute. Das war also in Ordnung. Und nun weiter: – die alte Eiche, die sich da mitten aus dem Ligusterwall aufhob und durchaus geschlagen werden sollte, weil der Revierförster behauptete, sie würde bei dem nächsten Sturm zusammenbrechen und könne dann einen Menschen erschlagen, die stand ja immer noch da. Richtig! Sie hatte es ja selbst so gewünscht, weil das Landratsamt erst darüber entscheiden sollte, ob sie wirklich verpflichtet war, den schönsten Baum auf Buckow zu fällen. Jürgen hätte es gern unverzüglich angeordnet, aber er hatte ihrem Einspruch nachgegeben, wie immer. Ja, er war ein guter, herzensguter Sohn.

Und jetzt – das Fernrohr wanderte weiter. Was war denn das? Das war ja Jürgen in leibhaftiger Person, der dort drüben an der Tannenhecke stand, die den Gutspark vom Pfarrgarten trennte. Wahrhaftig, das war er. Also, er war gar nicht in der Stadt gewesen. Oder doch? Seine Reitstiefel und die graue Mütze ließen darauf schließen. Und richtig: er hatte ja auch die Gerte noch in der Hand. Also war er wohl eben erst heimgekommen. Und dann spornstreichs aufs Feld gelaufen, der brave, pflichttreue Bursche. Und unterwegs hatte er Pastors Lore an der Ecke stehen sehen und war herangetreten, um ihr guten Abend zu sagen und ein Wörtchen mit ihr zu plaudern. Natürlich. Da stand sie ja. Ein liebes, herziges Kind, lebensfrisch und gescheit und brav von Grund aus. Ja, die müßte einen Mann schon glücklich machen können, ein Mädchen wie die! Die war ganz nach dem Herzen der alten Baronin. Und wenn Jürgen nicht ein Baron Därenbach gewesen wäre. – Aber was war denn das? Die beiden hielten sich ja immer noch bei den Händen. Und nun – bei Gott im Himmel! Das war doch seltsam. Jürgen, ihr Sohn Jürgen, der Baron Jürgen von Därenbach auf Buckow, beugte sich herab und küßte Pastors Lore die Hand – einmal, zweimal, dreimal. Die Hand küßte er ihr, ganz respektvoll, ganz, als ob das nicht anders sein könnte. Und sie? Sie lachte ihn doch wohl aus? Nein, ihr Gesicht war gar nicht so besonders hell und freundlich und strahlend, wie sonst, ganz im Gegenteil, es sah ja gar aus, als ob – –.

Die Baronin putzte ungeduldig mit ihrem Tuche an dem Glase herum. Wahrhaftig! Lore weinte. Worüber weinte das Mädchen denn nur? Jürgen würde ihr doch nichts Verletzendes gesagt haben? Warum nicht gar! Das sah ihm wahrlich nicht ähnlich. Und er – Herr Gott! dem Jungen standen ja auch die hellen Tränen in den Augen, und so traurig, so verzweifelt blickte er drein. Und nun griff er wiederum nach der Hand des Mädchens und drückte sie und küßte sie, als ob er sie gar nicht wieder loslassen wollte, und ließ sie dann endlich doch wieder los, gebärdete sich aber ganz wie ein Verzweifelter dabei. Was war nur mit dem Jungen geschehen? So hatte sie ihn ja noch niemals in ihrem Leben gesehen. Ganz wie ein fremder Mensch kam er ihr vor. Und nun ging er endlich fort, nein, er lief förmlich, als ob er sich mit Gewalt losreißen müßte; und so gebückt, so verfallen sah er mit einem Male aus, ganz wie ein alter Mann. Und Lore blieb an der Hecke stehen und blickte ihm nach, aber er schaute sich nicht mehr nach ihr um. Und dann schlug sie sich die beiden Hände vor's Gesicht und schlich sich davon.

