Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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12

Wenige Schritte hinter der Mauer kauerte Albine auf einer Rasenmatte. Als sie Sergius' ansichtig wurde, stand sie auf.

»Du bist es!« schrie sie auf, über und über zitternd.

»Ja,« sagte er ruhig, »da bin ich.«

Sie warf sich an seinen Hals, küßte ihn aber nicht. An ihrem bloßen Arm hatte sie die kalten Perlen des Priesterkragens gespürt. Forschend sah sie ihn an, schon geängstigt, und begann wieder:

»Was hast du? Du hast mich nicht wie früher auf die Wangen geküßt, weißt du, so, daß es klang ... Geh, wenn du krank bist, mache ich dich noch einmal gesund. Jetzt, wo du da bist, fängt unser Glück wieder an. Alle Traurigkeit ist vorbei. Sieh, ich lächle ja, lächle du doch auch.«

Und da er ernsthaft blieb:

»Auch ich hab' großen Kummer gehabt. Bin ich nicht noch ganz blaß? Seit einer Woche habe ich meine Tage dort zugebracht, wo du mich eben fandest. Nur ein einziges Verlangen hatte ich, dich durch die Mauerlücke auf mich zukommen zu sehen. Bei jedem Laut stand ich auf und lief dir entgegen. Und nie warst du es, Blätter raschelten im Wind; aber ich wußte genau, du würdest kommen. Jahre hätte ich gewartet.«

Dann fragte sie ihn:

»Liebst du mich noch?«

»Ja,« antwortete er, »ich liebe dich noch.«

In einiger Verlegenheit standen sie sich gegenüber, ein langes Schweigen trat ein; Sergius verhielt sich still und machte keinen Versuch, es zu brechen. Albine wollte zweimal den Mund auftun, schloß ihn aber gleich wieder, verwundert über die Worte, die ihr auf die Lippen traten. Sie fand nur noch bittere Worte und fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Was war ihr denn, daß sie nicht glücklich zu sein vermochte, wo doch ihr Geliebter zurückkehrte?

»Höre,« sagte sie endlich, »hier ist nicht gut sein. Hier vereist man ja... Gehen wir ins Haus. Gib mir deine Hand.«

Und das Paradeis schlug hinter ihnen zusammen. Der Herbst war im Anzug, sorgenvoll standen die Bäume, ihren ergilbenden Wipfeln entriß sich Blatt um Blatt. Auf den Wegen lag schon eine feuchte Schicht erstorbenes Grün, das unter den Schritten aufseufzte. Über den Rasenhängen wehten Trauernebel, die blaue Fernen verhängten. Und der ganze Garten schwieg, nur bebende Betrübnis durchatmete ihn.

Sergius zitterte vor Kälte unter den großen Bäumen der Allee, die sie durchschritten. Halblaut sagte er:

»Wie kalt es hier ist.«

»Du frierst?« flüsterte Albine bekümmert. »Meine Hand wärmt dich nicht mehr. Willst du, daß ich mein Kleid um dich schlage? ... Komm, all unsere Zärtlichkeiten wachen wieder auf.«

