Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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6

Der nächste Tag war ein Sonntag. Da so der Tag der Kreuzerhebung mit einem Hochamt zusammenfiel, wollte der Abbé Mouret dieses Fest mit besonderem Glanz umgeben. Er hatte sich einer außerordentlichen Verehrung zum Kreuz ergeben; in seinem Zimmer hatte er an die Stelle der unbefleckten Empfängnis ein großes schwarzes Holzkruzifix gestellt, vor dem er lange Stunden der Anbetung hinbrachte. Das Kreuz erhöhen, es vor sich aufrichten in alles überragender Glorie, dies als einzigstes Streben seines Lebens, gab ihm Kraft zum Leiden und zum Kampf. Er erträumte, sich an Jesu Statt dem Kreuz zu binden, dornengekrönt, mit durchbohrten Gliedern und verwundeter Seite. Was für ein Feigling war er doch, daß er es wagte, über eine unwirkliche Wunde zu stöhnen, wenn sein Gott dort seinen Leib verbluten ließ mit dem Erlöserlächeln um die Lippen? Und so erbärmlich es auch war, er brachte sein Leid als Opfergabe dar; in endlicher Entzückung vermeinte er, sein Blut riesele ihm über Stirne, Brust und Glieder. Trostreiche Stunden waren das, alle Unreinheit strömte aus durch die Wunden. In märtyrerhaftem Heldentum bäumte er sich, ersehnte schreckliche Foltern, um sie ohne das geringste Zurückbeben seines Leibes zu ertragen.

Schon bei Morgengrauen kniete er vor dem Kruzifix. Und die Gnade fiel wie reicher Tau. Keiner Anstrengung bedurfte er, er brauchte nur das Knie zu beugen, um sie über sein Herz fließen zu fühlen, um von ihr durchtränkt zu werden bis auf die Knochen, süß und beseligend. Am Tag zuvor hatte er tödlich gerungen, ohne sie erlangen zu können. Lange blieb sie taub seinem Verdammnisklagen; er wurde oftmals erhört, wenn er nur noch mit einer kindlichen Bewegung die Hände zu falten vermochte. An diesem Morgen ward ihm Segen, völlige Ruhe und unerschütterlicher Glaube beschieden. Er vergaß die Beängstigungen der vorhergehenden Tage. Er gab sich ganz sieghaften Kreuzfreuden hin. Ein so undurchdringlicher Panzer legte sich um ihn, daß die Welt von ihm abschäumte. Als er herunterkam, ging er einher als Überwinder und in vollkommener Ruhe. Die tief verwunderte Teusin holte Desiderata herbei, damit er sie umarme. Beide schlugen die Hände über dem Kopf zusammen mit dem Ruf, seit sechs Monaten habe er nicht so gut ausgesehen.

In der Kirche beim Hochamt fand der Priester sich dann wieder vollkommen zu Gott. Lange war er dem Altar nicht genaht in solcher Rührung. Er mußte an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen beim Küssen des Altares. Es war ein feierliches Hochamt. Rosaliens Onkel, der Feldhüter, sang am Sängerpult mit einem Baß, dessen Orgeltöne unter'm flachen Gewölbe dröhnten. Vinzenz, in einem zu weiten Chorhemd, das dem Abbé Caffin gehört hatte, schwenkte ein altes silbernes Weihrauchbecken. Die klirrenden Ketten machten ihm einen Heidenspaß, er schwenkte das Räuchergefäß sehr hoch, um starken Rauch zu erzeugen und sah sich um, ob niemand zum Husten gebracht würde. Die Kirche war fast voll. Man wollte die Malerei des Herrn Pfarrers betrachten. Die Bäuerinnen kicherten, weil es gut roch, während die Männer hinten unter der Tribüne mit dem Kopf nickten bei jedem ungewöhlich hohlen Ton, den der Vorsänger von sich gab. Durch die Fenster schien die helle Zehnuhrsonne, gedämpft durch die Papierscheiben und bemusterte lustig die frisch getünchten Wände, auf denen Schatten der Frauenhauben einen Flug großer Schmetterlinge zeichneten.

