Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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11

Bleiern schlief der Abbé Mouret. Als er die Augen aufschlug, später als gewöhnlich, fand er sein Gesicht und seine Hände in Tränen gebadet; er hatte die ganze Nacht im Schlaf geweint. Er sagte seine Messe an diesem Morgen nicht, trotz seiner langen Ruhe hatte die Müdigkeit vom vergangenen Abend derartig zugenommen, daß er bis zum Mittag in seinem Zimmer blieb und auf einem Stuhl am Fußende des Bettes saß. Der Zustand von Betäubung, dem er mehr und mehr verfiel, nahm ihm sogar die Empfindung des Leidens. Eine große Leere war in ihm, er blieb entlastet, vernichtet, verzehrt von sich selbst. Das Lesen seines Breviers kostete ihm Überwindung; das Latein der Verse kam ihm wie eine Barbarensprache vor, deren Worte er nicht einmal mehr zu buchstabieren vermochte. Dann schleuderte er das Buch aufs Bett und verbrachte Stunden damit, durch das geöffnete Fenster die Aussicht zu betrachten, ohne die Kraft aufbringen zu können, bis zum Fenster zu gehen und sich auf das Fensterbrett zu stützen. In der Ferne konnte er die weiße Mauer des Paradeis erblicken, als schmale, blasse Linie, die sich die Höhen entlang zog, unterbrochen vom Dunkel der kleinen Fichtenwälder. Zur Linken, hinter einem dieser Gehölze, befand sich die Mauerbresche; sehen konnte er sie nicht, aber er wußte, sie war da; er erinnerte sich der kleinsten, über das Gestein verstreuten Dornranken. Noch am vergangenen Abend hätte er nicht gewagt, den Blick zu dem Furcht einflößenden Horizont zu erheben. In dieser Stunde vergaß er sich so weit, ungestraft nach jedem Tuff Grün die Mauerlinie weiter zu verfolgen, die wie die Kante eines Rockes war, der in jedem Dickicht sich verfing. Sein Herz klopfte nicht einmal schneller. Die Versuchung floh seinen matten Körper, als verschmähte sie sein saumseliges Blut. Er blieb kampfunfähig, gnadenberaubt und brachte nicht einmal mehr die Lust zur Sünde auf, war stumpfsinnig bereit, geschehen zu lassen, was er am Tage zuvor noch leidenschaftlich von sich gewiesen hätte.

Er ertappte sich bei einem lauten Selbstgespräch. Da die Bresche immer noch klaffte, würde er Albine bei Sonnenuntergang aufsuchen. Es überschlich ihn wie Kummer bei diesem Entschluß. Doch schien ihm, als könne er nicht anders handeln. Sein Weib war sie und wartete auf ihn. Wollte er sich ihr Gesicht vergegenwärtigen, tauchte es nur blaß und fern auf. Auch beunruhigte ihn das Wie ihres gemeinsamen Lebens. Schwerlich konnten sie in der Gegend bleiben, sie müßten fliehen, ohne daß jemand davon erführe; einmal in Sicherheit, benötigten sie sehr viel Geld, um glücklich zu sein. Zwanzigmal machte er den Versuch, einen Entführungsplan festzulegen und auszudenken, wie ihr Leben als glückliches Liebespaar einzurichten sei. Es fiel ihm nichts ein. Jetzt, wo die Begierde ihn nicht mehr verwirrte, schreckte ihn die sachliche Seite der Lage, zwang seinen ungeschickten Händen eine schwierige Arbeit auf, zu deren Lösung ihm innerlich die allerersten Vorbedingungen fehlten. Woher würden sie Pferde zur Flucht bekommen? Wenn sie sich zu Fuß aufmachten, würde man sie nicht wie Landstreicher verhaften? Würde er überhaupt fähig sein, irgendeinen Beruf auszuüben, irgendeine Beschäftigung entdecken, die seiner Frau den Lebensunterhalt verschaffte? Diese Dinge waren ihm nicht beigebracht worden. Vom Leben wußte er nichts. Wenn er sein Gedächtnis durchstöberte fand er nur Bruchstücke von Gebeten, Einzelheiten kirchlicher Gebräuche, Sätze aus der theologischen Unterweisung; von Bouvier, die er ehemals im Seminar auswendig gelernt hatte. Selbst Nebensächlichkeiten setzten ihn in Verlegenheit. Er fragte sich, ob er es je wagen würde, seiner Frau auf der Straße den Arm zu geben, sicherlich würde er mit einer Frau am Arm nicht ordentlich gehen können. So linkisch würde er sich ausnehmen, daß die Leute auf der Straße stehenblieben, um ihnen nachzusehen. Man würde ihm den Priester anmerken und Albine beschimpfen. Vergeblich würde er versuchen, sich des Priestertums zu entledigen, immer würde ihm trübe Blässe und der Weihrauchduft anhaften. Und wenn ihm eines Tages Kinder geboren würden? Bei diesem unerwarteten Gedanken erbebte er und empfand einen seltsamen Widerwillen. Es schien ihm unmöglich, sie jemals lieben zu können. Zwei würden es sein, ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen. Er vertrieb sie von seinen Knien und konnte ihre Liebkosungen nicht ertragen, und die Freude anderer Väter an ihren Spielen wäre ihm fremd. An dies Fleisch von seinem Fleisch sich zu gewöhnen, würde ihm unmöglich sein, immer würde es ihm überfeuchtet scheinen von seiner Mannesunlauterkeit. Zumal das kleine Mädchen beunruhigte ihn mit ihren großen Augen, auf deren Grund schon Frauenzärtlichkeit erglomm. Nein, keine Kinder wollte er haben, das Grauen wollte er sich ersparen, das der Gedanke auslösen müßte, seine Leiblichkeit immer wieder neu aufwachsen und neu aufleben zu sehen. Süß war ihm die Hoffnung, zeugungsunfähig zu sein. Gewiß hatte sich seine Manneskraft in der langen Junggesellenzeit verloren. Diese Erwägung brachte ihn zum Entschluß. Schon am Abend wollte er mit Albine fliehen.

