Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Friedrich Rückert

Chidher

Chidher, der ewig junge, sprach:
»Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
Ein Mann im Garten Früchte brach;
Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei.«
Er sprach und pflückte die Früchte fort:
»Die Stadt steht ewig an diesem Ort
Und wird so stehen ewig fort.« –
        Und aber nach fünfhundert Jahren
        Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich keine Spur der Stadt;
Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,
Die Herde weidete Laub und Blatt;
Ich fragte: »Wie lange ist die Stadt vorbei?«
Er sprach und blies auf dem Rohre fort:
»Das eine wächst, wenn das andre dorrt;
Das ist mein ewiger Weideort.« –
        Und aber nach fünfhundert Jahren
        Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
Ein Fischer warf die Netze frei;
Und als er ruhte vom schweren Zug,
Fragt ich, seit wann das Meer hier sei.
Er sprach und lachte meinem Wort:
»So lang, als schäumen die Wellen dort,
Fischt man und fischt man in diesem Port!« –
        Und aber nach fünfhundert Jahren
        Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich einen waldigen Raum
Und einen Mann in der Siedelei,
Er fällte mit der Axt den Baum;
Ich fragte, wie alt der Wald hier sei.
Er sprach: »Der Wald ist ein ewiger Hort;
Schon ewig wohn ich an diesem Ort,
Und ewig wachsen die Bäume fort.« –
        Und aber nach fünfhundert Jahren
        Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich eine Stadt, und laut
Erschallte der Markt vom Volksgeschrei.
Ich fragte: »Seit wann ist die Stadt erbaut?
Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?«
Sie schrien und hörten nicht mein Wort:
»So ging es ewig an diesem Ort,
Und wird so gehen ewig fort.«
        Und aber nach fünfhundert Jahren
        Will ich desselbigen Weges fahren.


 << zurück weiter >>