Und selbst die Sträuße künstlicher Blumen auf dem Altaraufsatz waren angetan mit der taufrischen Freude natürlicher, frischgepflückter Blumen. Als der Priester sich wandte, um die Anwesenden zu segnen, fühlte er sich von noch höherer Rührung durchdrungen, als er die Kirche so sauber, belebt, von Licht, Weihrauch und Musik erfüllt, erblickte. Nach dem Offertorium lief ein Raunen durch die Reihen der Bäuerinnen. Vinzenz, der vor Neugier einen langen Hals machte, warf um ein Haar die Glut des Weihrauchfäßleins über das Meßgewand des Priesters. Als dieser ihn streng ansah, wollte er sich entschuldigen und sagte:

»Der Onkel des Herrn Pfarrers ist gerade hereingekommen.«

Im Hintergrund der Kirche, an eine der dünnen, die Galerie stützenden Holzsäulen gelehnt, gewahrte der Abbé Mouret den Doktor Pascal; doch sein Gesicht trug nicht das ihm gewöhnliche gute, etwas spöttische Lächeln. Er hatte den Hut abgenommen, ernst und geärgert folgte er der Messe mit sichtbarer Ungeduld. Der Anblick des Priesters, seine Sammlung und feierlichen Gebärden, die vollkommene Seelenruhe seines Antlitzes schienen ihn mehr und mehr aufzubringen. Er vermochte das Ende der Messe nicht abzuwarten, sondern ging hinaus und umschritt im Bogen Wagen und Pferd, die er an einen der Läden des Pfarrhauses angebunden hatte.

»Zum Kuckuck! Hat der Bengel sich denn noch nicht bald genug beräuchern lassen?« fragte er die aus der Sakristei kommende Teusin.

»Es ist aus,« erwiderte sie. »Gehen Sie in den Salon. Der Herr Pfarrer kleidet sich um. Er weiß, daß Sie da sind.«

»Da müßte er ja auch blind sein,« murmelte der Doktor und folgte ihr in das unwohnliche Zimmer mit den harten Möbeln, das sie pomphaft Salon nannte.

Eine Weile ging er auf und ab. Das Zimmer in seiner grauen Trübseligkeit verschärfte seine schlechte Laune. Im Gehen schlug er mit dem Ende seines Stockes leicht auf die zerfressenen Polster der Sitzmöbel; es tönte, als ob Steine geklopft würden. Dann blieb er müde vor dem Kamin stehen, auf dem an Stelle der Uhr ein schauderhaft bekleckster großer heiliger Joseph stand.

»Ah, das ist ein Glück!« sagte er, als die Türe hinter ihm knarrte. Und auf den Abbé zugehend:

»Weißt du auch, daß ich wegen dir eine halbe Messe habe über mich ergehen lassen müssen? Lange ist es her, daß mir das passiert ist ... Ich wollte dich unter allen Umständen heute sehen. Ich habe mit dir zu reden ...«

Er sprach nicht aus und betrachtete den Priester überrascht. Es entstand eine kleine Stille.

»Dir also geht es gut!« nahm er das Gespräch mit veränderter Stimme wieder auf.

»Ja, mir geht es viel besser,« sagte der Abbé Mouret lächelnd. »Ich erwartete Sie erst am Donnerstag. Der Sonntag ist sonst nicht Ihr Tag ... Haben Sie mir etwas mitzuteilen?«

Aber Onkel Pascal antwortete nicht gleich. Er fuhr fort, den Abbé zu betrachten. Dieser war noch ganz getränkt in laue Kirchenlüfte; in seinem Haar hing Weihrauchduft; auf dem Grund seiner Augen schimmerte noch Kreuzverzückung. Der Onkel mußte den Kopf schütteln angesichts dieses sieghaften Friedens.

»Ich komme vom Paradeis,« sagte er mit einiger Plötzlichkeit. »Jeanbernat hat mich gestern nacht geholt ... Ich habe Albine besucht. Sie macht mir Sorge. Sie muß sehr geschont werden.«

Während er sprach, beobachtete er unablässig den Priester, der mit keiner Wimper zuckte.