Sie führte ihn zu den Beeten. Noch dufteten die Rosenstöcke. Die letzten Blumen hauchten scharfe Düfte aus, während das zu dichte Blattwerk wie leblose Lache sich breitete. Aber Sergius empfand so viel Widerwillen davor, in dies Gewucher eindringen zu müssen, daß sie sich am Rand entlang hielten und von weitem nach den Alleen spähten, die sie im Frühling gemeinsam durchwandelt hatten. Aller Winkel entsann sie sich, und sie wies ihm die Grotte der ruhenden Marmorfrau, wies ihm das krause Geriesel von Geißblatt und Klematis, die Veilchenwiesen, jenen Brunnen, in den rote Nelken sich ergossen, die große Treppe, überwogt von wilden Levkoien, die verfallene Säulenhalle, in deren Mitte wilde Lilien weißen Tempel bauten. Dies war der Ort ihrer Sonnengeburt. Und sie beschrieb die kleinsten Einzelheiten ihres ersten Tages, die Art, wie sie gingen und den Geruch der Luft im Schatten. Er hörte scheinbar zu; irgendeine Frage bewies aber, daß er nicht verstanden hatte, um was es sich handelte. Das leichte Frostgefühl, das ihn erblassen ließ, wich nicht mehr. Sie führte ihn zu dem Obstgarten, doch sie konnten nicht einmal ganz bis zu ihm hin gelangen. Der Fluß war angeschwollen. Sergius kam nicht mehr der Gedanke, Albine auf den Rücken zu nehmen, um sie an das andere Ufer zu tragen. Und doch waren da drüben Apfel- und Birnbäume mit Früchten noch beladen; die Weinstöcke, sparsamer beblättert, bogen sich unter der Last blonder Trauben, deren jede Beere das rote Sonnenmal trug. Als sie im überreichen Schatten dieser ehrwürdigen Bäume sich herumgetrieben hatten, waren sie noch Kinder. Albine mußte noch lächeln über die Unverfrorenheit, mit der sie ihre Beine zeigte, wenn Zweige brachen. Konnte er sich wenigstens erinnern, wie sie die Pflaumen gegessen hatten? Sergius schüttelte den Kopf als Antwort. Er war schon ermüdet. Der Obstgarten mit seinen grünen Tiefen, seinem schäumenden Stengelgetriebe, einem zusammengebrochenen und zertretenen Gerüst nicht unähnlich, wurde ihm unbehaglich, und es fiel ihm ein, daß es an feuchten Orten Brennesseln und Schlangen gäbe. Sie führte ihn auf die Wiesen. Dort mußte er ein paar Schritte im hohen Grase tun. Es reichte ihm jetzt bis zur Schulter, und die Halme schienen ihm wie ebenso viele kleine Arme, die versuchten, ihm die Glieder zu umwinden, um ihn unterzutauchen und zu ertränken in den Gründen dieses grünenden Meeres. Und flehentlich bat er Albine, nicht weiterzugehen. Weiter ging sie und blieb nicht stehen; als sie jedoch wahrnahm, daß er litt, stand sie still neben ihm, mehr und mehr umdüstert und von seinem Frösteln zu guter Letzt angesteckt. Aber sie sprach immer noch. In einer großen Geste zeigte sie die Bäche, Weidenreihen und Grasstreifen, die sich am Horizont verloren. Dies alles gehörte ihnen einstmals. Lange Tage hatten sie hier verbracht. Da drüben, zwischen den drei Weiden am Ufer jenes Wassers, spielten sie Verliebtsein. Damals hatten sie sich gewünscht, die Halme möchten höher sein als sie selbst, um sich ganz verlieren zu können in ihrer fließenden Bewegung, um noch geborgener zu sein und weiter von allem, wie Lerchen, die tief in ein Kornfeld streifen. Warum denn erzitterte er heute, nur, weil seine Fußspitze sich feuchtete und im Rasen einsank?

Sie führte ihn in den Wald. Die Bäume erschreckten Sergius noch mehr. Er kannte sie nicht in dieser stammdunklen Würde. Mehr noch als anderswo schien ihm hier inmitten des strengen Hochwaldes die Vergangenheit erstorben. Die ersten Regengüsse hatten ihre Spuren im Sande verwischt, die Winde entführten alles noch Sichtbare in das Unterholz der Sträucher. Albine aber, der Traurigkeit die Kehle zuschnürte, lehnte sich mit einem Blick dagegen auf. Sie fand im Sand die kleinsten Spuren ihrer Spaziergänge. Bei jedem Gebüsch stieg ihr alte Glut ins Antlitz, die im Vorüberstreifen dort hängengeblieben war. Bittenden Auges suchte sie immer noch, in Sergius Erinnerungen wachzurufen. Diesen Weg entlang waren sie schweigend und in großer Erregung gewandert und hatten nicht gewagt, von ihrer Liebe zu reden. Auf dieser Lichtung hatten sie eines Abends im Anschauen der Sterne, die heiß auf sie niederregneten, der Heimkehr vergessen. Unter der Eiche etwas weiter, hatten sie sich zum erstenmal geküßt. Der Duft dieses Kusses umschwebte noch das Eichengeäst, das Moos sogar wußte noch davon. Eine Unwahrheit sei es zu sagen, Leere und Schweigen breite sich jetzt über den Wald. Sergius wandte den Kopf zur Seite, um Albines Blick zu entgehen, der ihn ermüdete.

