Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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11

»Werden wir denn nie mehr ausgehen?« fragte Sergius einige Tage später. Als er Albine matt die Achseln zucken sah, setzte er hinzu, wie um sich über sie lustig zu machen:

»Du hast also die Suche nach deinem Baum aufgegeben?«

Den ganzen Tag über gab dies Anlaß zu Neckereien. Der Baum war gar nicht vorhanden; eine Fabel war er. Und doch konnten sie sich eines leisen Schauers nicht erwehren, wenn sie von ihm sprachen. Am folgenden Tag beschlossen sie einen Ausflug in die Parkgründe zu unternehmen, in den Hochwald zu gehen, den Sergius noch nicht kannte.

Am Morgen des geplanten Ausfluges wollte Albine nichts mitnehmen; sie war nachdenklich, fast etwas traurig sogar und lächelte sehr sanft. Sie frühstückten und machten sich erst spät auf den Weg. Matt und langsam gingen sie in der schon heißen Sonne nebeneinander und suchten sich Schattenstreifen. Weder der Blumen- noch der Obstgarten, die sie durchwandern mußten, konnte sie zum Verweilen bewegen. Als sie in die Kühle tiefer Beschattung kamen, verlangsamten sie ihre Schritte noch mehr, drangen wortlos ein in die zärtliche Waldesgesammeltheit, laut aufseufzend, als empfänden sie große Erleichterung, dem hellen Tag entronnen zu sein. Als sie dann ganz von Blättern umschlossen waren, als durch keine Lücke mehr durchsonnte Gartenfernen aufschimmerten, sahen sie sich lächelnd an, in unbestimmter Erregung.

»Hier wird einem wohl,« murmelte Sergius. Albine nickte; antworten konnte sie nicht, der Hals war ihr wie zugeschnürt. Sie hielten sich nicht mehr umschlungen, wie sie es sonst wohl taten. Mit schlenkernden Armen, hängenden Händen gingen sie, ohne sich zu berühren, und ließen den Kopf hängen.

Sergius blieb stehen; er sah, wie Tränen Albines Wangen übertropften und in ihrem Lächeln vergingen.

»Was fehlt dir,« rief er, »bist du krank? Hast du dir weh getan?«

»Nein, ich lache ja nur,« sagte sie, »ich weiß nicht, der Duft aller dieser Bäume treibt mir die Tränen in die Augen.«

Sie betrachtete ihn und begann wieder:

»Du weinst auch. Dann mußt du ja wissen, daß es angenehm ist.«

»Ja,« sagte er leise, »diese tiefen Schatten so plötzlich sind so seltsam. Es ist, als versänke man in etwas außerordentlich Sanftes, so sanft, daß es schmerzt ... Wenn deine Traurigkeit aber einen Grund hatte, mußt du es mir sagen. Habe ich dich geärgert, bist du böse mit mir?«

Sie versicherte, es sei nicht so. Vollkommen zufrieden wäre sie.

»Warum bist du dann nicht froh? ... Willst du, daß wir Nachlaufen spielen?«

»O nein, nicht nachlaufen!« antwortete sie und verzog den Mund.

Und als er ihr andere Spiele vorschlug: auf die Bäume zu klettern, um Nester zu suchen, Pfirsiche oder Veilchen zu pflücken, sagte sie endlich etwas ungeduldig:

»Dazu sind wir zu groß. Es ist dumm, immer zu spielen. Gefällt es dir denn nicht besser, ruhig neben mir herzugehen?«

Sie hatte wirklich einen so hübschen Gang, daß es ihm die größte Freude machte, das leise Klappern ihrer Absätze auf dem harten Boden der Allee zu hören. Nie hatte er dem Wiegen ihrer Hüften, dem lebendigen Fließen ihrer schlangenhaft gleitenden Kleider Beachtung geschenkt. Eine unerschöpfliche Freude war es, sie so gesetzt an seiner Seite gehen zu sehen; er entdeckte neue Reize in den kleinsten Bewegungen ihres Körpers.