Was war das alles? Die Baronin ließ das Fernrohr aus den zitternden, welken Händen fahren. Das hatte ja ausgesehen wie ein Abschied für immer. Und zwar wie ein Abschied, den zwei Menschen voneinander nahmen, die sich lieben und die doch einsehen, daß sie nie im Leben zueinander kommen können und sich deshalb Herz vom Herzen reißen, weil es denn so sein muß, aber mit einer tiefen, schmerzvollen, unheilbaren Wunde in der Brust. Nicht zueinander kommen können? Und warum denn nicht? Wenn man es recht überlegte, ohne alles Vorurteil und ohne alles Festhalten an dem Herkömmlichen und Überlieferten – hm, die Baronin dachte nach. Sie hatte von einer wirklichen, ernsten Neigung zwischen den beiden jungen Leuten, die sich immer recht gern gehabt hatten, bis zu dieser Stunde nichts geahnt, hatte gar nichts bemerkt, was darauf hätte schließen lassen. Wenn es aber wirklich so stand –

Plötzlich kam ihr ein erleuchteter Gedanke. Weshalb nahm Jürgen heute, gerade heute ewigen Abschied von dem Mädchen, das er ohne all und jeden Zweifel liebte, gerade heute, wo er ihr, der Baronin gesagt hatte, er wolle nun allen Ernstes heiraten, und wo er so geheimnisvoll getan hatte mit dem Gegenstande seiner Wahl? Offenbar, weil er eingesehen hatte, daß es ohne eine Frau für ihn nicht länger mehr ging – was sie, die Baronin, ihm ja lange genug gepredigt hatte, – und weil er nicht ein Mädchen wählen wollte, von dem er annehmen mußte, daß es trotz aller guten und besten Eigenschaften seiner Mutter mißfallen würde, einfach aus dem Grunde, daß sie eines Pastoren Tochter und keine standesgemäße Partie für ihn war. Darum nur, nur darum! Nun war der alten Baronin mit einem Schlage alles klar. Der gute Junge, der Jürgen! Und womöglich wollte er nun gar hingehen und einer anderen seine Hand anbieten, die ihn im Grunde gar nichts kümmerte, seinem Herzen ganz fernstand, einem Fräulein von Barnekow oder einer Komteß Schlippenbach, nur damit er sich als ein gehorsamer Sohn auswies und seiner Mutter keinen Kummer bereitete. Das sah ihm schon ähnlich. Aber das sollte nicht sein, ganz gewiß sollte das nicht sein. Sie, die alte Baronin, würde ein solches Opfer von dem braven Jungen nicht annehmen. Denn, wenn man es am Ende recht bedachte – hm – er war ja freilich ein Baron Därenbach, und sie hieß Lore Papendieck, – ganz gewiß kein schöner Name –, und es war die erste, nicht standesgemäße Ehe, die ein Därenbach schließen würde; aber man nahm das ja heutzutage nicht mehr so genau wie früher, und um ihrer altmodisch gewordenen Grundsätze willen sollte ihr braver Jürgen sein Herz nicht kreuzigen müssen, o nein, nein, das sollte er nicht. An erster Stelle war sie doch immer seine Mutter und dann erst die Baronin Därenbach, geborene Freiin von Diepenbrook, die auf eine völlig intakte Reihe von zweiunddreißig Ahnen zurückblicken durfte, und wenn ihr Sohn ihr ein Opfer hatte bringen wollen, so konnte sie das auch und ließ sich nicht von ihm beschämen. Nein, nein, sie mußte für den guten Jungen wieder einmal die Vorsehung spielen, wie schon so oft, und weil es andernfalls einen Wettstreit in Edelmut zwischen ihnen beiden gegeben hätte, ihm einfach das Recht über dem Kopf wegnehmen, und damit Sela und Amen.

Und kurz und gut: morgen früh ging sie ins Pfarrhaus, ohne Jürgen ein Wort davon zu sagen, und warb für ihn um Pastors Lore und machte die Sache richtig. Weiteres Parlamentieren war da nicht mehr am Platze und ihre Art überhaupt nicht. Ja, der Junge mit seiner törichten Opferwilligkeit und seinem übertriebenen Zartgefühl sollte einmal Augen machen! Die alte Baronin lachte bei dem Gedanken mit ihren welken Lippen behaglich vor sich hin, während ihr, ohne daß sie's merkte, die hellen Tränen über die Backen liefen.

