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Gottfried Keller

Aroleid

Im Wallis liegt ein stiller Ort,
Geheißen Aroleid;
Es seufzt ein Gram im Namen fort
Seit langentschwundner Zeit.

Ein Berghirt hing in Todsgefahr
Am steilen Firnenrand,
Ihn stieß hinunter dort der Aar,
Wo keiner mehr ihn fand.

Auf grüner Matte saß sein Weib;
Das Kind ins Gras gelegt,
Saß sie und schaut' mit starrem Leib
Hinüber, unbewegt.

Hinüber, wo im Dämmerblau
Der Berg zur Tiefe schwand
Und mit des Gipfels Silberau
So still am Himmel stand.

Voll bittrer Sehnsucht sprang sie auf
Und ging im Mattengrün
Mit schwankem Schritt und irrem Lauf
Und heißem Augenglühn.

Da schreit ein Kind, ein Flügel saust
Wohl über ihrem Haupt –
Mit ihrem Kind zur Höhe braust
Der Aar, der es geraubt!

Noch sieht das Wickelband sie wehn
In der kristallnen Luft,
Dann sieht sies wie ein Pünktlein stehn
Im ferneblauen Duft,

Dann nichts mehr, nie, solang sie lebt! –
Sie nahm kein Trauerkleid;
Doch von dem Leid, das dort noch webt,
Der Ort heißt Aroleid.


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