Sie führte ihn zu den großen Felsen. Dort würde ihm vielleicht dies schwächliche Frösteln vergehen, das sie zur Verzweiflung brachte. Einzig die großen Felsen waren zu dieser Stunde noch von warmen Sonnenuntergangsröten überglutet. Wie immer starrten sie in wilder Trauer, und ihren Kiesellagern überwälzte sich ungeheuerliche Paarung fleischiger Pflanzlichkeit. Und wortlos, ohne nur den Kopf zu wenden, zog Albine Sergius die steile Steigung hinan, wollte ihn höher, immer höher hinaufführen, über die Quellen hinaus, auf daß sie gemeinsam wieder der Sonne teilhaftig würden. Zur Zeder müßten sie wieder gelangen, in den Schatten, dessen Begehren sie ängstigte. Auf das heiße Gestein würden sie sich strecken und warten, bis Erddrängen sie überkäme. Aber bald schmerzten Sergius die Füße, so daß er kaum noch vorwärts kam. Ein erstes Mal stürzte er in die Knie. Albine zog ihn mit größter Anstrengung auf und stützte ihn einen Augenblick. Dann fiel er zum zweiten Male und blieb ermattet mitten auf dem Weg liegen. Unter ihm, soweit er sehen konnte, dehnte sich weit das Paradeis.

»Du hast gelogen,« schrie Albine auf, »du liebst mich nicht mehr!«

Und ihm zur Seite weinte sie über ihr Unvermögen, ihn höher hinauf zu führen. Es regte sich noch kein Zürnen in ihr, mit Tränen nur begoß sie ihre sterbende Liebe.

Er blieb wie zerschmettert.

»Der Garten ist tot, mir ist entsetzlich kalt,« flüsterte er.

Sie nahm seinen Kopf in die Hände und zeigte über das Paradeis hin.

»So sieh doch hin ... Ach, deine Augen sind tot, deine Ohren, deine Hände, dein ganzer Körper lebt nicht mehr. All unsere Freuden hast du durchwandelt, ohne sie zu sehen, hören, fühlen zu können. Müde und gelangweilt bist du umhergestolpert, und nun liegst du hier.«

Sanft und vollkommen ruhig widersprach er. Da flammte sie zum ersten Male auf.

»Schweig! Als ob der Garten jemals sterben könnte! Er wird schlafen den Winter über und im Mai erwachen, alles uns wiederschenken, was von unserer Zärtlichkeit ihm anvertraut wurde. Unsere Küsse werden im Gartenhag erblühen, unsere Schwüre mit Gräsern und Bäumen auferstehen ... Sähest du ihn, verständest du ihn, müßtest du fühlen, wie er tiefer noch erregt ist und mit sanfterer Ergriffenheit liebt in dieser herbstlichen Zeit, als wenn er sich Genüge tun kann im Zeugen... Du liebst mich nicht mehr, so kannst du auch nichts mehr wissen.«

Er schlug die Augen zu ihr auf und bat sie, ihm nicht zu zürnen. Sein Gesicht war kleiner geworden und erblaßte kindlich angstvoll. Lautes Sprechen ließ ihn zusammenfahren. Er erreichte schließlich von ihr, daß sie sich einen Augenblick neben ihn auf den Weg niederließ. So konnten sie in Ruhe reden und sich auseinandersetzen. Und angesichts des Paradeis, ohne sich auch nur mit den Fingerspitzen zu berühren, redeten sie über ihre Liebe.

