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Eine gute Maske.
Von Flemming Algreen-Ussing

Es war kurz nach dem Schluß der Vorstellung. Das » Grand Théâtre« lag dunkel und tot auf dem weiten Platz, auf den vor einer halben Stunde einige tausend Menschen aus dem großen Bau geströmt waren.

Eine kleine Tür, die neben dem Haupteingang des Theaters lag, wurde geöffnet und wieder geschlossen, und auf den Platz heraus trat die erste Kraft des Theaters, der berühmte Schauspieler Harding. Er winkte einem Automobil, gab dem Chauffeur seine Adresse an, setzte sich in den offenen Wagen und sauste einige Sekunden später nach seiner einsamen Villa, die in der Vorstadt lag.

Die Spaziergänger blieben stehen und sahen Harding nach, der in seinem Automobil zurückgelehnt saß. Und die Spaziergänger hatten wieder Unterhaltungsstoff, denn den hatte man stets, wenn man Harding sah. Über keinen Menschen der ganzen Stadt wurde so viel gesprochen, wie über Harding vom » Grand Théâtre«. Fabelhafte Gerüchte liefen um über seine enorme Gage, über die Kapitalien, die er bei seinen großen Tourneen verdiente, über seine Geliebten und über seine große Villa in der Vorstadt. Aber das Hauptinteresse der Leute beanspruchten die mehr oder weniger wahnwitzigen Vermutungen über seine großen Reichtümer. Und das waren nicht nur Vermutungen. Jüngst hatte man in einer Zeitung gelesen, daß er in der Einschätzungsliste als der erste Steuerzahler aufgeführt sei. Infolge dieser Mitteilung hatte Harding in den letzten vierzehn Tagen täglich ganze Haufen von Bettelbriefen erhalten, die er persönlich durchgelesen und beantwortet hatte: er sähe sich leider nicht in der Lage, zu helfen, was er sehr bedauere. Doch hatte er jedem Brief einen Fünffrankschein beigelegt.

Das war ein kostbares Vergnügen für ihn gewesen. Aber seine Popularität hatte dadurch eine schwindelnde Höhe erreicht, und die Gerüchte über seinen Reichtum stiegen nun ins Sinnlose.

Beides amüsierte Harding. Dagegen amüsierte ihn weniger die natürliche Folge seiner Freigebigkeit: nämlich das geradezu unheimliche Anwachsen der Bettelbriefe. Er konnte ja nicht so fortfahren.

Und gestern hatte er begonnen, alle Bettelbriefe, ohne Ausnahme, in den Papierkorb zu werfen –, ohne sie zu beantworten.

– – – An alles das dachte Harding, während sein Automobil ihn nach Hause führte. Vor dem schweren Eisentor seiner Villa hielt der Wagen mit einem Ruck, Harding sprang heraus, bezahlte, trat ein und schloß die Tür hinter sich zu.

Im Entree empfing ihn der Diener, nahm ihm den Mantel ab und blieb stehen, um seine Befehle zu erwarten.

»Sie können ruhig zu Bett gehen!« sagte Harding.

Der Diener verschwand mit einer Verbeugung.

Harding ging in sein mächtiges Arbeitszimmer, in dem zwei Wände mit ungeheuren Spiegeln bedeckt waren, vor denen er seine Rollen einstudierte. An der dritten Wand hingen Darstellungen aus Theaterstücken und Porträts von Kollegen. Mitten in dieser Wand war die Tür, die ins Entree führte, und durch die er soeben eintrat! Diese, eine ganz schmale, einteilige Tür, bildete den einzigen Ein- und Ausgang des Zimmers, wenn man nicht das große Fenster an der vierten Wand als Passage benutzen wollte. Doch da dies fünfzig Fuß über der Erde lag, eignete es sich nicht gut für solche Zwecke.

