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Glanz.
Novelle von Ida Boy-Ed

Das Schloß des Landesfürsten lag in einem Halbdunkel von bläulich-weißen, grauen und schwarzen Tönen, die auf das zarteste ineinanderspielten. Das Tageslicht war wie aufgesogen. Der bleiche Himmel schien in unendlicher Höhe zu schweben. Die weiße Fläche des Schnees auf dem kahlen Platz um das Schloß gab eine stumpfe, kalte Helligkeit. An hohen dünnen Eisenträgern schwebten die gläsernen Kürbisse der elektrischen Lampen gleich Riesenopalen. Sie warfen Licht auf die grünen Wände des Feudalbaues. Aus seinem klotzigen Viereck ragte das grünschwarze Kupferdach der Schloßkapelle in die farblose Dämmerung empor. Dieses Kapellendach hatte beinahe die Form einer Glocke, auf der ein Kreuz stand. Bis zu seinem gelben Gold hinauf aber drangen die mondscheinfarbenen Strahlen aus den Riesenopalen nicht. Nüchtern und glanzlos, kaum erkennbar noch von dem fahlen Hintergrund der Luft, wies es mit seinen bedeutungsvollen Linien in die Höhe und Breite.

In der Hauptfront des Schlosses war die Fensterreihe des ersten Stockwerkes hell. Orangengelb, längliche Vierecke, gleich Dominosteinen standen die erleuchteten Fenster in regelmäßiger Entfernung voneinander in der Wand.

Das Volk wußte: dort wurde ein Fest gefeiert. Keins im primitiven Sinn der Freude mit Spiel, Lachen und Tanz. Ein Fest der Ehre und Würde, mit feierlichem Schreiten, wallenden Samtmänteln, prunkenden Ketten.

Der Fürst hielt das Kapitel des hohen Ordens vom goldenen Löwen ab. Die Investur von zwei neuen Rittern wurde vorgenommen. Das Volk wußte, wer die beiden waren. Der junge Kronprinz des Nachbarlandes, der Bruder der Fürstin, und Se. Exzellenz der General Magnus v. Wallbrodt, der populäre General, den das Volk grüßte und dem es auch wohl zujubelte, wenn eine anreizende Gelegenheit das Bedürfnis nach Begeisterung in der Menge weckte. Wenn er nach Paraden oder bei Fürstenbesuchen weit hinter seinem hohen Herrn her durch die Straßen ritt, sozusagen hinein in das Abflauen der Hurras, schwollen diese von neuem an, und ganz feine Ohren wollten hören: zu einem kräftigeren Forte als vorher.

Unter der warmleuchtenden, orangefarbigen Fensterreihe, in der Mitte der Front, stand weit der Torrachen des Hauptportales geöffnet. Drinnen im geräumigen Hof verschwamm das Zwielicht in rötlichen Farben, und eilige Gestalten huschten hindurch. Auch Gespanne standen dort, unbeweglich wie aus dunklem Bronzeguß; auf Pferdecroupen und Silbergeschirr blinkten gleißende Reflexe.

Draußen, zu beiden Seiten des Tores, stand die Menge; ihr Kopf, dies unsicher beleuchtete Durcheinander von Gesichtern und Hüten, ließ ihr eben den Charakter als Menge; die dunkel bekleideten Körper drängten so dicht aneinander, daß sie eine Mauer schienen.

Vor ihr schritten mit etwas erkünstelter Amtsmiene überflüssige Schutzleute hin und her, um Ordnung zu halten, wo keine Unordnung war.

In stumpfer Geduld warteten die Menschen.