»Du hast recht,« rief er, »es ist unterhaltender als alles andere. Ich ginge mit dir bis ans Ende der Welt, wenn du es haben wolltest.«

Einige Schritte weiter jedoch erkundigte er sich, ob sie nicht müde sei. Dann ließ er durchblicken, er selbst ruhte gern ein wenig aus.

»Wir könnten uns hinsetzen,« stotterte er.

»Nein,« gab sie zur Antwort, »ich will nicht.«

»Weißt du, wir könnten uns hinlegen, wie neulich, mitten in die Wiese. Dann wäre uns warm, und wir wären gut aufgehoben.«

»Ich will nicht, ich will nicht.«

Mit einem Sprung wich sie aus im Grauen vor den Männerarmen, die nach ihr griffen. Er schalt sie dumm und wollte sie einfangen. Als er sie aber kaum mit den Fingerspitzen berührte, stieß sie einen so verzweifelten Schrei aus, daß er bebend innehielt. »Hab' ich dir wehe getan?«

Sie gab nicht gleich Antwort, selbst erstaunt über ihren Aufschrei, und belächelte schon ihr Angstgefühl.

»Nein, laß mich, quäle mich nicht... Was sollten wir denn anfangen, wenn wir uns hinsetzten? Gehen ist mir lieber.«

Und mit ernster Miene, die scherzhaft sein sollte, fügte sie hinzu:

»Du weißt doch, daß ich meinen Baum suche.«

Da lachte er und bot ihr seine Hilfe an. Er bemühte sich, sehr sanft zu sein, um sie nicht noch mehr zu erschrecken, denn er bemerkte wohl, daß sie noch immer zitterte, wiewohl sie ihm wiederum langsam zur Seite schritt. Verboten war, was sie unternehmen wollten, kein Glück würde es ihnen bringen; und gleich ihr fühlte er sich von süßem Schrecken bewegt, der bei jedem fernen Waldesrauschen ihn durchschauerte. Der Geruch der Bäume, das grünliche Licht, das von den oberen Zweigen niederrieselte, das flüsternde Schweigen der Büsche erfüllte sie mit ängstlicher Spannung, so, als ob sie bei der nächsten Wegesbiegung eindrängen in verbotene Süße unseligen Glückes.

Stundenlang schritten sie durch die Bäume. Sie behielten ihren Schlenderschritt bei; kaum daß sie einige Worte wechselten; nicht eine Minute trennten sie sich, sie gingen einander nach durch gründüstere Tiefen. Zuerst führte ihr Weg sie durch Buschholz, dessen junge Stämme kaum von der Dicke eines Kinderarmes waren. Sie mußten sie auseinanderbiegen, einen Weg sich bahnen durch die zarten Triebe, die ihnen mit dem wehenden Spitzenmuster ihrer Blätter die Augen verhängten. Hinter ihnen verlöschte ihre Spur, die Wegzeile verschloß sich, und so drangen sie vor aufs Geratewohl, unsicher und wankend; nur das Schwanken der Äste ließ erkennen, wo sie vorübergekommen waren. Albine war es müde, nur drei Schritte weit sehen zu können, glücklich entwand sie sich schließlich dem unübersehbaren Gebüsch, dessen Ende sie seit langem mühselig suchten. Sie befanden sich auf einer Lichtung inmitten kleiner Wege; nach allen Seiten zogen sich zwischen grünen Hecken enge Pfade hin und her, kreuz und quer, in der abenteuerlichsten Weise. Sie stellten sich auf die Zehenspitzen, um über die Hecken sehen zu können; aber unerquickliche Eile trieb sie nicht an; gerne wären sie dort verblieben, hätten sich vergessen in ständigen Umwegen, dem Vergnügen hingegeben, ständig zu wandern, ohne je anzukommen am Ziel, wäre vor ihnen nicht der Hochwald stolz erstanden. Endlich traten sie andachtsvoll unter die hohen Bäume, und etwas wie frommes Grauen überkam sie, wie es einen wohl in Kirchen überschleicht. Die geraden flechtenweißen Stämme, graufahl wie altes Gestein, wuchsen ins Unendliche, reihten sich zu unmeßbaren Säulenhallen auf. Fernhin weiteten sich Kapellenschiffe mit niedrigen Endwandungen; Kapellen seltsam gewagter Bauart mit überschlanken Tragepfeilern, durchbrochen, ausgezähnt, so fein durchgearbeitet, daß ringsum die Himmelsbläue zu sehen war. Weihevolles Schweigen sank nieder aus den riesenhaften Spitzbögen, die harte, graslos ernste Kahlheit verlieh dem Boden das Ansehen verbrauchter Steinquadern, nur überstreut mit dem rötlichen Staub dürrer Blätter. Und ergriffen von der großartigen Einsamkeit dieses Tempels, lauschten sie dem Geräusch ihrer Schritte.

