Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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16

An diesem Morgen gab es aufgeregtes Hin und Her im Wirtschaftshof des Pfarrhauses. Der Metzger vom Artaud hatte das Schwein Matthias in der Scheune geschlachtet. Desiderata hielt voller Eifer die Beine des Schweines, während man es schlachtete, sie küßte es auf das Rückgrat, damit es weniger vom Messer spüre, und versuchte ihm klarzumachen, man müsse es eben jetzt umbringen, wo es so schön fett sei. Niemand konnte besser als sie, mit einem einzigen Hieb Gänsen den Kopf abschlagen oder mit der Schere Hühnern die Gurgel durchschneiden. Ihre Tierliebe fand sich voller Gleichmut mit diesen Morden ab. Es war eben nötig, sagte sie, den Jungen, die heranwuchsen, mußte Platz geschafft werden. Sie war voller Heiterkeit.

»Fräulein,« zankte die Teusin, »Sie werden sich krank machen. Es ist unvernünftig, sich so anzustellen, weil man ein Schwein schlachtet. Erhitzt sind Sie, als hätten Sie einen ganzen Abend getanzt.«

Aber Desiderata klatschte in die Hände und rannte geschäftig hin und her. Sie, die Teusin, hatte sich die Beine abgelaufen, wie sie sagte. Seit morgens sechs Uhr kugelte sie ihr Schwergewicht von der Küche in den Hof und zurück. Sie war es, die das Blut gequirlt hatte, zwei ganz große Schüsseln voll, in der heißesten Sonne. Um ein Haar wäre sie nicht fertig geworden, weil das Fräulein sie für nichts und wieder nichts immer abrief. Allerdings hatte Desiderata gerade, da der Schlächter Matthias abstach, sich sehr aufregen müssen, als sie den Stall betrat. Liese, die Kuh, war im Begriff zu kalben. Vor übergroßer Freude hatte sie da völlig den Kopf verloren.

»Das eine geht, das andere kommt,« schrie sie unter Freudensprüngen und drehte sich um sich selbst. »So sieh doch, Teusin.«

Es war elf Uhr. Von Zeit zu Zeit drang Gesang aus der Kirche. Ein unbestimmtes Gemurmel klagender Stimmen ließ sich vernehmen und Gebetraunen, aus dem sich plötzlich Bruchstücke laut gesprochener lateinischer Sätze hoben.

»So komm doch,« wiederholte Desiderata wohl zum zwanzigsten Male.

»Ich muß jetzt läuten gehen,« knurrte die alte Magd, »sonst werde ich nie fertig. Was ist denn jetzt wieder los, Fräulein?«

Aber sie wartete die Antwort nicht ab, sondern machte sich über eine Schar von Hühnern her, die gierig das Blut aus den Schüsseln trank. Mit wütenden Fußtritten trieb sie sie auseinander. Dann deckte sie die Schüsseln zu und sagte:

»Anstatt mich die ganze Zeit zu plagen, täten Sie besser daran, auf dies diebische Gesindel achtzuhaben ... Wenn das so weitergeht, bekommen Sie keine Blutwürste, verstanden?«

Desiderata lachte. Wenn auch die Hühner ein wenig Blut tranken, so war das kein großes Unglück. Fetter wurden sie davon. Dann wollte sie die Teusin mit Gewalt zu der Kuh schleppen, doch diese wehrte sich.

»Ich muß jetzt läuten ... Die Beerdigung wird gleich anfangen, hören Sie doch.«

In diesem Augenblick schwollen die Stimmen in der Kirche an und erstarben in einem langgezogenen Ton. Ein Geräusch von Schritten ließ sich sehr deutlich vernehmen.

»Ach, sieh doch nach,« bat Desiderata beharrlich und drängte sie nach dem Stall zu; »sag' mir doch, was ich anfangen soll ...«

Die auf die Streu hingestreckte Kuh drehte den Kopf und betrachtete sie unverwandt mit ihren großen Augen. Desiderata behauptete, sie wolle sicher etwas haben. Vielleicht könne man ihr irgendwie helfen, damit sie weniger litte. Die Teusin zuckte die Achseln: als ob die Tiere nicht allein mit ihren Angelegenheiten fertig würden! Man solle sie vor allem nicht plagen. Endlich steuerte sie der Sakristei zu, stieß aber, als sie am Schuppen vorbei kam, neues Wehgeschrei aus.