»Ich liebe dich, ich liebe dich,« sagte er eintönig; »liebte ich dich nicht, wäre ich nicht gekommen ... Es ist wahr, ich bin todmüde. Warum, weiß ich nicht. Mir schien, hier müßte mir wieder warm und gut werden, schon der Gedanke war Liebkosung. Und nun friere ich, der Garten ist verdunkelt und nichts sehe ich wieder von allem, das ich verließ. Aber meine Schuld ist das nicht. Ich strenge mich an, es dir nachzutun, ich möchte so sein, wie du willst.«

»Du liebst mich nicht mehr!« sagte Albine nochmals.

»Doch, ich liebe dich. Als ich dich fortgeschickt hatte neulich, litt ich sehr... Oh, so unaussprechlich liebte ich dich, daß ich dich erdrückt hätte in einer Umarmung, wärest du zurückgekehrt in meine Arme. Niemals habe ich dich so heiß begehrt. Stundenlang warst du wie leibhaft bei mir und hast mich mit weichen Händen gepeinigt. Schloß ich die Augen, leuchtetest du wie eine Sonne auf und hülltest mich in deine Flammen ... Da trat ich alles in den Staub und machte mich auf zu dir.«

Er schwieg und schien nachzudenken, dann fuhr er fort:

»Und jetzt sind meine Arme wie gelähmt. Wollte ich dich an meine Brust ziehen, vermöchte ich dich nicht zu halten, und du entglittest mir ... Gedulde dich, dies Frösteln wird vorübergehen. Ich werde deine Hände wieder küssen. Sei lieb, sieh mich nicht mit bösen Augen an. Hilf mir, auf daß mein Herz den Weg zurückfindet.«

Seine Betrübnis war so echt, so ehrlich schien er die flüchtige Vergangenheit zurückzuwünschen, daß es Albine rührte. Sie gewann ihre Sanftmut für eine Weile zurück und stellte ihm besorgte Fragen.

»Leidest du? Was fehlt dir?«

»Ich weiß es selbst nicht. Mir ist, als ob alles Blut aus meinen Adern wiche ... Auf dem Weg vorhin war mir zumut, als würde mir ein eisig kaltes Kleid über die Schultern geworfen, das mir anhaftete und mich von Kopf bis zu Füßen in Stein verwandelte ... Schon einmal hatte ich das gleiche Gefühl ... ich weiß nicht mehr wann.«

Mit einem Freundeslachen unterbrach sie ihn.

»Ein Kind bist du, du wirst dich erkältet haben, und das ist die ganze Geschichte... Höre, so bin ich es wenigstens nicht, die dich beängstigt? Im Winter wollen wir uns nicht in diesem Garten vergraben, wie zwei Wilde. Wir können gehen, wohin du willst, in irgendeine große Stadt. Wir werden uns im Treiben der Welt genau so ruhig lieben wie unter Bäumen. Und du wirst sehen, daß ich nicht nur eine Landstreicherin bin, die Nester aufzufinden weiß und stundenlang zu gehen vermag ... Als ich klein war, trug ich gestickte Röcke, durchbrochene Strümpfe, Spitzen und Bänder. Das weißt du vielleicht gar nicht?«

Er hörte ihr gar nicht zu und schrie plötzlich leise auf.

»Ach, jetzt erinnere ich mich!«

Als sie ihn zur Rede stellte, wollte er keine Antwort geben. Das Gefühl, wie die Seminarkapelle auf seinen Schultern lastete, war wieder in ihm aufgestiegen. Dies war das eisigkalte Gewand, das seinen Körper in Stein verwandelte. Unwiederbringlich geriet er so zurück in seine priesterliche Vergangenheit.

Undeutliche Erinnerungen, die auf dem Weg vom Artaud zum Paradeis in ihm erwachten, hatten sich vertieft und drängten unaufhaltsam vor. Während Albine fortfuhr, vom Glück ihres gemeinsamen Lebens zu reden, vernahm er den Ruf des Glöckchens bei der Auferstehung und sah die Monstranz Feuerzeichen beschreiben über knienden Volksmassen.