Sie hatte eine ziemlich unruhige Nacht. Die Gicht plagte sie stark, und wenn ihr irgendein Ereignis bevorstand, das ihr Herz in Mitleidenschaft zog, merkte sie jedesmal, daß sie alt geworden war und nicht mehr konnte, wie früher. Morgens schellte sie schon früh nach dem Kammermädchen, trank ihre Schokolade und ließ sich ankleiden. Das Mädchen, das sich seit zwanzig Jahren in ihrem Dienst befand, erlaubte sich den Rat, die Frau Baronin möge noch ein paar Stunden liegen bleiben, die Frau Baronin sähe heute übel aus. Aber davon wollte die Gutsherrin nichts hören. Nichts da, heute gab es etwas Wichtiges zu tun, heute mußte sie auf dem Posten sein. Und sie ließ sich sorgfältiger, feierlicher ankleiden und frisieren, als je. Sie wählte sogar nach längerer Prüfung das lichtgraue Seidenkleid mit den Falbeln und die große Blondenhaube, denn es handelte sich ohne Zweifel um eine Haupt- und Staatsaktion, bei der sie würdevoll repräsentieren mußte. Unter unsäglichen Schmerzen vollendete sie ihre Toilette. Sie fühlte sich heute in der Tat so gebrechlich, wie nie, und manchmal war's ihr, als ob der Schlag ihres Herzens aussetzte. Es war wirklich kein kleines Stück, daß sie heute gerade ihren Vorsatz ausführen wollte, aber die Sache duldete keinen Aufschub, und sie wollte ihrem guten Jürgen beweisen, daß sie etwas für ihn zu tun imstande war.

Endlich war sie fertig. Es hatte mehrere Stunden in Anspruch genommen, denn zwischenhinein hatte sie immer wieder ruhen und Atem schöpfen müssen. Ihr war seltsam beklommen zumute. Nun wählte sie noch unter ihren Schmucksachen. Zuletzt legte sie die schwere, goldene Kette mit dem Medaillon um, die ihr verstorbener Gatte ihr am Verlobungstage geschenkt hatte. Heute war der ihres Sohnes, heute war die beste Gelegenheit, sie zu tragen.

Und nun war der große Moment gekommen. Die Baronin ließ sich in ihren Tragstuhl heben, steif und stattlich saß sie darin, die gichtisch verkrümmten Finger in den schwarzen Filet-Halbhandschuhen übereinandergefaltet, ernsten und würdevollen Antlitzes, ganz erfüllt, ganz durchdrungen von der Bedeutung ihrer Mission, der sie sich mit jeder Fiber ihres Wesens hingab. So erschien sie im Pastorat, wo ihr Besuch nicht geringe Bestürzung hervorrief. Pastor Johannes Papendieck lief ihr im Sammetkäppchen und mit dunkelroten Hausschuhen entgegen, und die Frau Pastorin kam geradeswegs aus der Küche und hatte in ihrer Eile vergessen, die Schürze abzubinden, an der sie sich ihre fettig gewordenen Hände eben abgetrocknet hatte. »Aber, Frau Baronin, welche Ehre! Warum haben uns Frau Baronin denn nicht lieber ins Schloß rufen lassen oder sich zum allerwenigsten vorher angemeldet? Wir sind ja jetzt gar nicht in der Lage, Frau Baronin zu empfangen, wie es sich schickt.«

Die Baronin winkte die beiden sich in Entschuldigungen und Dankesäußerungen jeder Art überbietenden alten Leute lächelnd zur Ruhe. Und als sie nun endlich in der Putzstube des Pfarrhauses saß, wo all der altväterische Hausrat, der dort zusammengetragen war, und den nie ein Mensch gebrauchte, von Sauberkeit blitzte und die Pastorin ihre Schürze mit den Abdrücken ihrer fettigen Finger hochroten Gesichts abgenommen und, in einen kleinen Knäuel zusammengerollt, auf ihrem Schoß geborgen hatte, um mit vorgebeugtem Oberkörper atemlos zu lauschen, da sagte die Gutsherrin von Buckow: »Ich komme heute in einer ganz besonderen Eigenschaft, lieber Herr Pastor und liebe Frau Pastorin. Ich komme als Freiwerberin meines Sohnes, des Barons Jürgen, und erbitte für ihn die Hand Ihrer Tochter Eleonore.«