»Na, warte nur,« sagte sie mit ausgestreckten Fäusten. »Oh, die Spitzbübin!«

Im Schuppen lag Matthias, in Erwartung, daß man ihn räuchere, auf dem Rücken und streckte alle viere von sich. Dem frischen Messerschnitt an seinem Hals entperlten Blutstropfen. Und eine kleine, sehr zart aussehende Henne pickte die Blutstropfen, einen nach dem anderen, auf.

»Sie läßt es sich eben schmecken,« sagte Desiderata einfach, bückte sich und klopfte das Schwein auf den gewölbten Bauch und setzte hinzu:

»Na, mein Dicker, du hast ihnen oft genug die Suppe stibitzt, jetzt dürfen sie dir auch ein bißchen den Hals abknuspern.«

Eilends riß sich die Teusin die Schürze ab und wickelte sie Matthias um den Hals. Dann sputete sie sich und verschwand in der Kirche. Die verrosteten Angeln des großen Tores kreischten, und Gesang drang ins Freie und in den stillen Sonnenschein hinaus. Mit einem Male begann die Glocke in einförmig regelmäßigen Schlägen zu läuten. Desiderata, die noch immer vor dem Schwein auf den Knien lag und ihm den Bauch beklopfte, hob den Kopf und lauschte, sie lächelte ruhig weiter. Als sie sich allein sah und vorsichtig nach allen Seiten Umschau gehalten hatte, stahl sie sich in den Stall und zog die Türe hinter sich zu. Der Kuh wollte sie helfen.

Das kleine Gittertor des Friedhofes, das man so weit als möglich zu öffnen versucht hatte, um den Sarg durchzulassen, hing halb losgerissen neben der Mauer. Auf dem kahlen Feld schlief die Sonne im dürren Gras. Der Leichenzug trat ein unter Absingen der letzten Strophe des Miserere, es gab eine kurze Stille.

»Requiem aeternam dona ei, domine», hob der Abbé Mouret wieder an.

»Et lux perpetua luceat ei,« fügte Bruder Archangias hinzu in heulendem Vorsängerton. Vinzenz im Chorhemd ging voraus, er trug das Kreuz, ein großes Kupferkreuz, von dem das Silber halb abgeblättert war; mit beiden Händen hob er es sehr hoch. Dann kam der Abbé Mouret, blaß, im schwarzen Meßgewand, er hielt den Kopf gerade und sang mit sicheren Lippen, den Blick geradeaus in die Ferne gerichtet. Die brennende Kerze in seiner Hand funkelte kaum etwas heller als das Tageslicht. Und zwei Schritte hinter ihm, ihn fast berührend, schwankte der Sarg Albines, den vier Bauern auf einer Art schwarzbemalter Bahre trugen. Ein zu kurzes Tuch bedeckte den Sarg nur ungenügend, so daß man am Fußende die frischgefügten Tannenbretter erblickte, von Nagelköpfen stählern beglitzert. Mitten hin über das Tuch hatte man weiße Rosen, Hyazinthen und Tuberosen reichlich ausgestreut; sie stammten vom Bett der Toten.

»Gebt doch acht!« schrie Bruder Archangias die Bauern an, als diese die Bahre etwas schräg neigten, um sie, ohne anzustoßen, durch das Gitter zu bringen. »Ihr werdet gleich umwerfen!«

Und er stützte den Sarg mit seinen riesigen Tatzen. In Ermangelung eines zweiten Chorknaben trug er den Weihwasserkessel; auch den Vorsänger mußte er ersetzen, da der Feldhüter nicht abkömmlich war.

»Ihr anderen könnt auch hereinkommen,« sagte er, sich umdrehend.

Da kam noch ein Trauergeleite, Rosaliens Kleinen brachte man, der am Tage vorher seinen Krämpfen erlegen war. Es bestand aus Vater und Mutter, der alten Brichet und Katharina, sowie zwei erwachsenen Mädchen, der Fuchsigen und Lisa. Diese trugen den Sarg des Kleinen zwischen sich.

Die Stimmen schwiegen plötzlich, es wurde wieder still. Die Glocke läutete stetig fort, langsam und kläglich. Das Trauergeleit durchschritt den ganzen Friedhof, um nach dem Winkel zu gelangen, der von Kirche und Hofmauer gebildet wurde.

Heuschreckenzüge flogen davon, Eidechsen huschten schnell in ihre Löcher zurück. Über diesem Stück fetter Erde brütete es noch drückend heiß. Ein schwaches Knirschen der Grashalme, die von den Füßen der Leidtragenden niedergetreten wurden, hörte sich an wie ersticktes Schluchzen.