Harding schloß sorgfältig die Tür hinter sich. Er fürchtete stets, daß irgendwelches störende Geräusch eindringen könnte, deshalb hatte er auch nur diese Tür in seinem Arbeitszimmer haben wollen. Denn dort mußte er Ruhe haben.

Er drehte an dem elektrischen Schalter, und es wurde hell im Zimmer. Dann setzte er sich an einen kleinen Tisch vor der einen Spiegelwand, drehte einen zweiten Schalter an, der zu zwei Lampen auf dem Tische gehörte, zündete sich eine Zigarette an und begann zu arbeiten.

Morgen sollte die Generalprobe sein zu dem neuen Stück »Der Vagabund«, in dem Harding die Titelrolle spielte. Und er wollte heute abend mit seiner Maske arbeiten. Er hatte eine hervorragende Begabung, die verschiedensten Masken anzunehmen; einst hatte er bei Gelegenheit einer Wette zu seiner großen Freude konstatiert, daß selbst einer seiner besten Freunde sein Gesicht unter der angenommenen Maske nicht erkannt hatte, obgleich er ihm ganz nahe gewesen war.

Harding war ganz von seiner Arbeit in Anspruch genommen. Er legte gerade die letzte Hand an seine Maske, als er einen seltsam knirschenden Laut hörte, der aus dem Entree zu kommen schien. Er stutzte einen Augenblick, sah dann in den Spiegel und vergaß sofort alles über der Betrachtung des Kunstwerkes, das er mit Hilfe von Schminke und falschem Bart aus seinem Gesicht geschaffen hatte. Das war ja eine wundervolle Physiognomie: der schlaff herabhängende Bart, der teils zahnlose Mund, die aufgedunsenen Backen – und unter dem Auge die große Narbe, die zu seiner Vorgeschichte gehörte.

Harding lächelte vergnügt. Die Maske war gut.

Da, wieder ein leise knirschender Ton aus dem Entree. Harding hörte ihn kaum, schenkte ihm jedenfalls keine Aufmerksamkeit. Er hatte an anderes zu denken. Er öffnete einen Koffer, der am Fenster stand, nahm einige merkwürdige Lumpen heraus und war in wenigen Minuten von Kopf bis Fuß ein typischer, korrekter Vagabund.

– – – Was war das! – Da war jemand an der Tür! – Oder war es Einbildung?

Harding war kein Feigling. Aber in seinem Schreibtisch lagen 50  000 Franken bares Geld, für die er morgen Börsenpapiere kaufen wollte. Und er hatte keine Waffe bei sich. Harding hielt sich still wie eine Maus. Nein! Es muß eine Einbildung gewesen sein! Doch morgen wollte er sich jedenfalls einen Revolver kaufen. Solch ein Ding ist ein guter Schutz gegen alle nervöse Unruhe.

Hardings Blick bohrte sich plötzlich fest in die Türklinke. Die Klinke bewegte sich langsam.

