Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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14

Alles Heraufbeschwören der großen Glückseligkeit seiner Jugend hatte den Abbé Mouret in leichtes Fieber versetzt. Es war ihm nicht mehr kühl. Er ließ die Feuerzange fallen, ging auf das Bett zu, wie wenn er sich niederlegen wollte, dann ging er zurück ans Fenster, lehnte die Stirn gegen die Scheiben und sah blicklos hinaus in die Nacht. War er denn krank, daß ihm solche Schwere in den Gliedern lag, das Blut ihm siedend durch die Adern schoß. In seiner Seminarzeit war es zweimal vorgekommen, daß ähnliches Übelbefinden ihn ergriff, eine Art körperlicher Gejagtheit, die ihn sehr unglücklich machte; einmal hatte er sich sogar zu Bett legen müssen in heftigen Delirien. Eine junge Besessene fiel ihm ein; Bruder Archangias gab an, er habe sie mit einem einfachen Kreuzzeichen geheilt, als sie eines Tages in Starre vor ihm verfiel. Das brachte ihm die geistigen Beschwörungsmittel ins Gedächtnis, die einer seiner Lehrer ihm früher anempfohlen hatte. Gebet, Generalbeichte, häufiges Kommunizieren, die Wahl eines weisen, geistigen Führers, der eine große Macht hätte über den Geist seines Beichtkindes. Dann, ohne Übergang mit einer Unvermitteltheit, die ihn erschreckte, trat aus den Tiefen seiner Erinnerung das pausbäckige Antlitz eines seiner früheren Freunde, eines Bauernjungen, der mit acht Jahren schon Chorknabe wurde und dessen Unterhalt im Seminar eine Gönnerin bezahlte. Er war immer vergnügt, genoß im voraus in aller Einfalt die kleinen Vorteile des Berufes: die zwölfhundert Franken Gehalt, den gartenumhegten Pfarrhof, die Geschenke, Einladungen, kleinen Nebeneinnahmen bei Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen. Ach, er war wohl glücklich in seiner Pfarre. Das trübe Bedauern, das ihn bei dieser Erinnerung beschlich, setzte den Priester in äußerstes Erstaunen. War er denn nicht auch glücklich? Bis zu diesem Tag hatte er nichts vermißt, nichts ersehnt, nichts beneidet. Und selbst in dieser Stunde befragte er sich und fand in sich keinerlei Anlaß zu Bitterkeit. Er glaubte genau so zu sein wie in der Frühzeit seines Diakonats, als die Pflichten des Tages, zur bestimmten Zeit Brevier zu lesen und anhaltende Gebete seine Tage füllten. Seit jener Zeit verstrichen Wochen, Monate, Jahre, ohne daß er Muße zu schlechten Gedanken gefunden hätte. Zweifel quälten ihn nicht; er schloß sich ab vor Geheimnissen, die er nicht verstehen konnte, brachte mit Leichtigkeit seinen Verstand, den er verachtete, zum Opfer. Beim Austritt aus dem Seminar hatte es ihn mit Freude erfüllt, sich als Fremder unter den Menschen zu fühlen, einen anderen Gang zu haben als sie, anders den Kopf zu tragen, Gesten, Worte, Gefühle eines Ausnahmewesens zu besitzen. Er fühlte sich verweiblicht, Engeln verwandt, erlöst von seinem Geschlecht, den männlichen Dünsten. Fast stolz machte es ihn, der Art nicht mehr anzugehören, Gott auferzogen zu sein, durch strengste Erziehung von aller menschlichen Untat sorgfältig frei gehalten worden zu sein. Noch jetzt war ihm, als sei er jahrelang in geheiligten Spezereien aufbewahrt worden, die seine Körperlichkeit mit beginnender Verklärung getränkt hätten. Gewisse Organe waren ihm geschwunden, nach und nach aufgelöst: sein Gehirn, seine Glieder entledigten sich des Stofflichen, erfüllten sich mit Seele, mit einer feinen Luft, die ihn in eine schwindelnde Berauschtheit versetzte, als ob die Erde plötzlich unter ihm wiche. Furchtsamkeit, Einfalt, Unwissenheit eines Nönnchens waren ihm eigen. Manchmal äußerte er lächelnd, seine Kindheit erlebe er weiter, er bilde sich ein, ganz klein geblieben zu sein, die gleichen Gefühle, die gleichen Einfälle, die gleichen Ansichten sich bewahrt zu haben; sechsjährig kannte er Gott ebenso wie im Alter von fünfundzwanzig Jahren, in seinen Gebeten fand er die gleichen Stimmbiegungen; es machte ihm die gleiche Freude, in aller Richtigkeit die Hände zu falten. Die Welt schien ihm die gleiche Welt, die er sah, wenn er an der Hand seiner Mutter spazierte. Er war als Priester erzogen, als Priester aufgewachsen. Wenn er in Gegenwart der Teuse Beweise gab von grober Lebensunkenntnis, sah sie ihm verblüfft in die Augen und sagte mit einem eigenen Lächeln, »daß er in Wahrheit der Bruder sei von Fräulein Desiderata«. Nur einer beschämenden Erschütterung konnte er sich in seinem Leben erinnern. In den sechs letzten Seminarwochen war es gewesen, zwischen Diakonar und Priesterschaft. Man hatte ihm das Werk des Abbé Cruisson, Prior des großen Seminars in Valenciennes, zu lesen gegeben: »De rebus veneris ad usum confessariorum«. Schluchzend, entsetzt ging er aus der Lektüre hervor. Diese gelehrte Einteilung des Lasters, die Darlegung menschlicher Greuel, die hinabstiegen bis zu den Fällen widernatürlicher Leidenschaften, vergewaltigte gröblich seine körperliche und geistige Unberührtheit. Er blieb betrübt wie eine Braut, die von einer Stunde zur anderen in die Liebesgewaltsamkeiten eingeführt wird. Und selbstverständlich mußte er jedesmal zurückgreifen auf diese beschämenden Schandfragen, wenn er Beichte hörte. Wenn die Unklarheiten des Dogmas, die priesterlichen Pflichten, das Absterben jeglicher freien Willensäußerung ihn nicht aus dem Gleichgewicht brachten, ihn in seiner beglückten Gotteskindschaft ließen, so war doch ihm selbst zum Trotz die Sinneserschütterung verblieben von jenem Schmutz, den er durchwühlen mußte; er blieb sich bewußt einer unauslöschlichen Befleckung, irgendwo, in der Tiefe seines Wesens, die eines Tages anwachsen könnte und ihn im Morast ersticken.