»Doch,« sagte sie, »für dich würde ich meine gestickten Kleider wieder antun... Ich will dich lustig sehen. Wir werden schon Zerstreuung für dich finden. Vielleicht wirst du mich mehr lieben, wenn du mich schön und damenhaft gekleidet siehst. Die Haare werden mir nicht mehr über den Nacken rollen und nicht mehr schief wird der Kamm sitzen, auch werde ich die Ärmel nicht mehr bis zu den Ellbogen aufstreifen. Mein Kleid wird geschlossen sein, damit es mir nicht mehr über die Schultern herabgleiten kann. Wie man grüßt und sich beim Gehen ein Ansehen gibt, das Kinn würdig hebt, weiß ich noch. Glaub mir, du wirst eine hübsche Frau spazierenführen.«

»Bist du, als du klein warst, manchmal in der Kirche gewesen?« fragte er sie mit halber Stimme, als spänne er gegen seinen Willen innere Gespräche fort, die ihn am Zuhören hinderten. »Ich konnte nie an einer Kirche vorbeigehen, ohne einzutreten. Wenn die Türe lautlos zufiel, war mir, als sei ich im Paradies, umgeben von Engelstimmen, die mir sanfte Märchen ins Ohr flüsterten, umatmet von heiligen Männern, heiligen Frauen, deren Liebkosung mich ganz überglitt... Ja, dort hätte ich unablässig mein Leben verbringen mögen, versunken in Seligkeitstiefen.«

Sie betrachtete ihn mit starren Augen, während es ihren zärtlichen Blick kurz durchflammte. Sie begann wieder, noch immer demütig:

»Ich würde allen deinen Launen nachgeben. Früher trieb ich Musik, ich war eine gelehrte kleine Dame, deren Reize und gesellschaftliche Fähigkeiten man zu entwickeln trachtete ... Wieder würde ich mich unterrichten lassen, wieder Musik treiben. Wünschest du eine Lieblingsmelodie von mir zu hören, so gib sie mir nur an, monatelang werde ich sie einüben, sie dir eines Abends vorsingen im traulichen, verhangenen Zimmer. Und ein einziger Kuß von dir wird mir genügend Lohn sein. Ein Kuß auf den Mund, der deine Liebe wieder entfacht. Du wirst Besitz von mir ergreifen und ich werde vergehen in deinen Armen!«

»Ja, ja,« murmelte er und verfolgte weiter den Lauf seiner eigenen Gedanken. »Zuerst war es mein größtes Vergnügen, Kerzen zu entzünden, Meßkännlein zu füllen und das Meßbuch auf gefalteten Händen zu tragen. Später hat mich das langsame stetige Vordringen zu Gott entzückt und ich vermeinte aus Liebe sterben zu müssen... Anderes lebt nicht in meiner Erinnerung. Ich weiß von nichts mehr. Hebe ich die Hand, ist es, um zu segnen. Formt sich ein Kuß auf meinen Lippen, ist er dem Altar bestimmt. Suche ich mein Herz, so finde ich es nicht mehr: Ich habe es Gott zugewandt, der es in seine Obhut genommen hat.«

Sie erblaßte tief. Ihre Augen glühten auf und begannen zu funkeln. Mit einem Zittern in der Stimme redete sie weiter:

»Und meine Tochter will ich nicht von der Seite lassen. Wenn du es richtig findest, kannst du den Jungen auf die Schule schicken. Der kleine Blondkopf soll bei mir bleiben und nur von mir lesen lernen. Oh, es wird mir alles wieder einfallen, wenn Lücken in meinem Gedächtnis sind, lass' ich mir Stunden geben ... Das kleine Volk soll mit uns leben, das wird dich beglücken, nicht wahr? Antworte mir, sag' mir, daß es dir warm ums Herz sein wird, daß du reuelos dich freuen kannst?«

»Oft habe ich an die Heiligen aus Stein denken müssen, die man in ihren Nischen beräuchert seit Jahrhunderten,« sagte er sehr leise. »In der Länge der Zeit müssen sie bis ins Innerste mit Weihrauch getränkt sein ... Ich bin wie einer dieser Heiligen. Weihrauch ist mir bis in die letzte Wesensfalte gedrungen. Diese Balsamierung verursacht meine Entrücktheit, das geruhsame Absterben meiner Fleischlichkeit, den köstlichen Frieden meines Nichtlebens. ... Ach, nichts soll mich aus dem köstlichen Frieden meines Nichtlebens reißen! Kalt und starr werde ich verharren in der Unaufhörlichkeit meines granitenen Lächelns, unfähig herabzusteigen zu den Menschen. Anderes erwünscht ich mir nicht.«

