Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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15

Sie gingen hinunter, schritten mitten durch den Garten, Sergius' Lächeln verging nicht. Er nahm das Laubgrün nur wahr in Albines spiegelklarem Blick. Als der Garten sie erblickte, durchlief es ihn wie langes Lachen, wie befriedigtes Flüstern, von Blatt zu Blatt fliehend, bis in die entferntesten Alleen. Seit Tagen wohl erwartete er sie, so vereint, mit den Bäumen versöhnt, auf grüner Suche nach verlorener Liebe. Feierliches Schweigen breitete sich unter den Ästen.

Der Mittagshimmel sah glutend still. Pflanzen reckten sich, um sie vorüberkommen zu sehen. »Hörst du sie?« fragte Albine halblaut. »Sie verstummen, wenn wir uns nähern. Aber sie spähen nach uns schon von weitem und verständigen sich über den Weg, den sie uns zeigen wollen... ich sagte dir ja, wir würden den Weg mit Leichtigkeit finden. Bäume zeigen ihn mir mit ausgestreckten Armen.«

Wirklich war es, als drängte der ganze Park sie leicht und sanft vorwärts. Hinter ihnen schloß sich eine Stachelschranke, um sie an der Umkehr zu hindern. Vor ihnen aber entrollte sich der Rasenteppich so gemächlich, daß sie des Weges kaum mehr achteten, sich dem zartgeneigten Gelände überließen. »Die Vögel geben uns das Geleit,« begann Albine wieder. »Jetzt sind es Meisen. Kannst du sie sehen? Sie fliehen die Hecken entlang und warten an jeder Wegbiegung, achten darauf, daß wir uns nicht verirren. Ach, sprächen wir ihre Sprache, so verstünden wir, daß sie uns zur Eile antreiben.« Dann fügte sie hinzu:

»Alle Tiere des Gartens sind mit uns, spürst du das nicht? Ein lautes Rauschen folgt uns nach. Die Vögel sind es in den Zweigen, die Insekten im Gras, Rehe und Hirsche in den Büschen, sogar die Fische regen im stummen Gewässer ihre Flossen... Sieh dich nicht um, es könnte sie erschrecken; aber sicher weiß ich, wir haben ein schönes Geleit.«

Und sie gingen unermüdeten Schrittes weiter. Albine sprach nur, um Sergius in den Zauber ihrer Stimme einzuhüllen. Sergius gab dem leisesten Druck von Albines Hand nach, kannten sie auch das Gelände nicht, das sie durchwanderten, so wußten sie doch genau, daß sie so geradeswegs zum Ort ihrer Bestimmung gelangten. Und je weiter sie vordrangen, desto verschwiegener hielt sich der Garten, tat dem Seufzen seiner Gezweige, der Geschwätzigkeit seiner Wasser, dem hitzigen Treiben seines Getieres Einhalt. Tiefes Schweigen breitete sich bebend, weihevolle Erwartung.

Da hoben Albine und Sergius gefühlsgetrieben den Blick; ihnen gegenüber häufte sich eine Blättermasse, und als sie zauderten, sprang ein Reh, das mit sanft-schönen Augen sie betrachtete, in den Busch.

»Hier ist's,« sagte Albine.

Sie trat zuerst vor, wandte den Kopf und zog Sergius nach, dann nahmen die rauschenden Blätter sie auf, es wurde ganz ruhig, süßer Friede empfing sie.