Hinter Garrigues hob sich der Mond. Der Abbé Mouret im wachsenden Fieber öffnete das Fenster, stützte sich mit den Ellbogen auf, um sein Gesicht zu baden in nächtlicher Kühle. Er entsann sich nicht mehr genau, wann dies Übelbefinden ihn überkommen hatte. Wohl aber entsann er sich, daß er am Morgen bei der Messe sich wohl und ausgeruht fühlte. Es war wohl später gekommen, vielleicht bei dem langen Weg in der Sonne oder unterm Baumrauschen des Paradeis, der Stickluft von Desideratas Wirtschaftshof. Er ließ den Tag an sich vorüberziehen. Vor ihm erstreckte sich die weite Ebene, trauervoller noch unter den blassen Mondesstrahlen. Die Oliven, Mandelbäume, mageren Baumstämme bildeten graue Inseln inmitten der Wüstenei grauer Felsblöcke bis zum dunklen Streif der horizontbegrenzenden Hügelkette. Weite Schattenflächen waren zu sehen, gebuckelte Steinaderungen, blutigrote Erdlachen, die rote Sternblicke zu spiegeln schienen, kreidige Weiße, wie ausgezogene weibliche Kleidungsstücke, die in Finsternis gebadete Körper entblößten, eingebettet in Geländesenkungen. Bei Nacht bekam dies glühende Land das Aussehen einer eigenartig leidenschaftlichen Hingegossenheit. In Zerrissenheit, Verrenkung und Wirrnis schlief es mit gespreizten Gliedern, und lautief entströmten ihm schwere Düfte einer heißen Schläferin. Wie eine kraftvolle Cybele, rücklings niedergestreckt mit vorgereckter Brust, den Leib unterm Mond, trunken von Sonnengluten und immer noch von Befruchtung träumend. In der Ferne, entlang an diesem großen Körper, verfolgte der Blick des Abbé Mouret den Weg nach den Olivettes, dessen blaßschmales Band sich dahinwand wie die flatternden Schnürsenkel eines Mieders. Er sah wieder, wie Bruder Archangias den Mädchen nachlief, ihnen die Röcke hob und sie blutig schlug, sah ihn dann den Mädchen ins Gesicht spucken, selbst den Gestank eines Bockes, der sich befriedigt, verbreitend. Er sah die Rosalie versteckt lächeln mit tierhaft unzüchtigem Ausdruck, während Vater Bambousse ihr Erdschollen nachwarf. Auch da noch war es ihm gut gegangen, kaum daß der sonnige Tag ihm den Nacken hitzte. Er spürte nichts als eine unbestimmte Bewegung hinter seinem Rücken, jenes Lebensraunen, das er undeutlich vernommen hatte vom Morgen an, bei der Messe, als die Sonne durch die geborstenen Fenster drang. Nie wie jetzt zu dieser nächtlichen Stunde hatte ihn die Landschaft bedrängt, mit ihrer Riesenbrust, den weichen Schultern, dem bernsteinfarbenen Hautglanz, der ganzen göttinnenhaften Nacktheit, kaum verhüllt von sanft silbrigen Mondmusselinen.