»Hier bleibt ihr stehen,« sagte der Bruder und vertrat den beiden großen Mädchen, die den kleinen Sarg trugen, den Weg. »Ihr wartet, bis ihr an die Reihe kommt; ihr braucht uns nicht die Füße abzutreten.«

So stellten die großen Mädchen den kleinen Sarg auf die Erde, Rosalie, Fortunat und die alte Brichet blieben in der Mitte des Friedhofes stehen, nur Katharina folgte verstohlen Bruder Archangias. Das Grab Albines hatte man links vom Grabstein des Abbés Caffin ausgeschaufelt, dessen Weiße in der Sonne wie silberbeflittert erschien. Die gähnende, noch frische Grube tat sich auf im dichtwuchernden Gras; lange Halme bogen sich halbentwurzelt über den Rand; eine Blume war auf den Grund gefallen, rot überblätterte sie die Erdschwärze. Als der Abbé Mouret vortrat, gab der lockere Boden nach unter seinen Füßen; er mußte zurückweichen, um nicht in das Grab zu stürzen.

»Ego sum...« stimmte er an mit kräftiger, voller Stimme, die das Klagewimmern der Glocke übertönte. Bei den Endstrophen konnten die Umstehenden sich nicht enthalten, verstohlene Blicke in die noch leere Höhle zu tun. Vinzenz, der das Kreuz am Fuß der Grube, dem Priester gegenüber, aufgepflanzt hatte, ließ duch Scharren kleine Sandstrahlen rinnen, deren Niederrieseln er aufmerksam betrachtete, Katharina, die sich, um besser zu sehen, hinter ihm vorbeugte, mußte hierüber lachen. Die Bauern hatten die Bahre ins Gras gestellt und rieben sich die Arme, während Bruder Archangias den Weihwasserwedel bereitete.

»Hierher, Packan!« rief Fortunat.

Der große schwarze Hund, der die Bahre umschnupperte, kam mürrisch zurück.

»Wer hat denn auch den Hund mitgenommen?« rief Rosalie.

»Jemine, er wird uns wohl nachgelaufen sein,« sagte Lisa, im stillen erfreut.

All diese Leute umstanden unter halblauten Gesprächen den Sarg des Kleinen. Der Vater und die Mutter vergaßen ihn von Zeit zu Zeit, sahen sie ihn dann plötzlich zu ihren Füßen stehen, verstummten sie.

»Und Vater Bambousse hat also nicht kommen wollen?« erkundigte sich die Fuchsige.

Die alte Brichet hob die Augen zum Himmel.

»Gestern, als der Kleine starb, sagte er, alles möchte er kurz und klein schlagen. Nein, ein guter Mann ist das nicht, ich muß es sogar in deiner Gegenwart sagen, Rosalie. Erdrosselt hat er mich um ein Haar und dabei geschrien: eines seiner Felder hätte er darum gegeben, wenn der Kleine drei Tage vor der Hochzeit gestorben wäre.«

»Alles ist eben nicht vorauszusehen,« sagte der lange Fortunat mit schlauem Blinzeln.

»Was liegt denn daran, wenn der Alte sich ärgert!« fügte Rosalie hinzu. »Wir sind ja jetzt sowieso verheiratet.«

Sie lächelten sich über dem kleinen Sarg mit glänzenden Augen zu. Lisa und die Fuchsige stießen sich mit den Ellbogen an.

Alle wurden wieder sehr ernst, Fortunat hatte eine Erdscholle aufgerafft, um Packan zu verjagen, der sich jetzt auf alten Gräbern herumtrieb.

»Ach, nun ist es bald so weit,« hauchte sehr leise die Fuchsige. Vor der Grube kam der Abbé Mouret mit dem De Profundis zu Ende. Dann näherte er sich langsamen Schrittes dem Sarg, richtete sich auf, betrachtete ihn einen Augenblick, ohne mit der Wimper zu zucken. Er schien gewachsen, eine ruhige heitere Ruhe verklärte sein Antlitz.

Er neigte sich, hob eine Handvoll Erde auf und streute sie in Kreuzform über den Sarg. Seine Stimme klang so klar, daß auch nicht eine Silbe verlorenging, als er hersagte:

»Revertitus in terram suam unde erat, et spiritus redit ad Deum qui dedit illum

Es durchschauerte die Umstehenden, Lisa wurde nachdenklich und sagte in mißvergnügtem Ton:

»Spaßig ist das ja wirklich nicht, wenn man bedenkt, daß es einem genau so geht eines Tages.«

Bruder Archangias hatte dem Priester den Weihwasserwedel gereicht.