Nun nahm das huschende Leben im rötlich düsteren Zwielicht des Hofes das Wesen äußerster Hast an. Und dann rollte der erste Wagen aus dem Torrachen hervor. Es war die Equipage irgend eines hohen Herrn. Hoch thronte der Kutscher auf reich drapiertem Sitz, neben ihm der Lakai. Die beiden bartlosen, blassen Lordgesichter schienen in fürstlicher Unnahbarkeit erstarrt. Unten aber, hinter dem Fenster des Wagens nickte jovial der hohe Herr, denn ein paar Hüte wurden geschwenkt und einige Stimmen, um der Situation gerecht zu werden, riefen »hoch!«

In rascher Folge kam nun ein Wagen nach dem anderen, und die Menge grüßte mit steigender Lebhaftigkeit, teils aus Jux, teils weil die Hochrufe suggestive Kraft hatten, manchmal aber auch aus einem wirklichen Anhänglichkeitsgefühl heraus. So bedurfte sie nur noch eines letzten Anstoßes, um sich zu begeistern.

Der Wagen Sr. Exzellenz des Generals v. Wallbrodt rollte heraus. Schon beim Anblick der bekannten Grauschimmel brach die Menge in brausende Rufe aus. Ein Gesicht erschien hinter dem Fensterglase, eine Hand in weißem Handschuh hob sich grüßend gegen den Helmrand – und der Wagen war vorüber.

Die Zuschauer hatten einen erregten Augenblick durchkostet. Nun war es, ob sie befriedigt seien; sie wandten den letzten Wagen kaum noch Interesse zu und blieben mit Gedanken und Gesprächen noch bei »ihrem« General. Da war ein Mann in der Menge, der tat sich hervor und sagte, wer nicht unter Wallbrodt in Frankreich gefochten, wisse nicht von weitem, wie gütig, wie groß er sei. Wie ein Vater sei er gewesen und zugleich wie ein Held. Man lobte den Fürsten, weil er in kindlicher Verehrung zu dem General aufsähe, der ein Liebling und Kriegskamerad des verstorbenen Fürsten gewesen. Man erzählte sich Klatsch und ganz unwahrscheinliche, unhöfische Anekdoten, in denen der General voll Freimut gegen Schranzentum eine ausschlaggebende Rolle spielte. Und man tröstete sich »ja – so lange wir den noch haben!« ohne klar zu fühlen, gegen was für Übel der General eigentlich schützen sollte oder könnte.

Er aber fuhr durch die Straßen, rasch rollte sein Wagen, lautlos und glatt. Das hohle Klappen der Pferdehufe auf dem Straßendamm begleitete mit regelmäßigem Klang die Fahrt. Am Fenster schienen die Straßenbilder vorüber zu fliegen: Schaufenster voll von bunten Dingen, übergrellt von Licht, dunkle Wagensilhouetten, Menschen, die sich wie mechanisch bewegten. Im westlichen Teil der Stadt vor einem mächtigen Gitter hielt der Wagen. Aber fast schon im Augenblick sprang die breite Pforte auf und der Kutscher lenkte das Gespann hinein. Der von allem Schnee säuberlich freigefegte Fahrweg führte drinnen an die Freitreppe eines palastähnlichen Gebäudes.

Der Diener sprang vom Bock, die Freitreppe herab eilte schon ein anderer Diener, und als nun der General ins Haus ging, folgten sie ihm, sorgsam die Stücke der Ordenstracht haltend, die sie vom Rücksitz des Wagens genommen hatten.

Durch eine weite Halle ging der Weg, an der rechts und links Diensträume lagen, eine Prunktreppe hinauf in den ersten Stock.

Da wohnte der Reichtum. Der hatte köstliche Teppiche überall auf die Fußböden gebreitet und Bilder von strahlendem Wert an die Wände gehängt. Er hatte die schönsten und seltensten Möbel zusammengetragen. Aber auch der Geschmack wohnte da. Der hatte allem Reichtum das Protzige, Brutale weggeschmeichelt und ihm Harmonie aufgezwungen. Im hellen Lichte standen alle Räume und jeder sah aus, als ob man mit traulichstem Behagen gerade da weilen solle. Der General ging bis in das Zimmer seiner Frau. Sie kam ihm schon entgegen, denn sie hatte seine Stimme gehört, die den Leuten befahl, den Mantel und das Barett nur dort auf jenen Tisch zu legen.