Der junge Priester senkte den Blick und betrachtete das Dorf Artaud. Es lag im Schlaf schwerer Ermüdung, der gänzlichen Ausgelöschtheit bäuerlichen Schlafes. Nirgends ein Licht. Die Baulichkeiten standen als schwarze Massen, durchschnitten von den sich kreuzenden weißen Stegen, durch die das Mondlicht floß. Sogar die Hunde schnarchten wohl auf den Schwellen der geschlossenen Türen. Hatte das Artaud vielleicht die Pfarre verpestet mit schauderhafter Seuchenplage? Hinter sich hörte er stetig anwachsend jenes Rauschen, dessen Näherkommen ihn so mit Angst erfüllte. Jetzt war es ihm wie das Getrappel einer Herde, ein Staubwirbel, der ihm die Ausdünstungen einer Tierschar zutrug. Seine morgendlichen Überlegungen kamen ihm wieder, über diese Handvoll Leute, die wie im Anbeginn der Zeiten lebten, zwischen dem Felsgetürm wuchernd, gleich einer Handvoll Disteln, von Winden gesät; es war ihm, als sei er Zeuge des langsamen Erwachsens einer Rasse. Als Kind erstaunte und entsetzte ihn nichts mehr als die Myriaden Insekten, die er den Spalten entkriechen sah, beim Aufheben feuchten Gesteins. Das Artaud, schlafend sogar, in Schattentiefen ermattet, beunruhigte ihn mit erdrückendem Atem, den er aus der Luft um sich einsog.

Er hätte sich unter seinem Fenster nichts als Felsen gewünscht. Das Dorf war nicht erstorben genug, die Hüttendächer blähten sich wie Brüste, aus den rissigen Türen drang Seufzen, leises Knirschen, ein lebenerfülltes Schweigen, das von wimmelnder Anwesenheit in diesen Verstecken kündete, nachtschwarz gewiegt. Zweifelsohne war es dieser Schwaden, der ihm Übelkeit verursachte. Er hatte ihn zwar oft gleich stark eingeatmet, ohne anderes zu bedürfen als Gebeterfrischung.

Mit feuchten Schläfen ging er zum anderen Fenster und öffnete es, im Drang nach bewegter Luft. Links unten zog sich der Kirchhof hin mit der hohen Zeile der Einsiedlerzypresse; kein Lufthauch erhob sich, vom kahlen Acker stieg der Geruch frischgemähter Wiese. Die große, graue Kirchhofsmauer, eidechsenüberlaufen und levkoienüberwachsen, wurde vom Mondlicht angekältet; während eines der großen Fenster aufglänzte, und die Scheiben schienen wie Stahlplatten. In der schlafenden Kirche lebte zu dieser Stunde wohl nur das außermenschliche Sein des Hostiengottes, verschlossen im Tabernakel. Er gedachte des goldenen Scheins der ewigen Lampe, den die Schatten bedrängten, und war versucht herunterzusteigen, um seinen schmerzenden Kopf inmitten dieser reinen makellosen Finsternis zu kühlen. Aber eine seltsame Furcht hielt ihn zurück: er vermeinte plötzlich, nach den monderleuchteten Scheiben schauend, zu sehen, wie die Kirche von innen heraus zu leuchten begann in der Gluthitze höllischen Festglanzes. Der ganze Mai, Pflanzen, Tiere zeigte sich dort, die Mädchen aus Artaud, Bäume wild mit nackten Armen umschlingend. Dann sah er, sich vorbeugend, in Desideratas Hof, der in Schwärze dampfte. Er vermochte nicht deutlich die Kaninchenställe zu unterscheiden, die Hühnerställe, das Entenhaus. All dies war aufgeschichtet in dem Gestank und ruhte in der gleichen verdorbenen Luft. Unter der Stalltüre drang der scharfe Geruch der Ziege hervor. Das kleine Schwein, auf den Rücken gewälzt, schnarchte fett neben geleertem Trog. Aus seiner Kupferkehle stieß der große, fahlrote Hahn Alexander einen Schrei aus, der in der Ferne, einen nach dem anderen, die leidenschaftlichen Anrufe sämtlicher Dorfhähne weckte.