Die Sprecherin war auf alle möglichen Wirkungen vorbereitet gewesen, welche ihr ungewöhnliches und unerwartetes Vorgehen ausüben würde, aber das verlegene und fassungslose Erstaunen, das sich jetzt auf den Gesichtern der beiden sich sprachlos und halb offenen Mundes anstarrenden alten Herrschaften malte, hatte sie denn doch nicht vorhergesehen. Denn dies Erstaunen war nichts weniger, als ein freudiges, es lag vielmehr etwas wie Angst und Pein darin ausgeprägt. Und die Baronin fragte mit einem halben Lächeln, das ihr gar nicht vom Herzen kam: »Nun, Sie wollen mir doch durch Ihr Verstummen nicht andeuten, daß ich Aussichten auf einen Korb habe, lieber Papendieck?«

Der Pastor fühlte, daß es Zeit sei, sich zusammenzuraffen. Und während die Lorgnettengläser der Baronin unablässig auf sein Gesicht gerichtet blieben, brachte er unsicher und zaghaft hervor: »Darf ich vor allem fragen, gnädigste Frau Baronin, ob der Herr Baron Sohn von dieser Freiwerbung unterrichtet sind, und ob mit seinem Wissen und Wollen –«

»Aber, mein lieber Pastor!« fiel die Baronin ihm mit überlegen-gutmütigem Ton ins Wort. »Sie werden mir doch wohl nicht zutrauen, daß ich, ohne der Neigung meines Sohnes gewiß zu sein, einen derartigen Schritt unternehmen würde, um ihn gleichsam zu einer Frau zu bringen, die er selbst nicht erwählen würde.«

»Nein, nein, nein,« stammelte Johannes Papendieck, »gewiß nicht, gewiß nicht. Aber ich habe fragen wollen, ob der Herr Baron von diesem Schritte selber unterrichtet sind, ob Frau Baronin ihm mitgeteilt haben, daß Sie die Absicht hegten –«

»Ich verstehe nicht recht, weshalb Sie diese Fragen an mich richten, Herr Pastor!« versetzte die Baronin nunmehr in leicht pikiertem Ton und richtete sich noch um einige Zoll höher auf.

Johannes Papendieck sah seine Frau an, und Frau Regina Papendieck sah wiederum ihren Mann an, und in beider Augen und Mienen spiegelte sich ratlose Verzweiflung. »Wenn wir nur wüßten,« murmelte die Pastorin, unruhig hin und her rückend und ihren Schürzenknäuel immer mehr zusammenknüllend, »weshalb Frau Baronin auf den Gedanken gekommen sind – es ist uns ja sicherlich eine ungeheure Ehre, eine gar nicht genug zu schätzende Ehre –, aber wir glauben gar nicht, daß der Herr Baron Sohn einverstanden wäre, wenn er wüßte – und unsere Lore – wie gesagt, gnädigste Frau Baronin, nehmen Sie es nur nicht für ungut, aber der Herr Baron Sohn wird Ihnen gewiß erklären –.«

»Was? Was wird er mir erklären?« rief die Baronin jetzt mit einem nicht mehr zu bändigenden Ausbruch von Ungeduld, und ihre Lippen zuckten nervös, während ihr die heiße Röte ins Gesicht stieg, »werd' ich endlich erfahren, was es eigentlich gibt? Das ist ja geradeswegs zum Tollwerden mit diesem Hin- und Hergezerre. Seit wann versteh' ich denn nicht mehr deutsch? Mein Sohn Jürgen hat Ihre Lore lieb, und obgleich sie ein bürgerliches Mädchen ist, will ich sie meinem Sohn Jürgen zur Frau geben. Und deshalb bin ich hier. Und nun wart' ich auf Antwort.«

Pastor Papendieck hatte sich das Käppchen vom Kopfe gerissen und war sich mit allen fünf Fingern seiner Rechten durch sein spärliches, grauweißes Haar gefahren. Die hellen Tropfen perlten ihm auf der Stirn. »Das ist unmöglich,« stöhnte er endlich, »das ist leider ganz unmöglich, gnädigste Frau Baronin, der Herr Baron Sohn – haben bereits anders gewählt.«