Dieser sprengte mehrmals Weihwasser über den Sarg und murmelte:

»Requiesquat in pace

»Amen,« antworteten zu gleicher Zeit Vinzenz und der Bruder, der eine so hoch, der andere so tief, daß Katharina sich die Faust auf den Mund drücken mußte, um nicht auszuplatzen.

»Nein, nein, spaßig ist das nicht,« fuhr Lisa fort. »... Keine Seele ist bei der Beerdigung dabei. Ständen wir nicht da, der Friedhof wäre leer.«

»Man erzählt, sie habe sich umgebracht,« sagte die alte Brichet.

»Ja, ich weiß,« fiel ihr die Fuchsige ins Wort. »Der Bruder wollte nicht, daß man sie bei den Christen begräbt. Aber der Herr Pfarrer hat geantwortet, die Ewigkeit sei für alle da. Ich war gerade dabei... Wie dem auch sei, der Philosoph hätte ruhig kommen können.«

Aber Rosalie brachte sie zum Schweigen, indem sie murmelte:

»Ach, seht doch, da ist er ja, der Philosoph!«

Tatsächlich betrat Jeanbernat den Friedhof. Er schritt geradewegs auf die Gruppe los, die die Grube umstand. Er ging mit seinem munteren Schritt, der noch so geschmeidig war, daß er kein Geräusch machte. Als er herangekommen war, blieb er hinter Bruder Archangias stehen, dessen Genick er einen Augenblick zärtlich anzublicken schien. Als Abbé Mouret mit den Gebeten fertig wurde, zog Jeanbernat seelenruhig ein Messer aus seiner Tasche, öffnete es und schlug mit einem einzigen Hieb dem Bruder das rechte Ohr ab.

Niemand hatte Zeit gehabt dazwischenzutreten. Der Bruder brüllte auf.

»Das linke kommt ein andermal dran«, sagte Jeanbernat ruhig und warf das Ohr auf die Erde. Und er ging wieder davon.

Die Bestürzung war so groß, daß man ihn nicht einmal verfolgte.

Bruder Archangias hatte sich auf den Haufen ausgehobener frischer Erde fallen lassen und preßte sein Taschentuch auf die Wunde. Einer der vier Träger wollte ihn fortbringen, ihn nach Hause führen. Aber Bruder Archangias lehnte mit einer Handbewegung ab. In wildem Trotz blieb er da und wartete, wollte sehen, wie Albine in das Loch hinabgesenkt wurde.

»Endlich sind wir dran«, sagte Rosalie mit einem leichten Seufzer.

Indessen verweilte Abbé Mouret noch an der Grube, um den Trägern zuzusehen, die Albines Sarg anseilten, um ihn ohne Erschütterung hinabgleiten zu lassen. Die Glocke läutete noch immer; doch die Teuse mußte wohl müde werden, denn die Schläge kamen aus dem Takt als seien sie ungehalten, daß die Zeremonie so lange dauerte. Die Sonne wurde heißer, der Schatten der Einsiedlerin wanderte langsam über die Gräser, unter denen die Gräber Buckel bildeten. Als Abbé Mouret zurücktreten mußte, um nicht im Wege zu stehen, fiel sein Blick auf den marmornen Grabstein des Abbé Caffin, jenes Priesters, der geliebt hatte und der dort so friedlich unter den wilden Blumen schlief.

Während der Sarg, gehalten von den Seilen, deren Knoten ihm knarrende Laute entrissen, hinabglitt, erhob sich auf dem Wirtschaftshof hinter der Mauer ein Heidenlärm. Die Ziege meckerte. Die Enten, die Gänse, die Puten klapperten mit dem Schnabel, schlugen mit den Flügeln. Die Hennen gackerten alle miteinander. Der fahlrote Hahn Alexandre stieß seinen hellen Claironruf aus. Man hörte sogar, wie die Kaninchen in ihren Boxen herumsprangen, daß die Bretter wackelten. Und über all diesem lärmenden Leben des Tiervölkchens erscholl lautes Lachen. Röcke raschelten; mit aufgelöstem Haar, mit bis zu den Ellbogen nackten Armen, mit vor Siegesstolz rotem Gesicht kam Désirée zum Vorschein und stützte die Hände auf die Mauerkante. Sie mußte wohl auf den Dunghaufen gestiegen sein.

»Serge! Serge!« rief sie.

In diesem Augenblick war Albines Sarg auf dem Grunde der Grube angekommen. Man hatte soeben die Seile wieder heraufgezogen. Einer der Bauern warf eine erste Schaufel Erde hinab.

»Serge! Serge!« rief Desiree noch lauter und klatschte in die Hände. »Die Kuh hat ein Kälbchen bekommen!«


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