Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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5

Der Bruder hatte schon gegessen, er blieb und saß rittlings auf einem gewendeten Stuhl bei der Mahlzeit des Priesters. Seit dieser im Artaud zurück war, kam er fast jeden Abend und richtete sich häuslich ein. Nie hatte er sich dort so grob eingedrängt als jetzt. Seine klobigen Schuhe lärmten auf dem Steinboden, seine Stimme hallte, unter seinen Fäusten krachten die Möbel, während er von der Tracht Prügel sprach, die er morgens den kleinen Mädchen verabfolgt hatte, oder seine Moralanschauungen niederlegte in Formeln, hart wie Stockhiebe. Aus Langeweile war ihm der Einfall gekommen, mit der Teusin Karten zu spielen. Sie spielten endlos »Krieg,« kein anderes Spiel war der Teuse beizubringen. Der Abbé Mouret hatte über die ersten wild auf den Tisch gehauenen Karten gelächelt, dann versank er nach und nach in tiefe Gedanken; so konnte er sich stundenlang vergessen, entgleiten unter den mißtrauischen Seitenblicken des Bruders.

An diesem Abend war die Teusin so schlecht gelaunt, daß sie gleich nach dem Tischabdecken sagte, sie ginge zu Bett. Aber der Bruder wollte sein Spielchen. Er gab ihr Püffe auf die Schultern und brachte es fertig, sie zum Sitzen zu bringen, mit solcher Nachdrücklichkeit, daß der Stuhl krachte. Schon mischte er die Karten. Desiderata, die ihn nicht ausstehen konnte, war mit ihrem Nachtisch verschwunden, jeden Abend fast nahm sie das Nachgericht mit hinauf und aß es im Bett.

»Die Roten will ich,« sagte die Teusin. Und der Kampf begann. Zu Anfang entführte die Teuse dem Bruder einige gute Karten. Dann fielen zwei Asse zu gleicher Zeit auf den Tisch.

»Schlacht,« rief sie in äußerster Erregung.

Sie warf eine Neun aus und entsetzte sich; da aber der Bruder nur eine Sieben dagegen spielte, raffte sie die Karten siegreich an sich. Nach Ablauf einer halben Stunde blieben ihr wieder nur die beiden Asse und die Möglichkeiten waren ausgeglichen. Nach drei Viertelstunden war sie es, die ein As verlor. Das Hin und Her von Buben, Damen, Königen hatte etwas von einem Gemetzel.

»Eine famose Partie, was?« sagte Bruder Archangias, zum Abbé Mouret gewendet. Grob erhob er die Stimme, als er das unbestimmte Lächeln gewahrte, die tiefe Versunkenheit.

»Nun, Herr Pfarrer, sehen Sie uns denn nicht zu? Das ist nicht höflich ... Spielen wir doch nur um ihretwillen und um Sie aufzuheitern ... Hoppla, passen Sie nur immer auf. Das ist Ihnen gesünder als so zu träumen. Wo waren die Gedanken denn wieder?«

Der Priester erwiderte nichts und gab sich mit flatternden Augenlidern Mühe, dem Spiel zu folgen. Die Partie nahm ihren leidenschaftlichen Fortgang. Die Teusin gewann ihr As zurück, verlor es wieder. An manchen Abenden machten sie sich stundenlang die Asse streitig; oft sogar gingen sie erbost zu Bett, weil keiner den anderen besiegte.

»Eben fällt mir ein,« rief plötzlich die Teusin, in großer Angst vor dem Verlieren, »der Herr Pfarrer sollte doch heute abend einen Gang machen. Er hat dem langen Fortunat und der Rosalie versprochen, das Zimmer einzusegnen, wie es Sitte ist... Schnell, Herr Pfarrer! Bruder Archangias begleitet Sie.«

Der Abbé Mouret war schon auf den Beinen und suchte nach seinem Hut. Bruder Archangias aber zürnte, ohne die Karten hinzulegen:

