Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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15

Am nächsten Tag gegen drei Uhr sahen die Teusin und Bruder Archangias, die auf dem Vorplatz des Pfarrhofes sich besprachen, den leichten Wagen des Doktors Pascal in vollem Galopp das Dorf durchqueren; heftige Peitschenhiebe fielen aus dem Verdeck.

»Wohin rast er denn so?« murmelte die alte Dienerin. »Er wird sich den Hals brechen.«

Der Wagen war am Fuß der Anhöhe angelangt, auf der die Kirche stand. Jäh bäumte sich das Pferd und hielt an, und der Kopf des Arztes ohne Hut und mit zerwühlten Haaren streckte sich aus dem Verdeck.

»Ist Sergius zu Hause?« schrie er mit wutbebender Stimme.

Die Teusin war bis zum Rand der Anhöhe vorgegangen.

»Der Herr Pfarrer ist in seinem Zimmer,« gab sie zur Antwort. »Er wird wohl sein Brevier lesen ... Haben Sie ihm etwas zu sagen? Wünschen Sie, daß ich ihn rufe?«

Onkel Pascal, dessen Antlitz ganz verstört war, machte eine schreckliche Bewegung mit der rechten, die Peitsche umklammernden Hand. Er begann wieder, sich weiter vorbeugend, auf die Gefahr hin, hinauszustürzen:

»Ah so, das Brevier liest er! ... Nein, rufen Sie ihn nicht. Erdrosseln würde ich ihn und das ist überflüssig ... Ich habe ihm zu sagen, Albine ist tot, haben Sie verstanden! Bestellen Sie ihm einen Gruß von mir und sie sei tot!«

Damit verschwand er, zog seinem Pferd einen so scharfen Hieb über, daß das Tier wild wurde. Zwanzig Schritt weiter hielt er von neuem, streckte nochmals seinen Kopf vor und schrie noch lauter:

»Richten Sie ihm auch von mir aus, daß sie in anderen Umständen war! Das wird ihm Freude machen.«

Der Wagen raste weiter, in beunruhigenden Sprüngen fuhr er den steinigen Hügelweg herauf, der nach dem Paradeis führte. Der Teusin setzte der Atem aus. Bruder Archangias grinste und sah sie mit Augen an, in denen wilde Freude glimmte. Da versetzte sie ihm einen Stoß, der ihn fast vom Vorplatz herunterwarf.

»Machen Sie, daß Sie fortkommen,« stieß sie hervor, in zornigster Entrüstung. »Sie sind mir ein Greuel... Wie kann man sich denn über den Tod der Leute freuen! Ich habe das Mädchen nicht gemocht. Aber es ist traurig, so jung sterben zu müssen ... Machen Sie, daß Sie fortkommen! Wenn sie nicht gleich aufhören, so zu lachen, zieh' ich Ihnen meine Schere durchs Gesicht!«

Erst um ein Uhr hatte ein Bauer, der nach Plassans zum Gemüseverkauf gekommen war, den Doktor Pascal von Albines Tod benachrichtigt und hinzugesetzt, Jeanbernat bäte ihn, zu kommen. Der Ausbruch vor der Kirche hatte ihn etwas erleichtert, er war von seinem Weg abgebogen, um sich diese Genugtuung zu verschaffen. Er machte sich bitterste Vorwürfe über ihren Tod, wie für ein Verbrechen, an dem er teilgehabt hätte. Den ganzen Weg entlang ging er unaufhörlich aufs härteste mit sich zu Gericht. Er mußte sich die Augen wischen, um zum Lenken seines Pferdes genügend sehen zu können und ließ den Wagen über Steinhaufen fahren in der stillen Hoffnung, umzuwerfen und irgendein Glied zu brechen. Als er in den Hohlweg einbog, der an der endlosen Parkmauer sich entlangzog, stieg eine Hoffnung in ihm auf. Vielleicht lag Albine nur in schwerer Ohnmacht. Der Bauer hatte erzählt, sie habe sich mit Blumenduft getötet. Ach, wenn er doch zur Zeit käme, wenn er sie retten könnte. Und grimmig schlug er auf sein Pferd ein, als schlüge er sich selber.

Der Tag war sehr klar. Ganz sonnenüberflossen schien ihm das Gartenhaus, wie in den schönen Maitagen. Aber die Blätter des Efeus, der bis unters Dach emporkroch, wiesen rostige Flecken, und die Hummeln umsummten nicht mehr die aus Steinspalten wachsenden Levkoien. Aufgeregt band er sein Pferd an und stieß das Gartengitter auf. Die altbekannte Stille, in der Jeanbernat seine Pfeife zu rauchen pflegte, lagerte, doch war die Bank vor den Salatbeeten leer.

»Jeanbernat!« rief der Arzt.

Niemand antwortete. Wie er in den Vorflur eintrat, sah er etwas, das er noch nie erblickt hatte. In der Tiefe des Ganges, unterhalb des Treppendunkels, stand eine Tür offen ins Paradeis; die herbstgelben Blätter des trübunübersehbaren Gartens wogten in der blassen Sonne. Er überschritt die Schwelle dieser Türe und tat ein paar Schritte auf dem feuchten Gras.

»Ah, Sie sind es, Doktor!« sagte die ruhige Stimme Jeanbernats. Jeanbernat höhlte mit kräftigen Spatenstichen eine Grube, am Fuß eines Maulbeerbaumes. Als er Schritte hörte, richtete er seine hohe Gestalt in die Höhe. Dann nahm er die Arbeit wieder auf und hob mit einem einzigen Hieb eine ungeheuere Scholle fetter Erde aus.