»Wa – was?« stieß die alte Dame aus, »anders? Mein Sohn –?« Ihr Körper bebte vor gewaltiger Erregung. Dann kam plötzlich ein kurzes, spöttisches Auflachen über ihre Lippen. »Warum nicht gar! Mein Sohn – mein Sohn würde niemand eher in der Welt Mitteilung gemacht haben, als mir. Und er hat mir nichts gesagt. Es ist unmöglich, daß ein Mensch auf Erden früher als ich wissen sollte, mein Sohn habe eine Frau gewählt – unmöglich!«

Es klang hart und ablehnend, beinahe schneidend, wie sie es sagte. Ihre großen, stahlgrauen Augen, deren Sehkraft fast ganz geschwunden war, blitzten in jugendlich-heißem Zorn auf. In diesem Moment war sie ganz wieder die Baronin Därenbach, die Schloßherrin von Buckow, die Vormünderin und die Vorsehung ihres Sohnes. Der Pastor war völlig in sich zusammengesunken, während die Pastorin wie flehend ihre beiden Hände gegen die alte Baronin ausstreckte und in einem fast wimmernden Ton sagte: »Um Jesu willen, Frau Baronin, deshalb dürfen Sie ihm ja nicht gram sein. Herr, du meine Gerechtigkeit, das fehlte auch noch. Sie und ihm gram! Weil er Ihnen nichts gesagt hat! Wie konnte er Ihnen denn etwas sagen? Um Ihretwillen tut er es ja doch einzig und allein. Und nur deshalb, nur weil es ein so frommer und heiliger Zweck ist, hat mein Mann gesagt, wird der liebe Gott ihm die Sünde verzeihen, daß er eine Frau nimmt, die er nicht lieb hat, bloß um des leidigen Geldes willen und trotzdem er sein Herz an eine andere gehängt hat. Und nun wollten Sie ihm einen Vorwurf daraus machen, daß er aus purem Zartgefühl und aus reiner Kindesliebe – Und reden soll ja auch kein Mensch davon, und außer uns und der Lore, weiß es ja auch kein Mensch, wie es steht und weshalb es so sein muß. Und wir, wir halten reinen Mund, mein Johannes und ich, darauf kann der Herr Baron sich verlassen; und nun gar die Lore, das arme Ding –«

Sie brach mit einem Ausruf des Schreckens ab und schlug sich im nächsten Augenblick mit der Hand auf den Mund. Der Pastor hatte ihr, immer verzweiflungsvoller, die Augen völlig verzagt gen Himmel gerichtet, zugewinkt, und die alte Baronin war plötzlich mit schreckhaft aufgeweiteten Pupillen von ihrem Sessel in die Höhe gefahren. Jeder Nerv an ihr schien jählings gelähmt zu sein, ihre Mundwinkel waren schief herabgezogen, und ein blödes, verständnisloses Lächeln irrte um ihre Lippen. Es war, als ob etwas Versteinerndes sie angerührt hätte und nun langsam jeden Blutstropfen in ihr versiegen, jede Muskel erstarren, jeden Funken des Lebens erlöschen ließ. »Du mein lieber Gott«, murmelte die Pastorin, ihren Schürzenknäuel in der peinlichen Verlegenheit aufwickelnd und wieder zusammenrollend, »wenn man aber auch so in die Enge getrieben wird, »irgend was muß man ja schließlich doch antworten.«

Die Baronin hatte mit einem Male ihre Sprache wiedergefunden. Es klang freilich wie ein kaum verständliches Lallen, als sie sagte: »Dorschfeldt – Dorschfeldt soll kommen – gleich – gleich – hierher –« Dann sank sie in ihren Stuhl zurück, wie ein Automat. Der Pastor wollte davonstürzen, um den Inspektor zu rufen, froh, dadurch von diesem Anblicke befreit zu werden, aber die Baronin winkte ihm mit der Hand, zu bleiben. So lief Frau Regina, die jetzt an allen Gliedern zitterte vor Angst über das, was sie durch ihre Schwatzhaftigkeit angerichtet haben mochte, hinaus, nur immer vor sich hinmurmelnd: »Ach, du gerechter Himmel, was wird das geben!«