»Lassen Sie's doch! Warum soll der Schweinestall auch noch eingesegnet werden. Für das Saubere, was in dem Zimmer dort getrieben werden soll!... Auch ein Gebrauch, der abgeschafft werden müßte. Ein Priester hat seine Nase nicht unter die Bettücher der Neuvermählten zu stecken... Bleiben Sie. Spielen wir zu Ende. Das ist besser.«

»Nein,« sagte der Priester, »ich gab mein Versprechen. Die braven Leute könnten gekränkt sein... Bleiben Sie nur und endigen Sie die Partie, bis ich wiederkomme.«

Die Teusin betrachtete beunruhigt Bruder Archangias.

»Also gut! Ja, ich bleibe,« verkündete dieser. »Es ist doch zu albern!«

Aber der Abbé Mouret war noch nicht an der Türe, da stand er auf und warf heftig seine Karten hin. Er kam zurück und sagte der Teusin:

»Ich war am Gewinnen ... Lassen Sie die Karten so liegen, wie wir sie hingeworfen haben. Morgen spielen wir weiter.«

»Ach, jetzt ist alles durcheinander gekommen,« erwiderte die alte Magd, die sich beeilt hatte, die Karten zu vermengen. »Glauben Sie vielleicht, ich werde Ihre Karten unter Glas setzen! Außerdem hätte ich noch gewinnen können, ich hatte noch ein As.«

Mit wenigen großen Schritten hatte Bruder Archangias den Abbé Mouret eingeholt, der den kleinen, zum Artaud führenden Pfad hinunterging. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihn zu bewachen. Allstündlich paßte er ihm auf, begleitete ihn überallhin, schickte ihm einen seiner Schuljungen nach, wenn er selbst nicht abkömmlich war. Mit seinem häßlichen Lachen sagte er, daß er »Gottes Schutzmann« sei. Und es war wirklich so, als sei der Priester ein im Dunkel der schwarzen Sutane des Bruders gefangener Verbrecher, dem man mißtraut und von dem man annimmt, daß er rückfällig wird, wenn man ihn eine Minute aus den Augen läßt. Er ging zu Werk mit der Bitterkeit einer eifersüchtigen alten Jungfer; wie die kleinliche Sorge eines Kerkermeisters war es, der die Ausübung seines Amtes soweit übertreibt, die durch Luken sichtbaren Himmelsstücklein auszusperren. Bruder Archangias war immer auf dem Posten, stellte sich vor die Sonne, vertrieb jeden Duft und umlauerte das Pfarrhaus so gründlich, daß nichts von außerhalb mehr Eingang fand. Die kleinsten Schwächen des Abbé erspähte er, las ihm zärtliche Gedanken aus hellem Blick ab und erstickte sie mit einem Wort, wie böswillige Tiere. Schweigen, Lächeln, die Blässe der Stirn, das Zusammenschauern der Glieder, alles war in seine Gewalt gegeben. Übrigens vermied er von dem Fehltritt geradeaus zu sprechen. Schon seine Anwesenheit war ein Vorwurf. Die Art, wie er manche Sätze betonte, gab ihnen das scharf Schneidende eines Geißelhiebes. In einer Bewegung vermochte er allen Kot zusammenzuraffen, den er über die Sünde zu speien pflegte. Wie jene betrogenen Ehemänner, die ihre Frauen mit beißenden Anspielungen knechten, deren Grausamkeit ihnen allein offenbar ist, tat er der Begebenheit im Paradeis keinerlei Erwähnung, sondern begnügte sich damit, sie mit einem einzigen Wort zu beschwören, um in gefährlicher Stunde dies widerspenstige Fleisch zu vernichten. Auch er war hintergangen worden von diesem Priester, der ganz besudelt war von Gottehebruch, der Gelübde verraten hatte, noch überrieselt war von verbotenen Zärtlichkeiten, deren schwache Ausstrahlung genügte, seine Verhaltenheit niemals befriedigten Bockes wütend aufzureizen. Es war fast zehn Uhr. Das Dorf schlief; aber nach der Mühle zu am anderen Ende ging es hoch her in einem hellerleuchteten Gebäu. Vater Bambousse hatte Tochter und Schwiegersohn einen Teil seines Hauses abgetreten; die besten Zimmer behielt er für sich. In Erwartung des Pfarrers trank man dort eine letzte Runde.