Hier sicherlich mußte der vielgesuchte Baum zu finden sein, dessen Schatten vollkommene Seligkeit versprach. Am Zauber, der sich mit dem Halblicht aus den hohen Gewölben über sie ergoß, fühlten sie seine Nähe. Die Bäume erschienen ihnen wie glücklich unbewegliche, gütige, kraftvolle, schweigendreiche Wesen. Sie betrachteten sie einen nach dem anderen, liebten sie alle, erwarteten aus ihrer überlegenen Ruhe irgendein Geständnis, das sie ähnlich wachsen ließe in der Freude machtvollen Lebens. Ahorn, Eschen, Buchen, Kornelkirschen waren ein Riesenvolk von Kolossen, eine stolz sanfte Menge heldenhafter Kerle, die vom Frieden lebten, denn der Fall eines einzigen von ihnen hätte genügt, um den ganzen Waldwinkel zu Schaden kommen und verenden zu lassen. Die Ulmen waren riesige Körper mit geschwellten saftverschleimten Gliedmaßen, die kaum bedeckt waren von dem leichten Gesträußel ihrer kleinen Blätter. Birken, Erlen, in ihrer mädchenhaften Weiße, bogen schlankgeschweifte Leiber, überließen den Winden zum Spiel ihr Haar großer Göttinnen, die schon halb sich in Bäume verwandelten. Platanen hoben den ebenmäßigen Rumpf, von der rottätowierten, glatten Haut schienen Farbschuppen abzubröckeln. Die Lärchen bestanden einen Abhang wie eine Barbarenhorde, behangen mit ihren Kriegsröcken aus grünem Gewirk, gesalbt mit aus Weihrauch und Harz bereitetem Balsam. Könige aber waren die Eichen, ungeheuere Eichen, die aus schwerer Mattigkeit schwere Arme streckten und der Sonne den Weg verstellten, titanische, wettergetroffene Bäume, die sich zurückbäumten in der Haltung unbesiegter Ringer, und deren verzweigte Glieder allein schon einen Wald bildeten.

War es nicht eine dieser Giganteneichen oder eine jener schönen Platanen, eine jener frauenweißen Birken, eine jener muskelkrachenden Ulmen? Albine und Sergius drangen immer weiter vor, wußten nicht mehr ein und aus in diesem Gewühl. Einen Augenblick glaubten sie gefunden zu haben, was sie suchten: mitten in ein Nußbaumviereck gerieten sie, in so kalten Schatten, daß ihnen die Zähne klapperten. Etwas weiter faßte sie neue Erregung beim Betreten eines kleinen, ganz moosumgrünten Kastaniendickichts mit wunderlich gespreitetem Gezweig, geräumig genug, um ihm hängende Dörfer aufzubauen. Noch weiter machte Albine die Entdeckung einer Lichtung, auf die sie aufgeregt zustrebten. Inmitten eines zarten Rasenteppichs überstürzten sich Laubgeblätter eines Johannisbrotbaumes, grünes Babel, dessen Trümmer sich mit außerordentlichem Wachstum bedeckten. Steine hingen im Astwerk verfangen, erdentrissen durch steigende Saftflut. Die oberen Äste bogen sich um, suchten Halt in der Weite, umgaben den Stamm mit tiefgewölbtem Bogen, einem Volk neuer Stämme, die sich beständig vermehrten. Und auf der in blutigen Rissen platzenden Rinde reiften Schoten. Selbst die Frucht dieses Ungetüms war eine Kraftleistung, die ihm die Haut durchstieß. Langsam umschlichen sie den Baum, traten unter die ausgebreiteten Zweige, wo Straßen einer Stadt Platz gefunden hätten, und durchsuchten mit dem Blick die gähnenden Spalten der entblößten Wurzeln. Dann gingen sie fort, das übermenschliche Glück, das sie suchten, fanden sie nicht hier.

