Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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9

Der Abbé Mouret fühlte sich wohler, als er sich wieder allein im Straßenstaub fand. Die steinigen Felder versetzten ihn wieder in seinen Traum von rauher Lebenshärte, von Verinnerlichung in der Wüste. Im Hohlweg hatten die Bäume ihm beunruhigende Erfrischung auf den Nacken geträuft; die glühende Sonne trocknete sie wieder auf. Die mageren Mandelbäumchen und die dürftigen Kornfelder, die kränklichen Weinstöcke zu beiden Seiten des Weges beruhigten ihn und befreiten ihn von dem Unbehagen, das ihm der zu fruchtige Atem des Paradeis verursacht hatte. Und inmitten der blendenden Helle, die vom Himmel auf die kahle Erde herabströmte, warfen Jeanbernats Lästerungen nicht mehr den leisesten Schatten. Lebhafte Freude wallte in ihm auf, als er, den Kopf erhebend, am Himmel den reglosen Streif der Einsiedlerzypresse wahrnahm, neben dem rosigen Flecken des Kirchdaches.

Je weiter er aber vorwärts schritt, um so mehr überkam ihn eine andere Unruhe. Die Teusin würde ihm einen netten Willkommen bereiten, des abgestandenen Frühstücks wegen, das seit mehr als zwei Stunden auf ihn wartete. Er stellte sich ihr böses Gesicht vor, die Flut von Worten, die ihm bevorstand, das aufgeregte Geschirrklappern, das er den ganzen Nachmittag würde anhören müssen. Als er das Artaud durchschritten hatte, wurde seine Angst so groß, daß er sich in einem Anfall von Feigheit fragte, ob es nicht vorsichtiger sei, einen Umweg zu machen und durch die Kirche das Haus zu betreten. Aber während er noch mit sich zu Rate ging, erschien die Teusin in Person auf der Schwelle des Pfarrhauses, mit verschobener Haube und hüftgestemmten Armen.

»Ich glaube, ich habe mich verspätet,« stotterte er schon von weitem.

Die Teusin wartete, bis sie ihn ganz nah vor sich hatte. Dann sah sie ihm wütend zwischen die Augen, ohne ein Wort zu sagen, drehte sich auf dem Absatz um und ging vor ihm her bis ins Eßzimmer, unter dem Geklapper ihrer groben Sohlen und so zornessteif, daß sie kaum mehr hinkte.

»Ich habe so viel zu tun gehabt!« begann der Priester, den dieser stumme Empfang entsetzte. »Seit heute morgen bin ich unterwegs.«

Sie schnitt ihm das Wort ab durch einen so starren Blick, daß ihm die Knie zitterten. Er fing an zu essen; sie bediente ihn mit dem knackenden Gehabe eines Automaten; fast zerbrachen die Teller, mit solcher Wucht setzte sie sie nieder. Das Schweigen wurde so unerträglich, daß ihm schon beim dritten Bissen vor Aufregung die Kehle wie zugeschnürt war.

»Meine Schwester hat doch gegessen?« fragte er. »Das ist recht. Es soll immer mit dem Essen begonnen werden, wenn ich auswärts aufgehalten werde.«

Keine Antwort. Die Teusin wartete stehend das Leerwerden seines Tellers ab und trug ihn fort. Er fühlte, wie unmöglich es ihm sei, unter diesen Vernichtungsblicken etwas zu sich zu nehmen und schob sein Gedeck zurück. Diese Zornbewegung war wie ein Peitschenschlag, der die Teusin aus ihrer eigensinnigen Frostigkeit schreckte.

Sie flog auf.

»So etwas,« schrie sie, »Sie wollen auch noch böse sein. Gut! Dann kann ich ja gehen! Sie werden mir die Rückreise in meine Heimat bezahlen. Ich habe das Artaud satt und Ihre Kirche! Und alles! und alles!«

Mit zitternden Händen löste sie ihre Schürzenbänder.

»Haben Sie nicht gemerkt, kein Wort wollte ich sagen... Ist denn das ein Leben so ? Nur Seiltänzer treiben sich derartig herum, Herr Pfarrer! Ist es vielleicht elf Uhr? Schämen Sie sich nicht, etwas nach zwei Uhr noch bei Tisch zu sitzen? Ein guter Christ tut das nicht, ein guter Christ nicht!«

Sie pflanzte sich vor ihn hin.

»Wo sind Sie eigentlich gewesen? Wen haben Sie gesprochen? Was hat Sie so aufhalten können? ... Wenn Sie ein Kind wären, bekämen Sie die Rute. Ein Priester gehört nicht auf die Straße in der größten Sonnenhitze, wie die Bettelleute, die keine Unterkunft haben... In einer hübschen Verfassung sind Sie, Schuhe und Sutane weiß von Staub! Wer wird sie ihnen bürsten, Ihre Sutane? Wer besorgt Ihnen eine andere? ... Wüßte man nicht, wer Sie sind, käme man auf komische Gedanken. Und wenn Sie's wissen wollen? Für nichts stehe ich mehr ein. Wenn man zu so verrückten Stunden seine Mahlzeiten einnimmt, ist man zu allem fähig.«

Erleichtert ließ der Abbé Mouret das Gewitter über sich ergehen. Er empfand, wie seine Nerven sich entspannten bei den aufgeregten Reden der alten Dienerin.