»Pastor Papendieck!« kam es lallend über die verzerrten Lippen der Baronin, die ihre Stirn offenbar nicht mehr zu dem umdrehen konnte, den sie anrief, denn sie stierte ins Leere, »Pastor Papendieck!«

Der Pastor hockte, wie gebrochen, mit gefalteten Händen auf seinem Stuhl, die Augen in hilflosem Jammer flehend zur Decke gerichtet. »Gnädigste Frau Baronin«, wimmerte er, »um's Himmelswillen, gnädigste Frau Baronin –«

»Pastor Papendieck!« klang es vernehmlicher, die Stimme rang sich gleichsam mit Gewalt durch, wie denn überhaupt nur die höchste Willensanstrengung diesen morschen, innerlich zerrütteten Körper der Greisin noch aufrecht erhielt – »Sie sind ein Diener des Wortes Gottes, das da Wahrheit ist, Sie können nicht lügen; auch nicht, wenn Sie denken, es müsse sein um eines heiligen Zweckes willen. Das ist Jesuitismus. Ich verlange Wahrheit von Ihnen. Versprechen Sie mir, mir Wahrheit zu geben?«

Der Pastor kämpfte einen heißen Kampf mit sich selber. Ein Ächzen quoll dabei aus seiner Brust. Dann blickte er zur Decke auf und sagte: »Du hast es so gewollt, Herr mein Gott. In deinem Namen denn also! – Frau Baronin, es soll kein Wort aus meinem Munde gehen, es sei denn die lautere Wahrheit.«

Ein paar Sekunden lang herrschte nach diesen feierlich, wie ein Gelöbnis gesprochenen Worten tiefe Stille im Gemach. Dann hatte die Baronin wieder Worte gefunden. »Pastor Papendieck,« fragte sie, »weshalb hat mein Sohn eine andere zur Frau wählen wollen, als die, an der sein Herz hängt?«

Der Pastor neigte sein Gesicht über die gefalteten Hände herab, als ob er sich im Gebet für diese schwere Stunde stärken wolle, dann erwiderte er: »Herr Baron Jürgen kann kein so armes Mädchen heiraten, wie unsere Lore es ist, Frau Baronin, so lieb er sie ja auch wohl haben mag.«

Die Greisin verstand das offenbar noch immer nicht. »Noch nie hat ein Därenbach nach Geld geheiratet!« sagte sie wegwerfenden, hochfahrenden Tons. »Das ist Verleumdung. Ein Därenbach handelt nicht so schmählich.«

»Aber, gnädigste Frau Baronin,« wandte der Pastor zaghaft ein, »wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt, wenn das Gut derartig verschuldet ist, daß sozusagen dem Herrn Baron das Messer an – wie die vulgäre Redensart lautet – an der Kehle –«

Er hielt erschrocken inne, denn ein gurgelnder Ton, wie der eines Erstickenden, war aus dem weit offenen Munde der Baronin gekommen, und ihre Augen hatten sich in schier unheimlicher Weise verdreht, während die verkrümmten Finger erst in die Luft griffen und dann vorn am Halse in dem Kleide nestelten, als wollten sie sich dasselbe herabzerren.