»Wo sind wir eigentlich?« fragte Sergius. Albine wußte es nicht. Noch nie war sie in diesen Teil des Parkes gekommen. Sie befanden sich jetzt unter einer Gruppe von Akazien und Bohnenbäumen, deren Trauben ein fast zu süßer Duft entströmte.

»Jetzt haben wir uns verirrt,« murmelte sie und lachte, »diese Bäume sind mir vollständig unbekannt.«

»Aber,« begann er wieder, »der Garten muß doch ein Ende haben. Weißt du nicht, wo der Garten endet?«

Sie breitete die Arme weit.

»Nein,« sagte sie.

Sie blieben stumm, noch nie bisher waren sie so glücklich durchdrungen gewesen von der Unermeßlichkeit des Parkes. Es entzückte sie, allein inmitten eines derart großen Gebietes zu sein, daß sie selbst es aufgeben mußten, seine Grenzen erforschen zu wollen.

»Also gut, wir haben uns verirrt,« wiederholte Sergius vergnügt, »es ist viel lustiger, wenn man nicht weiß, wohin man geht.«

Demütig näherte er sich ihr.

»Du hast keine Angst?«

»O nein. Nur du und ich sind im Garten ... Vor wem sollte ich mich wohl fürchten? Die Mauern sind zu hoch. Wir können sie nicht sehen, aber sie beschützen uns.«

Er war ihr ganz nahe und flüsterte:

»Vorhin hast du dich vor mir gefürchtet.«

Sie aber sah ihm ins Gesicht, seelenruhig, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Du tatest mir weh,« antwortete sie. »Jetzt siehst du sehr lieb aus. Warum sollte ich mich vor dir fürchten?«

»So erlaubst du, daß ich dich in den Arm nehme. Wir wollen wieder unter die Bäume gehen.«

»Ja, du darfst mich fest anfassen, es ist mir angenehm. Und laß uns langsam gehen, nicht wahr? Damit wir unsern Weg nicht so schnell wiederfinden.«

Er hatte einen Arm um sie gelegt. So schritten sie unter die hohen Stämme zurück, wo sich unter hoheitsvoller Wölbung ihr Schritt noch verlangsamte, ein Schreiten großer Kinder, die zur Liebe erwachen. Sie gab vor, etwas müde zu sein und lehnte den Kopf an Sergius' Schulter. Dennoch sprachen weder er noch sie davon, sich ausruhen zu wollen. Sie dachten gar nicht daran, es wäre ihnen eine Störung gewesen. Was für ein Vergnügen konnte ihnen ein Ausruhen auf dem Gras bieten im Vergleich zu der Freude, immer weiter so Seite an Seite dahinzugehen? Der märchenhafte Baum war vergessen. Ihre einzige Sorge war jetzt, Kopf an Kopf zu lehnen, um sich aus größerer Nähe zulächeln zu können. Und die Bäume, Eschen, Ulmen und Eichen, flüsterten ihnen ihre ersten Zärtlichkeiten ein in lichtvollem Schatten.