»Besoffen sind sie,« schimpfte Bruder Archangias, »hören Sie nur, wie sie sich aufführen!«

Der Abbé Mouret gab keine Antwort. Es war eine prachtvolle Nacht, ganz durchblaut vom Mond; das ferne Tal wandelte sich zum träumenden See. Und er verlangsamte seinen Schritt, wohlig durchdrungen von der sanften Klarheit; er hielt sogar ein vor manchem Strahlenstreifen, angenehm durchschauert wie von der Nähe kühlen Gewässers. Der Bruder hastete weiter, schalt und sprach auf ihn ein.

»Kommen Sie doch ... es ist ungesund, um diese Zeit über Land zu gehen. Sie gehörten ins Bett.«

Am Anfang des Dorfes pflanzte er sich plötzlich mitten auf die Straße. Er hielt Ausschau nach den Höhen, wo weiße Linien sich im Dunkel kleiner Nadelwälder verloren. Er knurrte wie ein Hund, der Gefahr wittert.

»Wer kommt denn da so spät herunter?« murmelte er.

Der Priester sah und hörte nichts und wollte ihn nun seinerseits zur Eile antreiben.

»Lassen Sie doch, da haben wir ihn,« fing aufgeregt Bruder Archangias wieder an. »Jetzt ist er an der Biegung. Da, nun sieht man ihn im Mondschein. Jetzt können wir ihn genau sehen. Ein langer Mensch ist es mit einem Stock.«

Dann nach einer Pause mit rauher, wuterstickter Stimme:

»Der Spitzbube ist es! ... Hab' ich es doch gleich gedacht.«

Jetzt war der Kommende unten am Abhang angelangt; der Abbé Mouret erkannte Jeanbernat. Trotz seiner achtzig Jahre trat der Alte so fest auf, daß seine groben benagelten Schuhe Funken schlugen aus den Straßenkieseln. Baumgerade kam er daher, ohne sich seines Stockes zu bedienen, den er wie ein Gewehr schulterte.

»Oh, der Verfluchte,« stieß der Bruder hervor, der wie festgebannt stand. »Der Teufel läßt ihm die Hölle unter den Tritten hervorsprühen.«

Der verwirrte Priester verzweifelte daran, den Bruder von der Stelle zu bringen; so drehte er ihm den Rücken, um weiterzugehen, in der Hoffnung, Jeanbernat noch zu entgehen, wenn er sich beeilte, in das Haus der Familie Bambousse zu kommen. Aber er hatte noch keine fünf Schritte getan, da klang ihm die spottende Stimme des Alten dicht im Rücken.

»Na, warten Sie doch, Pfarrer. Haben Sie Angst vor mir?«

Und als der Abbé Mouret stehenblieb, trat er auf ihn zu und fuhr fort: »Den Teufel auch, bequem ist die Sutane nicht, sie hindert am Laufen. Und dann erkennt man sie in der Nacht von weitem schon ... Oben auf der Höhe hab' ich mir gesagt: ›Sieh einer, da hätten wir den kleinen Pfarrer.‹ O meine Augen sind noch scharf!... Sie wollen also gar nicht mehr zu uns kommen?«

»Ich bin sehr beschäftigt gewesen,« flüsterte der tief erblaßte Priester.

»Gut, gut. Jedem steht frei zu handeln, wie er mag; man soll niemand zu nichts zwingen. Wenn ich davon anfange, ist's nur, um Ihnen zu zeigen, daß ich nicht mehr daran denke, daß Sie Pfarrer sind. Ich lasse Sie sogar mit Ihrem lieben Gott in Ruhe, meinetwegen ... Die Kleine meint, ich hindere Sie am Kommen. Da Hab' ich ihr gesagt: ›Der Pfarrer ist ein Blödian.‹ Das ist auch meine Ansicht. Hab' ich Sie etwa gebissen während Ihrer Krankheit? Nicht einmal zu einem Besuch bin ich heraufgekommen!«

Er redete mit ruhigem Gleichmut und tat, als bemerke er die Anwesenheit des Bruders nicht.