Urplötzlich fiel es dem Abbé Mouret ein: das Fieber, dessen Verfolgung er spürte, hatte ihn überfallen in Desideratas Hof, angesichts der brutwarmen Hennen und der Kaninchenmütter mit ausgerissenem Bauchflaum. Das Gefühl eines Atems in seinem Nacken war so deutlich, daß er sich wenden mußte, um endlich zu sehen, wer ihm derart im Nacken fauchte. Und Albine kam ihm in den Sinn, wie sie dem Paradeis entsprang, wie die Türe zuschlug vor dem auftauchenden Zaubergarten; er entsann sich ihres Laufes an der endlosen Mauer entlang, dem Wagen nach, Birkenblätter in den Wind streuend, wie ebenso viele Küsse; weiter fiel ihm ein, wie sie in der Dämmerung über die Flüche Bruder Archangias' gelacht hatte, am Boden hinstreifend mit den Röcken, einer kleinen Staubwolke vergleichbar, vom Abendwind aufgetrieben. Sechzehn Jahre war sie alt; eigenartig war sie mit ihrem etwas langen Gesicht; sie duftete nach frischer Luft, Grün und Erde. Und so genau war sie ihm im Gedächtnis, daß er sich einer Schramme erinnerte an einem ihrer geschmeidigen Handgelenke, rosig auf der weißen Haut. Warum lachte sie denn derart, als sie ihn blauäugig betrachtete? Er war gefangen in ihrem Lachen wie in einer klingenden Flut, die gegen ihn brandete; er atmete sie ein, fühlte sie in sich erzittern. Ja, all sein Elend kam von dem Lachen, das er getrunken hatte.

In der Mitte des Zimmers stehend, bei offenen Fenstern, schlugen ihm die Zähne aufeinander, von einer Furcht ergriffen, die ihn den Kopf in den Händen bergen ließ. Der ganze Tageslauf gipfelte in dieser Beschwörung eines blonden Mädchens mit länglichem Gesicht und blauen Augen. Und die ganzen Tagerlebnisse drangen zu den Fenstern hinein. Da waren in der Ferne die heißroten Erden, die leidenschaftlichen Felsstürze, steinentsproßten Oliven, Rebenstöcke, die ihre Äste an den Wegwänden wanden, in größerer Nähe dann menschliche Dünste, die die Luft vom Artaud herauftrug, die faden Gerüche des Kirchhofes, die Weihrauchdüfte der Kirche, durch die Ausdünstungen der Mädchen mit ungewaschenen Haaren verändert; noch anders hob sich vom Misthaufen der Brodem vom Wirtschaftshof, die betäubenden Gärungskeime. Und alle diese Ausatmungen strömten zusammen in schweren Qualm, so übermächtig sich verdichtend, daß er zu ersticken glaubte. Er verschloß seine Sinne, versuchte sie abzutöten. Aber Albine tauchte wieder vor ihm auf wie eine große Blüte, schön erstanden aus diesem Fruchtboden. Sie war die natürliche Blüte dieser Unsauberkeiten, sonnenzart, ihre jungknospende Schulterweiße erschließend, so lebensfroh, daß sie von ihrem Stengel sprang und seinen Lippen zuflog, ihn mit ihrem hallenden Lachen überduftete.

Der Priester stieß einen Schrei aus. Er hatte einen Brand an seinen Lippen gespürt. Wie ein Feuerstrahl war es ihm durch die Adern gezuckt. Da warf er sich schutzsuchend auf die Knie vor der Figur der unbefleckten Empfängnis und rief mit gefalteten Händen:

»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, bitte für mich!«


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