Er hatte spät geheiratet und seine Frau war jung. Sie und sein halbwüchsiges Töchterlein hingen an ihm, küßten ihn beglückwünschend und traten dann etwas von ihm zurück, um den flimmernden Stern an seiner linken Brust zu bewundern und die Kette aus durchbrochenen Gliedern, daran ein kleiner goldener Löwe hing.

»Ach, Papa,« bat die junge Claire, »setz' das Barett auf – nimm den Mantel um.«

»Bitte, ja, daß wir dich auch so sehen,« bat Frau Claire. Sie griffen schon nach den prunkvollen und phantastischen Stücken.

Der Mann willfahrte ihnen und sagte ein paar Worte davon, wie der Verlauf der Feier gewesen, wie überaus huldvoll Se. königliche Hoheit sich erwiesen.

»Papa, wie bist du schön – fürstlicher als ein König siehst du aus,« schrie die junge Claire.

Und aus dem Auge der Frau leuchtete Liebe und Stolz.

Die Gestalt des Mannes, der schon das sechzigste Jahr überschritten hatte, zeigte noch Linien jugendlicher Kraft und Schlankheit. Der schwarze Samtmantel der Ordenstracht wallte ihm wie ein Krönungsornat von den Schultern. Auf seinem Haupte das Barett mit den weißen geschwungenen Straußfedern kleidete ihn, als sei es gerade die rechte Tracht für dieses kühne Reitergesicht.

Er lächelte ein wenig zu der Bewunderung der Frauen und trat vor den Spiegel, der im Zimmer eine Ecke ausfüllte, vom Boden bis zur Decke reichend.

Er sah sich an. Seltsam lange, wie ganz versunken in seinen Anblick. Und er sah zugleich im Spiegel den prachtvollen Raum und darin die blonde, behagliche Erscheinung der Frau, die junge, helle Prinzessinnenschönheit der Tochter.

Seine Frau bewachte in heißer Angst sein Gesicht. Und sie sah darin jenen leisen Zug von Bitterkeit und Wehmut, der das geliebte, stolze Angesicht gerade dann so unerklärlich überschattete, wenn heiße Freude darauf zu lesen sein sollte.

Er trat zurück. Er nahm Barett und Mantel ab und legte beides auf den nächsten Stuhl. So maßvoll seine Gebärden waren, so schienen sie doch zu verraten, daß ihm der Anblick dieser Glanzstücke nicht länger angenehm sei.

»Ich habe in meinem Zimmer zu tun – also bis nachher,« sagte er, den Seinen noch flüchtig zunickend.

Traurig sahen sie ihm nach.

In seinem Zimmer brannte nur die Lampe auf dem Schreibtisch. Da sie mit grünem, gefälteltem Stoffschirm überdeckt war, warf sie all ihr Licht allein auf die Schreibtischplatte.

Der Mann setzte sich in den Stuhl davor. Nachdenklich blieb er lange unbeweglich. Dann seufzte er und schloß die Schublade auf. Unter allerlei Papieren, die sich darüber geschoben, nahm er ein kleines Taschenbuch heraus. Es war altmodisch und abgescheuert und enthielt eine kleine, schon ganz bräunliche Photographie – das Bildnis einer Frau.

Der General stützte den Ellbogen auf die Tischplatte und den Kopf in die Hand. In seinem Herzen schwoll die Wehmut. Seine Gedanken erzählten dem Bilde viel – viel.

Alles war nun erreicht, was sie für ihn ersehnt. Jeder Glanz des Lebens umgab ihn: Ehre, Reichtum, Gunst des Fürsten, Liebe des Volkes.

Und sie wußte nichts davon – und keines Menschen Stimme reichte weit genug, ihr die Kunde hinüberzurufen ...