Sein Gehirn begann zu arbeiten – rasch und klar: Der elektrische Kontakt, der durch einen Druck seines Fingers seinen Diener herbeirufen würde, war neben dem Türrahmen. Er mußte dorthin. Sollte er hinschleichen oder sollte er die Entfernung mit einem Sprunge nehmen? Er entschied sich für das erstere. Doch Harding hatte noch keine drei Schritte ins Zimmer getan, als die Tür rasch aufgerissen wurde und ein blinkender Revolver ihn still stehen machte wie eine Bildsäule. Ebenso schnell und lautlos, wie die Tür geöffnet worden war, wurde sie nun geschlossen, und Harding sah einen Mann vor sich stehen. Es war ein bleicher junger Herr, tadellos gekleidet, in dunkelgrauem Anzug mit elegantem Pelz. Doch alles das interessierte Harding weniger, als das unbeschreibliche Erstaunen, das sich in dem Antlitz des Mannes ausprägte. Worüber war dieser Gentleman erstaunt? Wenn er mit dem Revolver in der Hand in Hardings Zimmer einbrach, so hatte er doch wohl die Möglichkeit in Betracht gezogen, den Herrn des Hauses anzutreffen. Diese Erwägungen blitzten im Zeitraum von Sekunden durch Hardings Hirn. Aber gleich darauf begriff er plötzlich: Natürlich! Der bewaffnete Gentleman glaubte wohl, einem weniger gut gekleideten Kollegen gegenüberzustehen. Und erklärlicherweise überraschte es ihn, daß zwei Diebe in derselben Nacht an ein und derselben Stelle Einbruch verübten. Ein unmerkliches Lächeln lachte über Hardings Gesicht. Dieser Herr sollte bei seinem Glauben bleiben, so gewiß er die erste Kraft des » Grand Théâtre« war. – Sie konnten ja gemeinsam stehlen. So entging dann Harding jedenfalls dem blinkenden Revolver. Und der berühmte Schauspieler näherte sich dem fremden Herrn als freundlicher Vagabund, wurde aber rasch zum Stehen gebracht durch ein: »Halt, oder ich schieße!« Harding taumelte zurück. Einen Augenblick stand er da und sah den Fremden an, der ihm den Revolver beständig drohend entgegenhielt, und dessen Gesicht nun nicht mehr Erstaunen, sondern Entschlossenheit ausdrückte. Harding, der um jeden Preis in seiner Rolle bleiben wollte, murmelte, daß man doch seine Standesgenossen nicht niederschieße. Der Fremde aber maß ihn verächtlich: »Standesgenossen! Ich verstehe nicht, was Sie meinen! – Hände hoch!« Harding mußte die Hände in die Höhe strecken. Im nächsten Augenblick war der Fremde neben ihm. »Hände herab!« kommandierte er. Harding parierte wie ein gut dressierter Hund. Eine Sekunde später fühlte er ein Paar kalte Handfesseln an seinen Handgelenken.

.

Der Fremde befahl ihm, sich zu setzen. Harding tat es.

Dann erst steckte der Herr im Pelz seinen Revolver in die Tasche, legte seinen Pelz ab und ging im Zimmer umher, als wäre er in seinem eigenen Hause. Er drehte an allen elektrischen Kontakten, so daß das Zimmer in einem Meer von Licht lag. Harding mußte lächeln.

»Darf ich fragen, was Sie eigentlich hier wollen?« Es war ihm unmöglich, diese Frage zurückzuhalten. Der Fremde maß ihn mit den Augen: »Was ich hier will? In meinem eigenen Hause! Ich darf wohl eher fragen, was Sie hier wollen?«

Harding sagte nichts weiter, behielt aber die Rolle des Einbruchsdiebes bei. Mit Rücksicht auf den Revolver des fremden Herrn war er wohl sicherer als Verbrecher denn als Schauspieler Harding. Und die Aussicht, von den infamen Handfesseln befreit zu werden, war wohl in diesem Falle auch größer.