»Um Gottes willen, Frau Baronin,« rief er und war aufgesprungen, »ich hätte es Ihnen nicht sagen sollen, ich hätte mir ja tausendmal lieber die Zunge abgebissen, als daß ich es Ihnen sagte. Aber weil Sie es von mir forderten, als von einem Diener des Herrn – verehrte, gnädigste Frau Baronin, kommen Sie doch nur wieder zu sich! Was wird Herr Baron sagen, wenn er erfährt, daß Sie nun alles wissen, was er so sorgsam, so vorsichtig, so kunstvoll vor Ihnen verborgen gehalten hat all die langen Jahre, bis es denn endlich nicht mehr ging, und die Gläubiger drohten. Gemüht hat er sich ja redlich, der gute, brave, wackere Herr. Aber weil es denn doch alles nichts half und zum Äußersten kommen sollte – was konnte er denn tun, da er doch die hochverehrte Frau Mutter um keinen Preis wollte von Buckow fortziehen lassen, von Buckow, das sie in schweren Jahren während seiner Minderjährigkeit für ihn gehalten hatte, wo sie sich immer noch als Herrin und Gebieterin fühlte, und wo sie eingewurzelt war mit allen Fasern ihres Seins und Wesens? Und nun in ihren hohen Jahren und wo er sie bisher noch immer in ihrer Ahnungslosigkeit glücklich erhalten hatte, sie von Haus und Hof vertreiben lassen, bloß damit er das Mädchen zur Frau bekam, das er liebhatte? Nein, nein, nein; wenn es noch ein Mittel gab, um das zu verhindern, mußte er es ja anwenden. Und es gab eins. »Herr Pastor,« hat er zu mir gesagt, »der liebe Gott wird es mir ja verzeihen, wenn ich das tue, und die Lore auch und Sie und Ihre liebe Frau. Denn es wäre ein Mord, den ich an meiner Mutter beginge, wenn ich anders handelte. Sehen Sie, ich könnte Buckow ja verkaufen und behielte dann immer noch so viel, um anderwärts irgendwo eine Pachtung zu übernehmen, und könnte früher oder später die Lore heimführen. Aber meine Mutter überlebte es ja nicht, und deshalb und weil sie nie die Wahrheit erfahren soll –« So hat er gesprochen, Frau Baronin, und nun müssen wir Unglücksmenschen dahin kommen, alle seine guten und redlichen Absichten über den Haufen zu werfen, bloß weil die Frau Baronin es sich in den Kopf gesetzt haben, für den jungen Herrn um die Lore zu werben, um ihm eine freudige Überraschung zu bereiten. – Du lieber Gott! Du lieber Gott!«

In der Tür des Gemaches standen die Pastorin und der Inspektor Dorschfeldt und wagten nicht, näher zu treten. Die alte Baronin hatte die beiden Hände über ihrer linken Brust zusammengepreßt, und dabei kamen Laute von ihren Lippen, Laute, die man nicht näher hätte bezeichnen können, weil sie ebensowohl ein Lachen als ein Schluchzen sein konnten, ein Winseln als ein inbrünstiges Stammeln. Ein paar Augenblicke lang schien's, als wollte sie zusammenbrechen. Fester, immer fester krampften sich ihre Hände aufs Herz, wie wenn sie es hätte zwingen wögen, auszuhalten. Dann brach's von ihrem Munde wie ein Triumphgeschrei: »Mein Sohn! Mein Sohn Jürgen!«

Der Pastor war neben dem Sessel der Greisin in die Knie gesunken, er betete; ihm war seltsam ängstlich zu Mute. Die alte Dame sah gar nicht mehr aus wie eine Erdenbewohnerin, so verklärt, so weltentrückt und dazu so jugendlich schön, wie voller Feuer und Leidenschaft.

»Man sollte den Herrn Baron rufen,« murmelte die Pastorin, der gleichfalls bange wurde, und lief wieder hinaus.

Der Inspektor aber war ein paar Schritte näher getreten, und die Baronin mußte wohl seine Nähe spüren. »Dorschfeldt,« sagte sie mit merkwürdig klarer und fester Stimme, »ist es wahr, daß Buckow nicht mehr zu halten ist?«

»Wird schon so sein,« brummte der Alte, wollte ausspucken, besann sich aber darauf, wo er sich befand, und ließ nur ein dumpfes, knurrendes Geräusper vernehmen.