»Was tun Sie denn da?« fragte der Doktor Pascal.

Jeanbernat richtete sich von neuem auf. Er wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirne.

»Ich grabe ein Grab,« erwiderte er einfach. »Sie hat den Garten immer gern gehabt. Er wird ihr eine sanfte Ruhstatt sein.«

Der Arzt fühlte, wie die Bewegung ihn überkam. Eine Weile blieb er am Rande der Grube stehen, ohne ein Wort hervorbringen zu können und sah Jeanbernats unermüdlichem Spaten zu.

»Wo ist sie?« sagte er endlich.

»Oben in ihrem Zimmer. Ich habe sie auf dem Bett liegen lassen. Ich will, daß Sie ihr das Herz behorchen, bevor sie da hineinkommt ... Ich habe gehorcht, aber nichts gehört.«

Der Arzt ging hinauf. Das Zimmer war unverändert, ein einziges Fenster stand offen. Nur die verwelkten, im eigenen Duft erstickten Blumen durchwebten es mit faden Gerüchen erstorbenen Fleisches. Doch in der Nischentiefe hing lau erstickende Luft, die ins Zimmer zu fluten schien und dünn schwelend zog. Albine schlief, sehr weiß und lächelnd auf ihrem Lager von Hyazinthen und Tuberosen. Auf dem Herzen lagen die Hände, sie war in Wahrheit tot und vollkommen glücklich. Vor dem Bett stehend, betrachtete der Arzt sie lange mit den durchdringenden Blicken des Gelehrten, der eine Erweckung bewerkstelligen möchte. Nicht einmal ihre gefalteten Hände tastete er an; die Stirne küßte er ihr an der Stelle, die ihre Mutterschaft schon leicht überschattete. Mit dumpfer Regelmäßigkeit klang unten im Garten Jeanbernats Spaten.

Nach Ablauf einer halben Stunde kam der Alte herauf. Er war fertig mit seiner Arbeit. Den Arzt fand er am Bett sitzend, so in Gedanken vertieft, daß er nicht zu bemerken schien, wie ihm große Tränen die Wangen überrannen. Die beiden Männer wechselten nur einen Blick. Dann, nach einem Schweigen:

»Sie sehen, ich hatte doch recht,« sagte Jeanbernat und rundete wieder jene weite Armbewegung. »Der Himmel ist leer. Es gibt nichts, nichts, nichts ... Das Ganze ist ein schlechter Scherz.«

Er blieb stehen und hob Rosen auf, die vom Bett gefallen waren; eine nach der anderen streute er über Albinens Kleid.

»Blumen sind kurzlebig,« redete er weiter. »Wüste Brennesseln aber, wie ich, überdauern die Steine, aus denen sie aufwachsen ... Jetzt heißt es Guten Abend, ich will auch abfahren. Mein letztes bischen Sonne hat man mir ausgeblasen. Ein schlechter Scherz ist das Ganze...«

Und jetzt ließ auch er sich nieder. Er weinte nicht, die starre Verzweiflung eines Automaten, dessen Uhrwerk zerbricht, lag über ihm. Mechanisch streckte er die Hand aus und nahm ein Buch von dem kleinen, veilchenüberdeckten Tisch. Eines der Bücher vom Speicher war es, ein einzelner Band Holbach, in dem er von früh an gelesen hatte, während er bei Albines Leiche Totenwacht hielt. Da der Arzt sein gramvolles Schweigen nicht brach, begann er neuerlich zu blättern.

»Wenn Sie mir behilflich sein wollten,« sagte er zu dem Arzt, »könnten wir sie zusammen heruntertragen und mitsamt den Blumen begraben.«

Onkel Pascal überlief es. Er setzte auseinander, daß es nicht erlaubt sei, die Toten dieserart bei sich zu behalten.

»Was soll das heißen, nicht erlaubt!« rief der Alte, »so werde ich mir die Erlaubnis eben nehmen. Gehört sie denn nicht mir? Glauben Sie vielleicht, daß ich sie mir von den Pfaffen fortnehmen lassen werde? Die sollen es nur versuchen, mit Flintenschüssen werde ich sie empfangen.«

Er war aufgestanden und schwang das Buch in schrecklicher Erregung. Der Arzt ergriff seine Hände, preßte sie zwischen den seinen und bat ihn, sich zu beruhigen. Lange Zeit redete er auf ihn ein und sagte alles, was ihm nur irgend einfiel; er klagte sich an, halbe Geständnisse entschlüpften ihm, dann wendete er unbestimmt die Rede jenen zu, die den Tod Albines verschuldet hatten.

»Hören Sie auf mich,« sagte er endlich, »sie gehört Ihnen nicht mehr, Sie werden sie ihnen ausliefern müssen.«

Aber Jeanbernat schüttelte den Kopf und machte eine abweisende Bewegung. Immerhin war sein Entschluß ins Wanken gekommen, und endlich sagte er:

»Gut, sie sollen sie nur holen. Möchte sie ihnen die Arme zerbrechen... Ich wollte, sie stiege heraus aus ihrer Erde, auf daß sie alle vor Angst verreckten ... Übrigens habe ich da drüben noch etwas zu besorgen. Ich will morgen hingehen ....«

Und als der Arzt gegangen war, setzte er sich wieder an das Bett der Toten und las ernsthaft weiter in seinem Buch.


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