Drohend, zürnend erhob sie sich, sie schüttelte ihn und rief:

»Was sagst du da? Redest du im Schlaf? Bin ich nicht dein Weib? Bist du nicht gekommen, um mein Gatte zu sein?«

Stärker durchbebte es ihn und er wich zurück.

»Nein, laß mich, mir ist Angst,« stammelte er.

»Und unser gemeinsames Leben, unser Glück, unsere Kinder?«

»Nein, nein, ich fürchte mich.«

Dann schrie er auf in äußerster Bedrängnis:

»Ich kann nicht, ich kann nicht!«

Da verstummte sie eine Weile angesichts des Häuflein Elends, das ihr zu Füßen zitterte. Eine Flamme schlug ihr übers Antlitz. Sie streckte die Arme aus, wie, um ihn zu fassen, ihn an sich zu reißen, im zürnenden, aufbrausenden Begehren. Dann schien sie sich eines Besseren zu besinnen, ergriff ihn nur bei der Hand und zog ihn in die Höhe.

»Komm,« sagte sie.

Und sie führte ihn zu dem riesigen Baum, zu der Stelle, da sie sich hingegeben hatte, da er sie besessen hatte. Dort schattete die gleiche Glückseligkeit, immer noch atmete der Stamm wie eine Brust, die gleichen Zweige breiteten sich wie schützende Gliedmaßen. Der Baum war gut, mutig, stark und fruchtbar wie ehemals. Wie am Tage ihrer Einigung zog es über der grün durchsichtig überbadeten Lichtung, wie an nackter Schulter einer Liebenden ersterbendes Sommernachtleuchten, wie kaum vernehmbares, in schweigend langes Beben auszitterndes Liebesgeflüster. Von Beeten, dem Obstgelände, Wiesen, Wald und Felsen und der Himmelsweite hob sich lachende Wollust, befruchtend wehender Wind. Niemals an lauesten Frühlingsabenden standen dem Garten solch tiefste Zärtlichkeiten zu Gebot, wie in den letztschönen Tagen, wenn die Pflanzen beim Abschiedneigen entschlafen. Das Duften der reifen Triebe umschwankte in trunkenem Verlangen die spärlich gewordenen Blätter.

»Kannst du verstehen? Kannst du verstehen?« stammelte Albine an Sergius' Ohr. Sie hatte ihn am Fuß des Baumes ins Gras niedergleiten lassen.

Sergius weinte.

»Du siehst, das Paradeis ist nicht tot. Es ruft uns auf zur Liebe. Immer noch begehrt es unsere Vereinigung ... Oh, erinnere dich! Nimm mich an deine Brust, laß uns einander angehören.«

Sergius weinte.

Sie sagte nichts mehr. In zornigem Umschlingen nahm sie ihn. Ihre Lippen preßten sich diesem Leichnam auf, um ihn aufzuwecken. Und immer noch weinte Sergius, nichts als Tränen fand er.

Nach einer langen Stille begann Albine zu sprechen. Aufrecht stand sie in entschlossener Verachtung.

»Geh!« sagte sie leise.

Sergius erhob sich mit Anstrengung. Er nahm sein Brevier auf, das ins Gras gefallen war, und ging.

»Geh!« wiederholte Albine mit erhobener Stimme. Sie ging hinter ihm und trieb ihn vor sich her.

So stieß sie ihn von Busch zu Busch und führte ihn zurück zur Mauerbresche unter den ernsten Bäumen. Und als Sergius dort mit gesenkter Stirne zauderte, schrie sie wild:

»Geh!... Geh!« Dann schritt sie langsam zurück ins Paradeis, ohne den Kopf zu wenden.

Die Nacht fiel, der Garten war wie ein großer Schattensarg.


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