Ein Baum stand hier inmitten, so schattenverhängt, daß seine Art nicht zu erkennen war. Riesenhaft war er gestaltet, wie eine Brust atmete sein Stamm, weit streckte er die Äste, gleich schützenden Armen. Stark, gut, mächtig und fruchtbar stand er da. Der Urälteste des Gartens, Vater des Waldes, Stolz alles Grünenden, Freund der Sonne, die tagtäglich in seinem Gipfel aufging, unterging. Aus seiner grünen Wölbung taute alle Freude der Schöpfung nieder, Blumendüfte, Vogelsang, Lichtgeflimmer, morgenkühles Dämmererwachen, abendlaues Dämmerentschlafen. So saftreich war er, daß es von seinen Rinden troff. Ein Dunst von Fruchtbarkeit umgab ihn; wie das männliche Zeichen der Erde war. Der ganze Waldplatz stand unter seinem Zauber, andere Bäume um ihn schichteten sich zu undurchdringlicher Mauer, die ihn tief vereinsamte, in ein Heiligtum von Schweigen und Halbdunkel; der ganze Horizont war verdeckt, vom Himmel nichts mehr zu sehen, nur Grün ringsum, ein von zärtlichen Blättern seiden verhangener Rundsaal, der Boden mit Atlasmoosen samtig überspreitet. Wie Versinken in kristallener Quelle war's, in grünliche Durchsichtigkeit, Silberklare, von widerscheinendem Schilf gedämpft. Farben, Düfte, Klänge, Schauer, alles blieb unbestimmt, durchsichtig, ungreifbar, versunken in ein Glück, an Auflösung alles Seienden grenzend. In reglosen, von keinem Windhauch bewegten Zweigen hing Alkovenlässigkeit. Ersterbender Sommernachtsschimmer über den nackten Schultern einer Liebenden, kaum vernehmbares Liebesgestammel, das jäh in schweigend-tiefem Krampf vergeht. Bräutliche Einsamkeit, von Wesensverschmelzung ganz erfüllt, leeres Gemach, in dem hinter zugezogenen Vorhängen doch irgendwo sich heiße Paarung ahnen läßt, der in Sonnenarmen schmachtenden Natur. Ab und an ging ein Krachen durch das Innere des Baumes; seine Glieder streiften sich wie die Glieder einer Kreißenden. Der seinen Rinden entströmende Lebensschweiß regnete reichlicher über die umgebenden Rasen, atmete weiche Begier, durchtränkte die Luft mit Hingabe, so daß der Waldplan unter Lustnebeln blaßte. Da war es, als schwankte der Baum, sein Schattenbild, der Rasenteppich, dichte Baumgürtel, und löste sich ganz in Wollust.

Albine und Sergius standen verzückt, seitdem der Baum sie sanft in seine Äste aufgenommen hatte, fühlten sie sich von der unerträglichen, quälenden Spannung befreit. Furcht, die sie voneinander getrieben hatte, war geschwunden, die heißen Kämpfe waren zu Ende, von denen sie zerrissen wurden, ohne daß sich ihnen offenbart hätte, gegen welchen Feind sie so wütend Widerstand leisteten. Jetzt erfüllte sie vollkommenes Vertrauen, tiefster Seelenfrieden. Sie überließen sich einer dem anderen, gaben sich langsam der Freude hin, zusammen zu sein, weit fort von allem, im wundertiefen Versteck.

Noch ahnten sie nicht, was der Garten von ihnen forderte, frei ließen sie ihn verfügen über ihre Zärtlichkeit. Ruhig erwarteten sie, ohne Erregung, das Gebot des Baumes. In solche Liebestrunkenheit versetzte er sie, daß die Lichtung vor ihrem Blick schwand, sich königlich zu weiten schien in duftendem Wiegen.

Leise aufseufzend war sie stehengeblieben, ergriffen von der aromatischen Kühle.

»Die Luft schmeckt wie eine Frucht,« murmelte Albine.

Sergius sagte sehr leise:

»Das Gras ist so lebendig, daß mir ist, als schritte ich über dein Kleid.«

Ein frommes Gefühl ließ sie die Stimme dämpfen. Sie brachten nicht einmal genügend Neugier auf, um in die Höhe zu sehen und den Baum zu betrachten. Zu machtvoll lastete seine Majestät über ihren Schultern. Albines Blick fragte, ob sie die Zauber des grünen Geheimnisses übertrieben hätte.

Als einzige Antwort rieselten zwei Tränen über Sergius' Wangen.

Unaussprechlich war ihre Freude, sich endlich am Ziel zu finden. »Komm,« flüsterte er ihr ins Qhr, leiser als ein Hauch. Sie streckte sich zuerst am Fuße des Baumes nieder. Lächelnd streckte sie die Hände nach ihm, stehend reichte er ihr die seinen, auch er lächelte. Als sie seine Hände hielt, zog sie ihn langsam zu sich. Er fiel an ihrer Seite nieder und nahm sie gleich an seine Brust. – Sie fühlten sich glücklich in dieser Umarmung.