»Ich liebe dich,« sagte Sergius mit schwebender Stimme, die kleine Goldhaare an Albinens Schläfe aufwehen ließ.

Er wollte andere Worte finden und wiederholte:

»Ich liebe dich, ich liebe dich!«

Albine lauschte mit schönem Lächeln. Sie prägte sich diese liebliche Musik ein.

»Ich liebe dich, ich liebe dich,« seufzte sie, und lieblicher klang das noch von ihren Jungmädchenlippen. Dann die Augen hebend, in denen ein Licht aufzuscheinen begann, fragte sie:

»Wie liebst du mich?«

Da sammelte sich Sergius. Die hohen Stämme standen in sanfter Feierlichkeit, noch waren die tiefen Kapellen durchbebt von den Schritten des Paares.

»Mehr als alles liebe ich dich,« antwortete er, »du bist schöner als alles, das ich morgens sehe beim Öffnen des Fensters. Betrachte ich dich, denke ich an nichts anderes mehr. Wenn ich nur dich habe, bin ich glücklich.«

Sie schlug die Augen nieder und wiegte leise den Kopf.

»Ich liebe dich,« fuhr er fort, »ich kenne dich nicht, weiß nicht, wer du bist, woher du kommst; du bist mir weder Mutter noch Schwester; und doch liebe ich dich in gänzlicher Herzenshingabe, in aller Ausschließlichkeit... Hör mich an, deine weichseidenen Wangen liebe ich, deinen rosenduftenden Mund, deine Augen liebe ich, in denen ich mich spiegele mit meinem Lieben, ganz und gar liebe ich dich, deine Augenwimpern, das blaue Geäder deiner weißen Schläfen... Ich liebe dich, um dir sagen zu können, daß ich dich liebe, Albine.«

»Ja, ich liebe dich,« begann sie wieder. »Dein Bart ist weich und tut mir nicht weh, wenn ich meine Stirn an deinen Hals lehne. Du bist stark, groß und schön, und ich liebe dich, Sergius.«

Glücküberkommen schwiegen sie eine Weile. Es war ihnen, als zöge ein Flötengesang vor ihnen her, als würden ihre Worte ihnen von sanften, unsichtbaren Chören zugespielt. Zueinander geneigt, machten sie nur noch ganz kleine Schritte, kreuzten endlos hin und her zwischen den mächtigen Stämmen. Durch die Säulengänge in der Ferne drangen Sonnenuntergangsstrahlen, wie ein Zug weißgekleideter Jungfrauen, die hochzeitlich in die Kirche ziehen bei gedämpftem Orgelton.

»Und warum liebst du mich?« erneute Albine ihre Frage.

Er lächelte und gab zuerst keine Antwort. Dann sagte er:

»Ich liebe dich, weil du gekommen bist. Darin ist alles enthalten... Jetzt sind wir vereint und lieben uns. Es kommt mir vor, als könnte ich ohne mein Gefühl zu dir nicht mehr leben. Mein Atem bist du.«

Er senkte die Stimme und sprach traumumfangen:

»Man weiß es nicht von Anfang an. Mit dem Herzen wächst das in einem. Groß und stark müssen wir werden... Du weißt doch noch, wie wir uns liebten! Wir sagten es uns aber nicht. Kindisch ist man und dumm. Bis es eines Tages zu klar wird und von selbst losbricht... Wir haben nichts anderes zu tun: wir lieben uns, weil es unser Leben ist, uns zu lieben.«

Albine hielt den Atem an, mit zurückgebogenem Kopf und geschlossenen Augen kostete sie das von der Liebkosung dieser Worte noch ganz erwärmte Schweigen.