Als dieser aber ein drohendes Knurren von sich gab, begann er:

»Ho, Pfarrer, Sie gehen wohl mit Ihrem Schwein spazieren?«

»Warte nur, Räuber,« kreischte der Bruder und ballte die Fäuste.

Jeanbernat hob den Stock und tat, als ob er ihn erst jetzt erkenne.

»Runter mit den Pfoten!« schrie er. »Ah, du bist es, Pfaffe! Am Gestank deines Leders hätte ich dich erkennen sollen. Wir müssen noch abrechnen. Ich habe geschworen, dir die Ohren abzuschneiden, wenn du Schule hältst. Das wird den Buben Spaß machen, die du verdirbst.«

Vor dem Stock zog sich der Bruder zurück, erstickte fast vor Wut, stotterte, fand die Worte nicht mehr.

»Die Polizei bring' ich dir auf den Hals, Mörder! Du hast auf die Kirche gespuckt, ich hab's gesehen! Wenn du an den Türen vorbeigehst, verseuchst du die armen Leute. In Sankt-Eutrope hast du einem Mädchen die Leibesfrucht abgetrieben, du zwangst sie, eine von dir gestohlene geweihte Hostie zu essen. In Biage hast du Kinder ausgegraben und sie auf deinem Rücken fortgeschleppt, sie verwendet zu deinen Abscheulichkeiten... Alle Welt weiß es. Elender! Du bist das Ärgernis der ganzen Gegend. Wer dich erdrosselt, kommt sofort in den Himmel.«

Der Alte hörte grinsend zu und ließ seinen Stock kreisen. Zwischen zwei Beschimpfungen des anderen sagte er halblaut:

»So, so, Schlange, mach' dir nur Luft! Nachher brech' ich dir das Rückgrat.«

Der Abbé Mouret wollte einschreiten; Bruder Archangias stieß ihn aber zurück mit den Worten:

»Sie, Sie sind auf seiner Seite! Hat er Sie nicht auf das Kreuz treten lassen? Können Sie das leugnen?«

Und wieder zu Jeanbernat:

»Satan du! Wie du dich gefreut hast, als du einen Priester erwischen konntest. Der Himmel soll zerschmettern, die dir halfen bei dieser Lästerung! ... Was tatest du in der Nacht, während er schlief? Was hast du mit deinem Speichel getan? Die Tonsur befeuchtet, damit die Haare schneller wachsen. Du hast ihm auf Kinn und Wangen geblasen, damit der Bart in einer Nacht fingerbreit wüchse. Du hast ihm den ganzen Körper eingerieben mit deinen Herereien, flößtest ihm in den Mund höllischen Saft ein, setztest ihn in Brunst ... So hast du ihn zum Vieh gemacht, Satan!«

»Seine Dummheit beginnt mich zu langweilen,« äußerte Jeanbernat und schulterte seinen Stock neuerdings.

Mutig gemacht, streckte ihm der Bruder seine beiden Fäuste unter die Nase.

»Und deine Dirne?« brüllte er. »Du hast sie splitternackt dem Priester ins Bett gesteckt!«

Laut aufheulend machte er einen Sprung nach rückwärts.

Der Stock des Alten hatte ihn mit voller Wucht getroffen und zerbrach auf seinem Rücken. Er zog sich noch weiter zurück, raffte von einem Steinhaufen am Weg einen Stein in der Größe zweier Fäuste auf und warf ihn Jeanbernat an den Kopf. Hätte dieser sich nicht gebückt, wäre die Stirne ihm zerschmettert worden. Er lief zum nächsten Steinhaufen, duckte sich und griff nach Steinen. Und von einem Haufen zum anderen entspann sich ein schrecklicher Kampf. Es regnete Steine. Scharf zeichneten sich die Schatten im scharfen Mond.