»Lassen Sie es gut sein, meine liebe Teuse,« sagte er, »zuallererst werden Sie Ihre Schürze wieder umbinden.«

»Nein, nein,« schrie sie, »es ist aus, ich gehe.«

Er erhob sich und band ihr lachend die Schürze wieder um. Sie wehrte sich unter Gestammel:

»Nein, ich will nicht, sag' ich Ihnen ... Ein Schmeichler sind Sie. Ich durchschaue Ihr Spiel, ich merke wohl. Sie wollen mich beruhigen mit Ihrem zuckersüßen Gerede... Wo sind Sie gewesen? Nun, wir werden ja sehen.«

Vergnügt und mit Siegermiene setzte er sich wieder an den Tisch.

»Erst,« begann er, »muß man mir erlauben, etwas zu essen... Ich bin ganz ausgehungert.«

»Kein Wunder,« schnurrte sie gerührt. »Ist das denn auch vernünftig? Wollen Sie, daß ich noch zwei Spiegeleier mache? Das geht schnell. Nun, wenn Sie genug haben. Alles ist kalt geworden! Und ich hatte so achtgegeben auf die Eieräpfel! Wie sie jetzt aussehen. Alte Schuhsohlen könnte man meinen ... Ein Glück, daß Sie kein Feinschmecker sind wie der arme selige Herr Caffin ... Oh! darüber ist nicht zu streiten, gute Eigenschaften haben Sie...«

Sie bediente ihn mit mütterlicher Aufmerksamkeit unter anhaltendem Geschwätz. Dann, als er fertig war, lief sie nach der Küche, um nachzusehen, ob der Kaffee noch warm sei. Sie ließ sich in der Versöhnungsfreude gehen und hinkte auf das abenteuerlichste. Gewöhnlich hütete sich der Abbé Mouret vor dem Kaffee, der ihm schlimme Nervenstörungen verursachte; bei dieser Gelegenheit aber nahm er die gebotene Tasse an, um den Frieden zu besiegeln. Und als er noch etwas am Tische sitzenblieb, nahm sie ihm gegenüber Platz und wiederholte sanft, von Neugierqualen überwältigt, ihre Fragen:

»Wo waren Sie, Herr Pfarrer?«

»Nun, ich war bei den Brichet, ich habe mit Bambousse verhandelt...« antwortete er lächelnd.

Hierauf mußte er erzählen, was die Brichet sagten, zu welchen Entschlüssen Bambousse gekommen war, und was für Gesichter sie machten und wo er sie aufgestöbert hatte. Als sie die Antwort von Rosaliens Vater hörte, rief sie aus:

»Potztausend! Wenn das Kleine stürbe, wäre die Schwangerschaft so gut wie nicht gewesen.«

Sie faltete die Hände mit einem Ausdruck bewundernden Neides:

»Wie Sie sich den Mund wund geredet haben müssen, Herr Pfarrer. Über einen halben Tag, um so wenig zu erreichen!... Sind Sie auch ganz langsam zurückgegangen? War es nicht höllisch heiß auf dem Weg?«

Der Abbé, der aufgestanden war, gab keine Antwort. Er wollte vom Paradeis anfangen, Näheres wissen. Aber aus Furcht vor zu stürmischen Fragen, einer Art Scham, die er sich selbst nicht eingestand, verschwieg er seinen Besuch bei Jeanbernat. Er umging jedes weitere Verhör mit der Erkundigung:

»Wo ist denn meine Schwester, ich höre sie gar nicht?«

»Kommen Sie mit, Herr Pfarrer,« sagte die Teusin lachend und legte einen Finger auf die Lippen.

Sie traten in das anliegende Zimmer, ein ländliches Wohngemach, beklebt mit einer grauverblaßten, großblumigen Tapete. Das Sofa und die vier Sessel waren mit Roßhaarstoff bespannt. Auf dem Sofa, der Länge nach ausgestreckt, schlief Desiderata, die Arme unter dem Kopf verschränkt. Ihre Röcke waren verschoben und ließen die Knie frei; dank der Haltung der bis zum Ellbogen entblößten Arme zeichnete sich die Brust in kräftigen Linien. Ihr Atem ging etwas schwer, zwischen den roten, halbgeöffneten Lippen blitzten die Zähne.

»Es ist nicht zu glauben, wie fest sie schläft!« flüsterte die Teusin, »nicht einmal gehört hat sie, wie Sie mich vorhin ausgezankt haben ... Sie hat guten Grund, müde zu sein. Fast bis zum Mittag hat sie ihre Tiere gesäubert, stellen Sie sich das vor. Nach dem Essen ist sie wie ein Bleiklotz dort hingefallen. Nicht mehr gerührt hat sie sich.«

Der Priester betrachtete sie einen Augenblick voller Zärtlichkeit.

»Wir müssen sie schlafen lassen, solange sie Lust hat,« sagte er.

»Versteht sich... ewig schade ist es, daß sie so kindisch ist! Sehen Sie nur die kräftigen Arme! Wenn ich ihr beim Anziehen helfe, muß ich immer denken, was für eine schöne Frau sie geworden wäre. Prächtige Neffen hätten Sie haben können, Herr Pfarrer. Finden Sie nicht, daß sie der großen Dame aus Stein gleicht, vorn am Kornhaus in Plassans?« Hiermit meinte sie eine auf Garben ruhende Cybele, das Werk eines Schülers von Puget, am Giebelsims der Markthalle ausgemeißelt. Der Abbé Mouret zog sie leise aus dem Wohnzimmer und legte ihr ans Herz, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Bis zum Abend blieb es still in der Pfarre. Die Teusin kam in der Scheune mit ihrer Wäsche zu Ende. Der Priester saß in der Tiefe des schmalen Gartens, frommer Beschaulichkeit hingegeben, das Brevier war ihm auf die Knie gesunken, rosig blätterte es von den Pfirsichbäumen.


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