»Entsinnst du dich,« sagte er, »eine Mauer schien uns zu trennen... Jetzt fühl' ich dich, nichts Trennendes ist mehr zwischen uns... Leidest du noch?«

»Nein, nein,« gab sie zur Antwort, »wohl ist mir.«

Sie schwiegen, ohne ihre Umschlingung zu lösen. Eine süße Erregung ergriff sie. Sergius wiederholte:

»Dein Antlitz gehört mir, deine Augen, dein Mund, deine Wangen ... Deine Arme sind mir zu eigen, von den äußersten Fingerspitzen bis zu den Schultern. Deine Füße sind mein, deine Knie, ganz und gar bist du mir angehörig.«

Und er küßte ihr Gesicht, küßte ihre Augen, Mund und Wangen. Er bedeckte ihre Arme mit Küssen, von den Fingerspitzen bis zu den Schultern. Er küßte ihre Füße, ihre Knie. Er hüllte sie in einen Regen von Liebkosungen, der in großen Tropfen fiel, lau wie sommerlicher Regen, überall hin. Es war ein Besitzergreifen ohne Wildheit, stetig und sieghaft vordringend bis zu den kleinsten blauen Adern unter der rosigen Haut.

»Um mich dir geben zu können, nehme ich dich,« begann er wieder. »Ich will mich dir ganz ausliefern, auf immer; denn zu dieser Stunde weiß ich wohl, du bist meine Herrin, meine Herrscherin, auf den Knien muß ich dich anbeten, ich bin nur vorhanden, um dir gehorsam zu sein, um dir zu Füßen zu liegen, deinen Willen zu erraten, dich mit meinen Armen zu schützen, mit meinem Atem treibende Blätter zu verscheuchen, die deine Ruhe stören könnten... Oh, gewähre mir, daß ich mich ganz in dir auflöse, daß ich dir sei wie Trank und Speise. Du bist meine Endbestimmung; seit ich inmitten dieses Gartens zum Leben erwachte, bin ich auf dich zugegangen, bin ich dir zugewachsen. Als Ziel, als Lohn sah ich immer nur deine Gnade. Du standest in der Sonne mit deinem goldenen Haar. Verkörperte Versprechung warst du, daß ich durch dich eines Tages die irdischen Notwendigkeiten erführe. Willen der Erde, der Bäume und Wasser, jener Himmel, deren letztes Verständnis mir noch mangelt, ich bin dein Eigentum, dein Sklave, ich küsse deine Füße, lausche deinen Worten.«

Tief geneigt, sprach er zu ihr, anbetend beugte er sich der Macht des Weibes. Albine ließ sich von Anbetung umwallen, hoher Stolz erfüllte sie. Ihre Finger, Lippen, ihre Brüste überließ sie den frommen Küssen des Geliebten. Als sie so demütig stark ihn vor sich sah, fühlte sie sich als Königin. Er war bezwungen, hatte sich ihr auf Gnade und Ungnade ergeben, ihrem Wink war er gehorsam. Und bewußter noch wurde sie sich ihrer Macht in der Freude des Gartens über ihren Sieg, in seiner langsam anschwellenden, jubelnden Zustimmung.

Sergius stammelte nur noch. Seine Liebkosungen verirrten sich. Er flüsterte: »Oh, wissen möchte ich... Ich möchte dich an mich reißen, dich ganz für mich behalten, vielleicht sterben, oder in Lüfte mit dir entschweben, ich weiß nicht, was...«