»Ja, ins Bett hast du sie ihm gesteckt,« wiederholte der Bruder außer sich. »Und ein Kruzifix hast du unter die Matratze gelegt, damit der Unrat darauf fiele ... Ha, ha, du wunderst dich wohl, daß ich alles weiß. Du erwartest von dieser Verschmelzung die Geburt irgendeines Ungeheuers. Jeden Morgen machst du die dreizehn höllischen Zeichen über dem Bauch deiner Dirne, damit sie den Antichrist zur Welt bringt. Den Antichrist wünschest du dir, Räuber! ... Da, einäugig soll der Stein dich machen!«

»Und dieser dir den Schnabel schließen!« erwiderte Jeanbernat, der seine Ruhe zurückgewonnen hatte. »Was für törichte Geschichten dieses Biest erzählt! ... Muß ich dir denn den Schädel einhauen, um meinen Weg fortsetzen zu können? Hat dein Katechismus dir den Verstand verrückt?«

»Der Katechismus? Willst du den Katechismus kennenlernen, den man Verfluchten deiner Sorte beibringt? Jawohl, ich will dich lehren das Kreuz schlagen ... Das ist für den Vater, das für den Sohn und das für den Heiligen Geist ... Ah, du stehst noch. Warte nur, warte ... Amen!«

Er eröffnete ein Kartätschenfeuer kleiner Steine. Jeanbernat, an der Schulter getroffen, ließ die Steine, die er in der Hand hatte, fallen und ging ruhig vor, während der Bruder neue Steine aus dem Haufen zusammensuchte und stammelte:

»Ich rotte dich aus. Gott will es. Gott stärkt meinen Arm!«

»Willst du dein schmieriges Maul halten?« sagte der Alte und bekam ihn beim Genick.

Es gab ein kurzes Ringen im mondblauen Straßenstaub. Der Bruder merkte, daß er der Schwächere sei und versuchte zu beißen. Die vertrockneten Glieder Jeanbernats waren wie Kordelstränge, die ihn so eng umwanden, daß die Knoten ihm ins Fleisch schnitten. Er schwieg, der Atem verging ihm, er sann auf Verrat. Als er ihn unter sich hatte, höhnte der Alte weiter:

»Ich hätte Lust, dir den Arm zu zerbrechen, um deinen lieben Gott zu zerbrechen. Siehst du wohl, daß er nicht der Stärkere ist, dein lieber Gott? Ich bin es, der dich ausrottet. Die Ohren werde ich dir jetzt abschneiden. Du hast mich zu sehr geärgert.«

Und in aller Gemütsruhe zog er ein Messer aus der Tasche.

Der Abbé Mouret hatte verschiedentlich vergeblich versucht, sich zwischen die Kämpfenden zu werfen; jetzt legte er sich so heftig ins Mittel, daß Jeanbernat endlich beschloß, diese Operation auf später zu verschieben.

»Sie haben Unrecht, Pfarrer,« murrte er. »Dieser Kerl bedarf eines Aderlasses. Schließlich, wenn's Ihnen so zuwider ist, will ich noch warten. Ich werde ihn schon noch irgendwo wiedertreffen.«

Da der Bruder ein Gegurgel von sich gab, unterbrach er sich, um ihn anzuschreien:

»Rühr' dich nicht, oder du bekommst sie gleich abgeschnitten.«

»Sie sitzen aber auf seiner Brust,« sagte der Priester. »Gehen Sie doch herunter, damit er atmen kann.«

»Nein, nein, er ließe seine Witze nicht. Ich werde ihn loslassen, wenn ich gehe... Ich sagte Ihnen also gerade, Pfarrer, als dieser Lump sich zwischen uns warf, daß Sie immer willkommen sind da drüben. Die Kleine hat zu bestimmen, müssen Sie wissen. Ich lasse ihr die gleiche Freiheit wie meinem Salat. Das alles wächst eben ... Was ist wohl schlimm daran, Halunke! Du hast es erfunden, das Böse, du Vieh!«

Er schüttelte den Bruder von neuem.