»Wie ist das möglich gewesen, Dorschfeldt?«

Das Geräusper wiederholte sich um vieles drohender. »Die verdammten Wucherjuden, Frau Baronin. Und dann die schlechten Zeiten. Und gefährlich stand's ja sowieso schon, als der junge Herr Buckow übernahm. Schulden waren ja genug da, vom alten Herrn Baron noch. Da wirtschafte einmal einer! Nein, eine Schande ist's nicht, daß es so weit kommen mußte. Es mußte, sag' ich.«

»Und dann,« fiel die Baronin ein, »die Frauenzimmerwirtschaft, nicht wahr? Die war auch vom Übel. Aber ich hab's gut im Sinne gehabt.«

Dem alten Dorschfeldt mußte etwas ins Auge geflogen sein. Er wischte mit seiner braunen, breiten Hand eine Weile daran herum. »Warum nicht gar!« knurrte er. »Deshalb nun schon lange nicht, Frau Baronin.«

»Wie ist es denn nur möglich gewesen, daß ich darin nicht eher klar gesehen habe, Dorschfeldt?«

»Hm – ja – weil wir auf Befehl des jungen Herrn die Frau Baronin immer belogen und betrogen haben, deshalb; ganz gotteslästerlich, Frau Baronin. Und durch Jahre! Das ist so einem alten Knasterbart, wie mir, nicht gerad' immer recht gewesen oder leicht geworden. Aber der junge Herr hat's so gewollt und gesagt, es müßt' sein. Und da ist's auch dabei geblieben.«

Die alte Baronin streckte dem Sprecher ihre Hände hin, alle beide. Sie wollte auch etwas sagen, aber das brachte sie nicht zuwege. Nur als der Inspektor die Hände, die er in seiner groben Faust hielt, küssen wollte, litt sie es nicht. Und dann kamen rasche, hallende Schritte draußen über die mit weißem Sand bestreuten Holzdielen des Hausflurs, und nun wurde die Stubentür aufgerissen, und ein hochgewachsener, breitschultriger, blondbärtiger Mann stürmte ins Zimmer. »Mama!« rief er in heißer Erregung! »O Mama, Mama, was haben Sie angerichtet?«

Mit seinen beiden Händen umfing er sie, die ihm entgegenwanken wollte, strahlend, wie über sich selbst hinausgehoben, verjüngt und gesund. »Jürgen! Jürgen!« Es war ein Aufschrei, in dem eine Welt von Weh und Glück lag.

.

Und dann hielten sie sich beide sekundenlang, schweigend, erschüttert. Man hörte nichts als das Atemholen derer, die im Gemache waren. Plötzlich aber sagte die Greisin:

»Versprich mir, Jürgen, nein, – schwöre mir!«

»Was, Mama, was?«

»Daß du« – ihre Stimme brach fast, aber sie ließ sie nicht brechen –, daß du Buckow verkaufen willst, Jürgen.«

»Mama!« schrie er auf.

Aber sie fuhr fort: »Und daß du Pastors Lore heiraten willst und sonst keine« –.

»Mama! Mama!«

»Schwöre mir's, Jürgen, hörst du? Schwöre mir's! Bei unserer Liebe, Jürgen!«

»Und du?« stöhnte er, wie außer sich, »und du, Mutter?«

»Ich? Ich ziehe mit euch, – gleichviel, wohin, in die Fremde, eurem Glücke nach. Die Ehre ist dann gerettet, – hörst du wohl, Jürgen? Die Ehre! Ein Därenbach heiratet nicht um Geld! Nie, – nie. Er darbt, er entsagt, er hungert, Jürgen –, aber er bleibt dann ein Därenbach. Schwörst du mir's, Jürgen?«

»Ja, ja, tausendmal ja, ich schwöre dir's, Mutter – alles, alles –«

Sie atmete auf, sie lächelte. Ihr Arm lag um seinen Hals. »Und nun komm'!«

»Wohin, Mutter?«

»Rufe deine Braut, Jürgen, daß ich sie segne. Und dann wollen wir zusammen zum letzten Male an deines Vaters Grabe beten und dann –«. Wie ein Hauch kam es nur noch über ihre Lippen: – »dann in die Fremde ziehn« –

Sie wollte einen Schritt gegen die Tür zu machen, aber sie strauchelte, trotzdem er sie hielt und stützte. Ihre Hand streckte sich nach ihrem Herzen, ihre Augen verglasten, ein kurzes Röcheln kam aus ihrer Brust, dann sank sie plötzlich lautlos, leblos zu Boden. Alle knieten um sie her. Der Pastor sagte ganz leise: »Nicht in die Fremde – in die Heimat ist sie gegangen. Wohl ihr!«


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