Sie waren beide zurückgesunken und schwiegen, ihr Atem setzte aus, die Sinne schwanden ihnen. Mit letzter Anstrengung hob Albine einen Finger, Sergius sollte lauschen. Der Garten bestimmte ihren Fall. Lange Wochen hindurch lehrte er sie Zärtlichkeit, um am letzten Tag ihnen die grüne Nische aufzutun. Versucher war er nun, der mit allen Mitteln zur Liebe sie verführte. Vom Blumengarten hoben sich Düfte süß geschwächter Blumen, ein langes Flüstern, das Hochzeit der Rosen kündete, Wollust der Veilchen. Und nie dampfte Begier des Heliotrop in heißerer Sinnlichkeit auf. Vom Obstgarten her trug der Wind den Atem reifer Früchte, einen üppig reichen Geruch, Vanilleduft der Aprikosen, Moschushauch der Orangen, tiefer hob sich die Stimme der Wiesen, aus dem Zusammenklang gebildet des Millionenchores seufzend sonnengeküßter Gräser, weite Klage zahllos heißer Menge, die sich rühren ließ von kühler Liebkosung der Flüsse, Nacktheit rieselnder Bäche, an deren Ufern Weiden begehrlich träumten. Vom Wald wehte machtvolle Leidenschaft der Eichen, Orgelton des Hochwaldes, wie Feiermusik, die Buchen, Birken, Ulmen und Platanen, inmitten grünender Heiligtümer, zur Hochzeit anführte. Indessen Strauchwerk, junge Stämme lustig sich bäumten, im heiteren Getriebe sich verfolgender Liebespaare, die am Grabenrand sich niederwerfen, inmitten rauschender Äste sich's wohl sein lassen. Doch die wildesten Verschmelzungen im Paarungsgewühl des Gartens fanden statt fernhin auf den Felsen, dort, wo Hitze die leidenschaftgeblähten Steine zerriß, wo Stachelpflanzen tragisch liebten, ohne Beruhigung zu empfangen von benachbarten Quellen, wie sie entzündet vom Gestirn, das auf ihr Lager niederstieg.

»Was ist ihr Begehr?« murmelte Sergius, außer sich. »Was verlangen sie von uns, was erbitten sie?«

Albine preßte ihn wortlos an sich.

Die Stimmen verdeutlichten sich. Nun forderten auch die Tiere des Gartens ihre Einigung. Grillen zirpten sterbenssüße Zärtlichkeit, Falter stäubten flatternden Flügels Küsse umher. Die Sperlinge trieben Sekundenkurzweil, ergingen sich in Liebkosungen, wie Sultane im Harem. In klaren Fluten lagerten Fische ihren Laich in die Sonne. Ruf der Frösche schallte in trauriger Innigkeit, überall breitete sich Leidenschaft geheimnisvoll über dem unbewegten Schilfgewässer. In der Tiefe des Waldes tönte wollüstig perlendes Lachen der Nachtigall, wildbegehrlich schrien die Hirsche, fast verhauchten sie neben ersterbenden Rehen. Und auf den Felsenplatten, entlang am dürren Gebüsch, lagen zu zwei und zwei ineinanderverschlungen zischende Nattern, und große Eidechsen bebrüteten ihre Eier mit wohlig bebendem Rückgrat. Aus entferntesten Winkeln, Sonnenstreifen und Schattenhöhlen stieg tierischer Dunst, durchhitzt vom Allbegehren. Zeugungsschauer durchrieselten das wimmelnde Gartenleben. Unter jedem Blatt paarten sich Insekten; auf jedem Grasfleck mehrten sich Geschlechter. Bunte Fliegen durchtaumelten eng aneinandergepreßt die Luft. Unwahrnehmbares Leben der Materie, die Atome des Stofflichen selbst liebten sich, vermischten sich, wollüstig erzitterte die ganze Scholle, wandelte den Garten zu einem einzigen weiten Beilager. Da dämmerte Verständnis in Albine und Sergius. Er sagte nichts, preßte sie an sich, fester und fester. Sie waren eingehüllt von schicksalshafter Zeugungsnotwendigkeit, und gaben den Forderungen des Gartens nach. Der Baum flüsterte Albine ins Ohr, was Mütter sonst am Hochzeitsabend Bräuten zuraunen.

Albine gab sich hin. Sergius ergriff Besitz von ihr.

Und der ganze Garten löste sich mit dem Paar in letztem Aufschrei der Leidenschaft. Die Stämme bogen sich wie bei starkem Wind, den Gräsern entrang sich trunkenes Schluchzen; mit geöffneten Lippen verhauchten die Blumen; selbst am Himmel, den Untergang des Sonnengestirns durchlohte, standen unbeweglich Wolken, ohnmächtig ruhendes Gewölk, übermenschlichem Entzücken entquollen. Tiere, Pflanzen, alles Leben, das Eindringen dieser beiden Kinder in die Lebensewigkeit begehrte, hatte gesiegt. Machtvoll tat der Garten seinen Beifall kund.


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