Sein Auge feuchtete sich nicht, er hob nicht das Bildchen an seine Lippen, um es zu küssen. Aber seine ganze Seele war voll Andacht und Ernst. In tiefster Versunkenheit sah er es an und ihm war, als kehre er zu fernen Zeiten wieder zurück.

Darüber hörte er nicht, daß seine Frau das Zimmer betrat. Erst als sie ihm ganz nahe war, erschrak er und schloß schnell das kleine Taschenbuch.

»O, Magnus!«

»Du befiehlst, liebe Claire?«

»Magnus – ich bitte dich – es war das Bild einer Frau. Schon zwei- oder dreimal sah ich, daß du es rasch vor mir verstecktest. Und immer, wenn ...«

»Immer, wenn?« fragte er nach.

»Immer, wenn es eine Stunde war, wo ich das Recht zu haben meinte, mit dir eine freudige Stimmung zu teilen.«

Er nahm ihre Hand und küßte sie.

»Warum schweigst du?« fragte sie mit gesteigertem Ton.

»Weil das, was ich dir sagen müßte, dir so fern liegt – so fern ...«

Er umschlang das kleine Taschenbuch mit festerer Hand. Und die Frau, die ihn eifersüchtig und feinfühlig beobachtete, sah in seiner unwillkürlichen Gebärde viel: Abwehr gegen ihren Wunsch, zu wissen, den festen Vorsatz, ein heiliges Geheimnis zu hüten.

»Was kann fern für mich sein, wenn es dir nahe ist!« sprach sie fast leidenschaftlich.

»Vergangenheit, liebe Claire –« sagte er.

»Nein, Vergangenheit kann nicht sein, was du in Feststunden so trauervoll aufsuchst. Sage mir – diese Frau – du hast sie geliebt – du weinst ihr nach – sie war deine Jugendliebe – du hast sie nicht erringen können – sie aber auch nicht vergessen neben mir – neben mir – o ...«

»Aber – ich bitte dich ...«

Sie ließ sich nicht erbitten. Lange Zeit schon hatte sie allerlei Gedanken in ihrem Kopf gewälzt und eine einfache, aber desto stärkere Phantasie damit genährt.

»Und von mir hinweg sehnst du dich nach ihr – gerade in bedeutungsvollen Augenblicken – du liebst sie noch!«

Sie weinte, und der Mann sah mit erstauntem und gerührtem Herzen, in welchen Kummer sie sich verstrickt hatte. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie mit festem Druck einige Augenblicke schweigend.

Dann, mit einem schweren, raschen Entschluß sagte er: »Sieh.«

Und als sie das Taschenbuch öffnete, fand sie eine dürftige, kleine Photographie, mit ganz unplastischen, leeren Zügen. Eigentlich war an dem Bildchen nichts deutlich, als daß die darauf Dargestellte ein Kleid mit langer Schneppentaille und eine Krinoline getragen hatte. Daß dies Bildchen aus der Zeit stammen mußte, wo die Photographie in den ersten Versuchen stand, war klar.

Der General stand auf.

»Es ist das Bild meiner Mutter,« sagte er. Und er legte den Arm um die Taille seiner Frau. »Komm!«

Er führte sie in die Tiefe des Zimmers hinein. Im Schatten, auf der Chaiselongue, die breit und mächtig sich in der Kaminnähe hinstreckte, setzten sich Mann und Frau. Beide voll Befangenheit. Sie fühlte, daß dieser Mann, der in imposanter Höhe über ihr stand, irgend etwas Schmerzliches gestehen wollte, und sie litt im voraus, weil es ihr peinigend war, ihren Abgott vielleicht in sehr menschlichen Schwächen sehen zu sollen. Auch schämte sie sich, leidenschaftliche Eifersucht verraten zu haben.

Und der Mann wußte, daß seine einfache Erzählung der Frau doch ein kränkendes Geständnis bedeute, nämlich dies, daß er sie einst nicht aus Liebe erwählt, denn Liebe hätte der Geliebten solche Erinnerungen nicht verschwiegen ...