Der fremde Herr ging noch immer im Zimmer umher und untersuchte es genau. Dann wandte er sich mit einem Schulterzucken an Harding und sagte: »Ich sehe, daß Sie noch keine Zeit gefunden haben, irgendwelches Unheil anzurichten. Ich bin also noch im rechten Augenblick gekommen, um zu verhindern, daß Sie mich bestehlen.« – Harding war verblüfft. »Wer sind Sie denn eigentlich?« fragte er. – »Wer ich bin! Und das fragen Sie? Ich bin Schauspieler Harding vom » Grand Théâtre«, den Mann kennen Sie vielleicht, wenigstens doch wohl dem Namen nach.« – Ja, Harding kannte den Mann und sah mit Interesse, das jedoch nicht ohne eine starke Beimischung von Unruhe war, daß Schauspieler Harding Nummer 2 sein Schlüsselbund vom Schreibtisch nahm und einige Schlüssel an dem linken Fach versuchte, das bald danach aufsprang. – Der Fremde lächelte zufrieden und sagte: »Sie haben wirklich nicht viel Zeit gehabt, mein Freund.« Gleichzeitig nahm er ein Paket Geldscheine heraus, die er sorgfältig zählte und in seine Taschen steckte. »Hier sind 50  000 Franken,« sagte er. »Ich habe sie heute mittag an der Bank erhoben und hier hineingelegt, wo ich sie sicher wähnte. Aber es ist wohl besser, daß sie in meinen Eisenschrank kommen.« – Der Fremde trat zu Harding und befahl ihm, aufzustehen. Harding gehorchte. Der Fremde nahm ihm die Handfesseln ab und sagte mit ironischem Lächeln und einer gewissen gutmütigen Teilnahme: »Ja, mein verehrter Freund, so geht's. Sie hatten sich die Sache so fein ausbaldowert. Sie hätten diesmal gar keine Anstrengung nötig gehabt, brauchten nur einfach aufzuschließen und mit dem Mammon nach Hause zu wandern. Jetzt tut es mir fast selbst leid, daß ich Ihnen so unvermutet in die Parade gefahren bin. Ich gehöre zu den Leuten, die jedes Handwerk hochschätzen, und die intelligenten Vertreter der Einbrecherzunft genießen meine ganz besondere Bewunderung. Ich wünsche Ihnen also von Herzen, daß Sie das nächste Mal mehr Glück haben als heute, wenn dieser Wunsch auch mit den Gesetzen ein wenig in Widerspruch steht. Es bleibt mir nur noch übrig, Ihnen mitzuteilen, daß ich auch in dem vorliegenden Fall Gnade vor Recht ergehen lassen will. Ich hoffe, Sie werden mir ein gutes Andenken bewahren und rechne mit Bestimmtheit darauf, daß Sie gelegentlich im Theater den Applaus verstärken, der mir gezollt wird. Sie werden finden, daß ich den Applaus wirklich verdiene.«

Der Pseudo-Schauspieler hatte die letzten Worte mit wirklich bestrickender Liebenswürdigkeit gesprochen. Jetzt wurde er jedoch wieder ernster und sagte kurz und energisch: »Ich will Sie laufen lassen, was Sie ja nach den milden Anschauungen, von denen ich Ihnen eben eine rhetorische Probe gegeben habe, nicht mehr verwundern wird. Aber sind Sie nicht in fünf Minuten draußen, so holt Sie der Teufel. Adieu!« – Harding wurde freundlichst ins Entree hinausgepufft, dann von Herrn Harding Nummer 2 auf die Straße hinausgelassen und stand gleich darauf vor seinem eigenen eisernen Tor, das offen war.

Es dauerte einige Zeit, ehe der Schauspieler sich gefaßt hatte und mit sich einig war. Nun handelte er.

Im Nu hatte Harding einige nächtliche Spaziergänger alarmiert, die versprachen, die Polizei herbeizuholen. An seine Geschichte glaubten sie jedoch nicht. Dazu war seine Maske zu gut.

Inzwischen hielt Harding selbst Wache vor seiner Tür. Er dachte an den Revolver des Herrn im Pelz und konnte nicht froh werden. Er fluchte über die langsame Polizei.

Aber diese kam früh genug. Denn Herr Harding Nummer 2 nahm sich Zeit, und es dauerte ein Weilchen, ehe er die Villa mit den 50  000 Franken in der Tasche verließ.

Glaubte er doch fest, in dem Dieb, den er so großmütig hatte entschlüpfen lassen, einen dankbaren Freund gewonnen zu haben.

Hardings Ruhm als Schauspieler erreichte durch diese Begebenheit, die am nächsten Tage in allen Zeitungen stand, eine schwindelnde Höhe.

Der falsche Herr Harding aber in seiner Zelle ärgert sich über seine Großmut.


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