»Lassen Sie ihn aufstehen,« bat der Abbé Mouret.

»Nachher... die Kleine ist nicht gut im Stand seit einiger Zeit. Ich hab's nicht gemerkt, aber sie sagte es mir. Ich will Ihren Onkel Pascal in Plassans benachrichtigen. Nachts hat man Ruhe, man trifft keinen Menschen ... Ja, ja, der Kleinen geht es nicht gut.«

Der Priester fand keine Worte; er wankte und senkte das Haupt.

»Es hat ihr so Freude gemacht, Sie zu pflegen,« fuhr der Alte fort. »Beim Pfeifenrauchen hörte ich ihr Lachen. Das genügte mir. Mädchen sind wie der Hagedorn: gelangen sie zur Blüte, tun sie alles, was sie können ... Na, jedenfalls kommen Sie, wenn das Herz Sie zieht ... Vielleicht macht es der Kleinen Spaß ... Guten Abend, Pfarrer.«

Langsam erhob er sich, dem Bruder die Hände haltend, einer Tücke gewärtig. Dann entfernte er sich, ohne den Kopf zu wenden, verfiel in seinen langen harten Gang.

Der Bruder kroch schweigend zu dem Steinhaufen. Er wartete, bis der Alte in einiger Entfernung war. Dann fing er mit beiden Händen wieder an zu werfen. Aber die Steine kollerten in den Straßenstaub; Jeanbernat geruhte nicht, sich zu ärgern, sondern ging straff in die stille Nacht hinein.

»Der Vermaledeite! Der Teufel gibt ihm Kräfte!« stieß Bruder Archangias hervor und ließ einen letzten Stein durch die Luft pfeifen. »So ein Greis, den ein Nasenstüber umwerfen müßte! Er ist im höllischen Feuer gebacken. Ich habe seine Krallen gespürt.«

In wütendem Unvermögen trat er auf den Steinen herum. Plötzlich wandte er sich nach dem Abbé Mouret.

»Es ist Ihre Schuld,« schrie er. »Sie hätten mir helfen sollen. Zu zweit hätten wir ihn schon erdrosselt.«

Am anderen Ende des Dorfes wuchs der Lärm im Haus des alten Bambousse. Deutlich hörte man, wie die Gläser im Takt auf den Tisch gestoßen wurden. Der Priester war weitergegangen, ohne aufzusehen, und steuerte auf die große Helle zu, die aus den Fenstern fiel wie das Aufflammen eines Rebholzfeuers. Düster folgte ihm der Bruder mit staubbedeckter Sutane, blutender, von einem Stein gestreifter Wange. Dann nach einem Schweigen mit harter Stimme:

»Werden Sie hingehen?« fragte er.

Als der Abbé Mouret keine Antwort gab, fuhr er fort:

»Nehmen Sie sich in acht, Sie werden in die Sünde zurückfallen ... Das Kommen dieses Mannes hat genügt, Sie erbeben zu machen. Ich habe Sie im Mondschein beobachtet, Sie waren blaß wie ein Weib ... Nehmen Sie sich in acht, sage ich. Diesmal verzeiht Gott nicht. Sie werden wieder den gleichen Abscheulichkeiten verfallen... Ah, elender Erddreck, der zu Dreck verlangt.«

Da hob der Priester endlich das Antlitz. Schweigend vergoß er heiße Tränen. Mit herzzerreißender Sanftmut sagte er:

»Warum sprechen Sie so zu mir? ... Sie sind ständig neben mir, kennen die Kämpfe jeder meiner Stunden. Zweifeln Sie nicht an mir, nehmen Sie mir nicht die Kraft, mich zu überwinden.«

Diese einfachen, von stillen Tränen berieselten Worte erklangen in der Nacht so voll schmerzlich höchstem Leiden, daß selbst Bruder Archangias, trotz seiner Roheit, sich bewegt fühlte. Er sagte nichts mehr und schüttelte seine Sutane aus, wischte die blutende Wange ab. Als sie vor dem Haus der Familie Bambousse angelangt waren, lehnte er es ab, einzutreten. Einige Schritte weiter ließ er sich auf einem alten umgestürzten Karren nieder, wo er mit Doggengeduld wachte.