Er nahm wieder die Hand der Frau. Sie sollte fühlen, daß er zu ihr sprach, ob es ihm gleich nicht möglich war, sie anzusehen.

»Ich habe dir gesagt, ich sei arm, als ich damals zu dir kam, ich brachte dir meine Stellung und meinen Namen –«

»Und dich selbst! Also mehr, mehr als all mein Geld,« unterbrach sie ihn warm.

»Nein – nicht mein Selbst! Da noch nicht. Zu dem Wort ›arm‹ hast du gelächelt. Du hattest allerhöchstens einen romantischen Begriff bei dem Wort. Laß dir jetzt sagen, was es mit meiner Armut auf sich hatte. Wie das Leben meiner Mutter war ... Mein Vater starb im Jahre vierzig. Ich war ein Kind von sechs Jahren. In jener kümmerlichen Zeit hungerte halb Deutschland noch von den wirtschaftlichen Folgen der Franzosenzeit. Auch die Wallbrodts hatten einst alles verloren und geopfert. Ein stolzer Name und ein Soldatenrock für ihre Söhne – das war ihnen geblieben. Meiner Mutter blieb die Pension einer Hauptmannswitwe, mir eine Freistelle im Kadettenhaus. Ich glaube, damals bekam eine Hauptmannswitwe fünfhundert Mark Pension ... Stell' dir vor, Claire, du solltest unsere Kinder jahrelang nicht sehen, weil dir das Geld fehlt, sie kommen zu lassen oder zu ihnen zu reisen. Stell' dir vor, du könntest ihnen zum Geburtstag, zum Weihnachtsfest kaum eine andere Freude machen, als ihnen ein paar bitter nötige, praktische Dinge senden. Stell' dir vor, sie lägen in schweren Kinderkrankheiten fiebernd, nach dir wimmernd – und ihr Ruf nach dir hallte ohne Echo wieder von den kahlen Wänden eines Lazaretts! So arm war meine Mutter und so arm war meine Jugend.«

Er besann sich schwer und trübe. Atemlos wartete die Frau.

»Aber einmal, endlich, nach sechs langen Jahren konnte ich sie besuchen. Irgendein großmächtiger Onkel, der seinen Sohn im gleichen Kadettenhaus hatte, fand sich bewogen, mir zwanzig Taler zu schenken. Nicht aus Güte, nur weil er sich vor dem Kommandeur der Anstalt geniert haben mochte, als der ihm ein Wort von meiner Armut gesagt. Aber das war mir damals einerlei. Mir war schon oft zumute gewesen, als würde ich schließlich das Geld rauben, wenn kein Wunder geschähe ...

»Ich beschloß, meine Mutter zu überraschen. Vergib mir, meine Claire, aber stärker als alle schönen Erinnerungen meines Lebens ist die Erinnerung an jenen Tag geblieben, da ich meine Mutter wiedersah. Ich kam, die Brust voll jauchzender Freude, die sechs Jahre der Entbehrung wie gar nicht dagewesen erscheinen ließ. In dem kleinen Landstädtchen fand ich leicht das Haus, wo sie sich eine Stube gemietet hatte. Und in dieser Stube fand ich eine Frau ...

»Eine abgemagerte Frau, die durch ein schweres Leiden verhindert gewesen war, sich ein wenig Geld zu verdienen, die sich nicht hatte satt essen können, die zu hilflos gewesen war, sich mit ihrer Armut schreiend in den Vordergrund zu drängen – die gelitten und gehungert hatte, still, würdig, gefaßt ... Meine Mutter war die Frau – meine Mutter

»Die Freude, mich wiederzusehen – noch einmal zu sehen, brachte sie in Ekstase. Und weil sie schon genau wußte, daß der Tod hinter ihr stand, sprach sie zu mir ... offen ...