»Liebst du mich, liebst du mich?« stammelte sie, ohne die Augen zu öffnen. Er blieb stumm und war sehr unglücklich, keine Worte mehr zu finden, die seine Liebe ihr zeigen könnten. Langsam ließ er den Blick über ihr rosiges Antlitz wandern, das wie im Schlaf sich darbot. Zart, wie durchpulste Seide, waren die Lider; der Mund verzog sich süß, von einem Lächeln betaut; die reine Stirn verging im Goldstreif des Haaransatzes. Sein ganzes Sein hätte er gern ausgeströmt in Worten, die ihm auf die Lippen traten, ohne daß er vermocht hätte, sie auszusprechen. Noch mehr neigte er sich über sie, es schien, als ob er die Stelle ausfindig machen wollte dieses entzückenden Antlitzes, der er das innigste Wort widmen wollte. Sein Atem ging hörbar, aber er sagte nichts und küßte Albine auf die Lippen.

»Albine, ich liebe dich!«

»Ich liebe dich, Sergius!«

Und durchschauert vom ersten Kuß, blieben sie stehen. Sie hatte die Augen sehr weit geöffnet, sein Mund wölbte sich leicht vor. Beide sahen sich ohne Erröten an. Ein unwiderstehlich Mächtiges nahm Besitz von ihnen, wie ein langerwartetes Begegnen war es, in dem sie gewachsen sich wiederfanden, füreinander bestimmt und für immer vereint. Einen Augenblick verwunderten sie sich und hoben die Blicke zu der feierlichen Blätterwölbung, wie um das friedliche Baumvolk weihevoll zu befragen, ob sie ihrem Kuß zuzustimmen vermöchten. Aber angesichts der ungetrübt ruhigen Freundlichkeit der hohen Stämme überkam sie die Fröhlichkeit ungestraft Liebender, eine lange, lachende Fröhlichkeit voll überfließend zärtlicher Redseligkeit.

»Ach, sag' mir, wie lange du mich schon liebst? Erzähl' mir alles... Liebtest du mich schon, als du auf meiner Hand schliefst? Liebtest du mich damals, als ich vom Kirschbaum fiel und du unten standest, ganz blaß mit ausgebreiteten Armen? Liebtest du mich in den Wiesen, wenn du mich umschlangest, um mir über die Bäche zu helfen?«

»Schweig, laß mich reden. Von Anfang an habe ich dich geliebt... Und du, hattest du mich lieb? Liebtest du mich?«

Bis in die Nacht hinein lebten sie von diesem Wort: lieben, das sich ohne Unterlaß wiederholte in immer neuer Süße. Sie haschten nach ihm, flochten es ihren Sätzen immer wieder ein, sprachen es aus ohne jeden Zusammenhang, einzig um der Freude willen, es auszusprechen. Sergius dachte nicht daran, Albines Lippen ein zweitesmal zu küssen. Ihrem Unwissen genügte es, den Duft des ersten Kusses zu bewahren. Sie hatten ihren Weg wieder gefunden, ohne im geringsten der Wege zu achten. Als sie aus dem Walde traten, sank die Dämmerung schon, und gelb stieg der Mond auf zwischen schwarzem Gezweig. Wundersam war der Rückweg durch den Park beim Leuchten des verschwiegenen Gestirns, das ihnen zusah durch alle Laublücken der großen Bäume.

Albine sagte, der Mond liefe ihnen nach. Die Nacht war sehr mild und sternenwarm. Fern durch die hohen Bäume rauschte es vernehmlich, Sergius horchte auf und dachte sich, »sie reden von uns«. Als sie den Blumengarten durchschritten, hüllte außerordentlich süßer Duft sie ein, Duft, der nachts Blumen entströmt, weicher, liebkosender als am Tag, und der wie Atem ihres Schlummers war.

»Gute Nacht, Sergius!«

»Gute Nacht, Albine!«

Sie gaben sich die Hand auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks, ohne in das Zimmer zu gehen, in dem sie sich gewöhnlich gute Nacht wünschten. Sie küßten sich nicht. Auf dem Bettrand sitzend, allein, lauschte Sergius lange den Geräuschen Albinens, die über ihm sich zur Ruhe begab. Glückliche Mattigkeit durchrann ihn gliedereinschläfernd.


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