»Immerhin hat sie dich gepflegt,« fügte er barscher hinzu. »Ohne sie, mein Junge, wärest du jetzt vielleicht in einer Irrenzelle mit der Zwangsjacke über den Schultern ... Nun, ich habe versprochen, daß du sie besuchen wirst. Ich nehme dich mit. Auf und davon will sie.«

»Ich vermag nur zu beten für die Persönlichkeit, von der Sie reden,« sagte der Abbé Mouret sanft.

Und als der Doktor auffuhr und dem Sofa einen heftigen Hieb überzog:

»Ich bin Priester und habe nichts als Gebete zu vergeben,« schloß er einfach mit fester Stimme.

»Und recht hast du!« rief Onkel Pascal und ließ sich in einen Sessel fallen, die Beine trugen ihn nicht mehr. »Ich bin ein alter Idiot. Geweint habe ich in meinem Wagen auf dem Weg hierher. Das kommt davon, wenn man sich in seine Bücher vergräbt. Man erzielt schöne Erfolge, handelt aber unehrlich ... Konnte ich mir denn träumen lassen, daß alles so schlecht enden würde?«

Er stand auf, begann wieder hin und her zu gehen, ganz verzweifelt.

»Doch, doch, ich hätte es ahnen müssen, es ist nur zu logisch. Und im Zusammenhang mit dir mußte es erst recht schlimm werden. Du bist kein Mann wie andere Männer ... Hör' mich an, ich kann dir die Versicherung geben, daß du verloren warst. Einzig die Luft, mit der sie dich umgab, konnte dich vor dem Wahnsinn retten. Du verstehst mich, ich brauche dir doch nicht erst zu sagen, wie es mit dir stand. Es ist eine meiner schönsten Heilungen. Geh, ich bilde mir nichts auf sie ein! Denn jetzt geht das arme Mädchen an ihr zugrunde!«

Der Abbé Mouret war stehengeblieben, sehr ruhig – umstrahlt von stillem Martyrium, dem nichts Menschliches mehr etwas anhaben kann.

»Gott wird ihr gnädig sein,« sagte er.

»Gott! Gott!« murmelte der Doktor dumpf, »er täte besser daran, sich nicht in unsere Angelegenheiten zu mischen. Dann könnte man die Sache ordnen.«

Dann begann er mit erhobener Stimme wieder: »Alles hatte ich berechnet. Das ist das Ärgste! Oh, ich Dummkopf! ... Einen Monat solltest du dich dort erholen. Die schattigen Bäume, die Frische dieses Kindes, all dieses Leben sollte dich wieder auf den Damm bringen. Auf der anderen Seite verlor sich dabei die Ungezügeltheit des Kindes, du vermenschlichtest sie etwas; zu zweit hätten wir eine kleine Dame aus ihr gemacht, die wir dann irgendwo verheiratet hätten. Es schien alles so gut; konnte ich denn ahnen, daß der alte Philosoph Jeanbernat nicht einen Zoll von seinem Salat abrücken würde! Es ist wahr, auch ich habe mich nicht aus meinem Laboratorium gerührt; es waren gerade allerlei wichtige Versuche im Gang, ich trage die Schuld! Ein Schurke bin ich!«

Die Luft ging ihm aus, er wollte fort. Überall suchte er nach seinem Hut, der ihm auf dem Kopf saß.

»Leb' wohl,« sagte er, »ich gehe ... Du weigerst dich also mitzukommen? Sieh, tu es mir zu Gefallen; du siehst doch, wie ich mich quäle. Ich verspreche dir, daß sie gleich darauf fortreist. Versteht sich ... mein Wagen ist draußen. In einer Stunde bist du zurück ... Komm, ich bitte dich darum!«

Der Priester machte eine weite Armbewegung, eine Bewegung, die der Doktor ihn am Altar hatte machen sehen.

»Nein, ich darf nicht.«

Und seinen Onkel hinausbegleitend, fügte er hinzu:

»Sagen Sie ihr, auf den Knien soll sie Gott anflehen. Gott wird sie erhören, wie er mich erhört hat; er wird ihr den Frieden geben, wie er mir den Frieden gab. Eine andere Rettung gibt es nicht.«

Der Doktor sah ihm ins Gesicht und zuckte die Achseln mit einem Ausdruck des Schreckens.