»Nie vielleicht hat eine Mutter zu einem Sechzehnjährigen so gesprochen ... nicht bitter ... klar – klug, und doch auch mit jener prophetischen Kraft, die Sterbende haben können. Und diese war durchglüht von Liebe zu dem Sohn, der ihr Traum, ihre Hoffnung, ihre Vergangenheit, ihr Glück, ihr Leiden verkörperte. Sie sah alles voraus, wie es kommen sollte und auch gekommen ist: meine Fähigkeiten würden bemerkt werden, günstige Zufälle würden mich unter die Aufmerksamkeit des Fürsten bringen; eine Zulage aus seiner Schatulle ermöglichte mir den von ihm selbst gewünschten Eintritt in sein Leibregiment. Ich würde steigen – bis zu höchstem Glanz ...

»›Und mein Sohn‹, raunte sie mir mit ihrer heiser-matten Stimme zu, ›dein militärisches Glück wird immer sein wie ein Bau ohne Fundament, wenn du nicht reich bist ... heirate nach Geld ...‹«

Der Mann fühlte, wie die heiße, weiche Hand in der seinen zuckte, und er umschloß sie fester. Seine Stimme zitterte ein wenig, als er weiter sprach.

»Nicht für dich, mein Sohn, nicht für dich tue das – tu's um der Kinder willen, die du vielleicht haben wirst ... Das Hungern war nicht schwer ... für mich nicht, aber daß du darbtest, mein Sohn, an allen Freuden der Kindheit ... das ist das Gift, daran ich sterbe.‹ So flüsterte meine Mutter mir keuchend zu.«

Er schwieg. Und bitter wollte es in der Frau aufwallen: So hast du dann um Geld mich geheiratet.

Aber sie erschrak über diese Aufwallung.

»Und wenn ... und wenn!« fühlte sie, »war ich nicht glücklich mit ihm bis zu dieser Stunde ...«

»Immer hab' ich dir die wahren Farben im Lebensbild meiner Mutter verschwiegen, denn du, die im Luxus Erwachsene, verstehst vielleicht nicht ihre ganze Düsterheit. Und du warst es, die ich nach der nie vergessenen, heißen Mahnung meiner Mutter mir zum Weibe errang, weil – – du reich bist ...«

Die Frau starrte ihn an ... ein paar Herzschläge lang stand ein banges Schweigen zwischen den beiden Menschen.

»Kannst du mir das verzeihen?« fragte der Mann leise.

»O, Magnus ...« Sie brach in Tränen aus.

Er zog sie an sich.

»Und zu all dem Glanz, mit dem das Leben mich umgab, kam noch der strahlendste, der beglückendste. Die Frau, die mir nur sympathisch erschien zu jener Zeit, da ich um sie wegen ihrer Millionen warb, diese Frau mußte ich bald lieben, von Jahr zu Jahr immer inniger, immer sicherer. Und mit der Liebe wuchs die Scham, daß ich einst ihren Wert nicht gleich, nicht ganz erkannt. Wie sollte ich je den Mut haben, ihr das zu gestehen ... Wie sollte ich hoffen dürfen, daß sie mich verstehe ...«

Schon hing die Frau an seinem Halse ... in Tränen und heißer Zärtlichkeit ...

Er hielt sie in seinen Armen.

»Nun weißt du es, warum ich immer zu diesem kleinen Bilde gehen muß ... gerade in solchen Stunden ...

»In allem Glanz ist mir's, als höre ich eine ferne, matte Stimme flüstern ... durch das Hurra der Menge dringt sie und das prunkende Festgewühl am Hof ... Sag' mir, mein Weib, glaubst du, daß ein Sohn je vergessen kann, daß seine Mutter hungerte?«

Da löste sie sich aus seinen Armen und nahm das kleine, dürftige Bild mit behutsamen Bewegungen auf.

Voll Andacht und Ergriffenheit neigte sie ihr Haupt und küßte das Bild.


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