»Da ist der Herr Pfarrer,« riefen alle Bambousse und alle Brichet, die am Tisch saßen.

Man füllte die Gläser von neuem. Der Abbé Mouret mußte auch ein Glas annehmen. Eine richtige Hochzeitsfeier hatte es nicht gegeben. Am Abend nur nach dem Essen hatte man ein großes Fünfzig-Liter-Behältnis auf den Tisch gestellt, das man vor dem Schlafengehen zu leeren gedachte. Zu zehn waren sie, und schon konnte Vater Bambousse mit einer Hand den Behälter kippen, aus dem nur noch ein dünner roter Strahl rann. Rosalie, voller Heiterkeit, steckte das Kinn des Kleinen in das Glas, währenddem der lange Fortunat Kunststücke machte und Stühle mit den Zähnen emporhob. Die ganze Gesellschaft begab sich ins Schlafzimmer. Die Sitte wollte, daß der Pfarrer hier den Wein austrank, den man ihm eingegossen hatte. Dies nannte man das Zimmer segnen. Es sollte Glück bringen und verhindern, daß das Paar sich prügelte. Zur Zeit des Herrn Caffin gingen die Dinge vergnüglich vor sich, der alte Pfarrer lachte gern; er war sogar berühmt für die Art, wie er das Glas leerte, ohne einen Tropfen am Grund übrigzulassen; um so mehr, als die Frauen im Artaud vorgaben, daß jeder Tropfen, der zurückbliebe, ein Jahr Liebesfreuden weniger bedeute für die Eheleute. In Gegenwart des Abbés Mouret scherzte man weniger laut. Er leerte das Glas auf einen Zug, was Vater Bambousse sehr zu schmeicheln schien. Die alte Brichet sah auf den Boden des Glases und verzog den Mund. Vor dem Bett erging sich ein Onkel, der Feldhüter war, in sehr deutlichen Späßen, belacht von der Rosalie, die der lange Fortunat schon bäuchlings über das Bett geworfen hatte, liebkosenderweise. Und nachdem alle irgendeine Zweideutigkeit von sich gegeben hatten, ging man zurück in das große Zimmer.

Vinzenz und Katharina waren allein dort zurückgeblieben. Vinzenz war auf einen großen Stuhl gestiegen und drehte in seinen Armen das große Weinbehältnis um; gerade leerte er die letzten Tropfen in den offenen Mund Katharinas.

»Vielen Dank, Herr Pfarrer,« rief Bambousse, als er den Priester hinausbegleitete. »Jetzt sind die Kinder ja verheiratet, und Sie können zufrieden sein. Ach, das Gesindel. Glauben Sie nur nicht, daß die ihr Ave und Vaterunser nachher beten. Gute Nacht, schlafen Sie wohl, Herr Pfarrer.«

Bruder Archangias löste sich langsam vom Wagenkasten, auf dem er sich niedergelassen hatte.

»Der Teufel soll ihnen schaufelweise Kohlen dazwischen werfen, und verrecken sollen sie daran!«

Er tat die Lippen nicht mehr auf und begleitete den Abbé Mouret bis zum Pfarrhof. Dort wartete er, bevor er weiterging, bis jener die Türe hinter sich geschlossen hatte. Er wandte sogar zweimal den Kopf, um sicher zu sein, daß der Priester nicht wieder heraustrat. Als der Abbé Mouret in seinem Zimmer war, warf er sich vollkommen angekleidet auf das Bett, preßte das Gesicht in die Kissen und hielt sich die Ohren zu, um nichts mehr zu hören – nichts mehr zu sehen. Er verfiel in einen todähnlichen Schlaf.


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