»Leb' wohl,« sagte er. »Es geht dir jetzt gut. Du hast mich nicht mehr nötig.«

Als er sein Pferd losband, kam Desiderata angelaufen, die seine Stimme gehört hatte. Sie liebte den Onkel schwärmerisch. Als sie noch kleiner war, konnte er ihrem kindlichen Geschwätz stundenlang zuhören. Auch jetzt noch verwöhnte er sie, bekundete Interesse für ihre Liebhabereien und verbrachte gerne einen Nachmittag mit ihr bei Hühnern und Enten; in seine scharfen Gelehrtenaugen kam dann ein Lächeln. Er nannte sie »großes Tier« im Tone liebkosender Bewunderung. Er schien sie hoch über andere Mädchen zu stellen. Sie warf sich ihm an den Hals in einem Zärtlichkeitsausbruch und rief:

»Bleib da. Iß bei uns!«

Er küßte sie, verneinte und machte sich mürrisch aus ihrer Umarmung los. Sie lachte hellauf und hängte sich noch einmal an ihn.

»Das ist sehr dumm von dir,« redete sie weiter. »Es gibt ganz frische Eier, ich habe die Hennen belauert. Vierzehn haben sie heute morgen gelegt ... Und das weiße Hühnchen hätten wir gegessen, das den anderen zuleibe ging. Donnerstag warst du gerade da, als es dem großen Gesprenkelten ein Auge ausstieß.«

Der Onkel blieb in verärgerter Stimmung. Er erboste sich über den Zügelknoten, den er nicht auseinander bekam. Da begann sie ihn zu umspringen, klatschte in die Hände und sang in hohen Tönen:

»Ja, ja ... Du bleibst. Wir essen es, wir essen es!«

Der Zorn des Onkels vermochte nicht länger standzuhalten. Er hob den Kopf mit einem Lächeln. Sie war zu gesund, zu lebendig, zu wirklich. Ihre Heiterkeit war übermächtig, natürlich und wahr wie der Sonnenstrahl, der ihre nackte Haut golden bräunte.

»Großes Tier,« murmelte er entzückt. Er nahm sie bei den Handgelenken, sie hörte nicht auf zu springen. »Heute nicht, hörst du, ich muß zu einem armen kranken Mädchen. Aber gerne ein anderes Mal, ich verspreche es dir.«

»Wann? Donnerstag?« drang sie in ihn, »du weißt doch, die Kuh ist trächtig. Seit ein paar Tagen ist es nicht richtig mit ihr ... Du bist doch Arzt, vielleicht kannst du ihr etwas eingeben.«

Der Abbé Mouret, der seelenruhig dabeigestanden hatte, konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. Der Doktor stieg lustig in seinen Wagen und sagte:

»Ganz recht, ich werde die Kuh behandeln ... Komm her, laß dich küssen, großes Tierchen! Du riechst gut, du riechst nach Gesundheit. Und du bist mehr wert als alle anderen zusammen. Wenn alle wären wie mein großes Tier, wäre es unerträglich schön auf der Erde.«

Er trieb sein Pferd mit leichtem Zungenschnalzen an und sprach weiter vor sich hin, während der Wagen den Hang hinab fuhr.

»Jawohl, unvernünftige Geschöpfe! Nur unvernünftige Geschöpfe sollte es geben. Dann könnte man schön, stark, froh sein. Ach, das ist ein schöner Traum. Dem Mädchen geht es gut; sie ist genau so glücklich wie ihre Kuh. Dem Jungen ergeht es schlecht; er ertötet sich unter seiner Sutane. Etwas mehr Blut, etwas mehr Nerven und auf und davon! Verfehltes Dasein! Richtige Rougon, richtige Macquart sind diese Kinder hier! Das Ende des Zuges, die endgültige Entartung.«

Und sein Pferd antreibend, fuhr er im Trabe den Hügel hinan, dem Paradeis zu.


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