Am Abend jedoch fühlte sich der Abbé Mouret zu müde. Er verschob seine Flucht auf den nächsten Tag. Am nächsten Tag fand er einen neuen Vorwand: er konnte seine Schwester doch nicht allein lassen mit der Teusin; einen Brief wollte er schreiben, der die Weisung enthielte, sie zum Onkel Pascal zu bringen. Drei Tage lang konnte er sich nicht zum Schreiben dieses Briefes entschließen; das Blatt Papier, Feder und Tinte lagen gebrauchsbereit auf dem Tisch seines Zimmers. Und am dritten Tag ging er eilig davon, ohne den Brief geschrieben zu haben. Plötzlich griff er zu seinem Hut und schlug den Weg zum Paradeis ein, dumpf, wie besessen und sich bescheidend, ging er dorthin, wie zu einer unangenehmen, unumgänglichen Pflicht. Albines Bild war noch mehr verblaßt; er dachte nicht mehr an sie, sondern folgte früheren, jetzt erstorbenen Willenstrieben, deren losgelöstes Drängen vorhielt im tiefen Schweigen seines Wesens.

Auf dem Wege versuchte er nicht einmal, sich zu verstecken. Am Ende des Dorfes blieb er einen Augenblick stehen, um mit Rosalie zu sprechen, die ihm mitteilte, ihr Kind läge in Krämpfen; trotzdem verzog sie den Mund zu dem ihr eigenen Lächeln. Dann wanderte er zwischen dem Gestein geradeswegs der Mauerbresche zu. Aus Gewohnheit hatte er sein Brevier eingesteckt. Da der Weg ihm endlos vorkam und er sich langweilte, schlug er das Buch auf und las die vorgeschriebenen Gebete. Als er es wieder unter den Arm zurückschob, hatte er das Paradeis vergessen. Er ging so vor sich hin und sann über das Meßgewand nach, das er zu kaufen gedachte, zum Ersatz des Meßkleides aus Goldstoff, das sich in seine Bestandteile aufzulösen begann. Seit einiger Zeit legte er etwas Geld zurück und berechnete, daß in sieben Monaten sich eine ausreichende Summe angesammelt haben würde. Als er auf der Höhe ankam, klang von ferne das Lied eines Bauern herüber, das ihm eine ehemals im Seminar erlernte Hymne ins Gedächtnis zurückrief. Vergeblich grübelte er über die ersten Strophen des Liedes nach. Er ärgerte sich über sein schlechtes Gedächtnis. Als sie ihm schließlich einfielen, war es ihm eine sanfte Freude, halblaut die Worte vor sich hinzusingen, die ihm eines nach dem anderen wieder auftauchten. Es war ein Lobgesang an Maria. Er lächelte, als wehte ihm frischer Hauch seiner Jugend ins Antlitz. Wie glücklich war er zu jener Zeit! Sicherlich würde er auch jetzt noch glücklich werden können, er hatte sich nicht verändert und erwünschte immer noch dieselbe Glückseligkeit ungetrübten Friedens, einen Kirchenwinkel, dem sich seine Knie einzeichneten, ein zurückgezogenes Leben, erhellt durch heiter-kindliche Freuden. Mehr und mehr hob er die Stimme, sang das Lied mit flötend hoher Stimme, da fand er sich plötzlich vor der Mauerbresche.

Einen Augenblick war er erstaunt. Dann verging sein Lächeln, und er murmelte still vor sich hin:

»Albine erwartet mich wohl. Die Sonne sinkt schon.« Aber als er hinaufkletterte, um die Steine beiseite zu schieben, die den Eingang versperrten, erschreckte ihn lautes Atmen. Er mußte zurücksteigen, um ein Haar hätte er Bruder Archangias, der tief schlafend dort am Boden lag, gerade ins Gesicht getreten. Beim Bewachen des Eingangs zum Paradeis war er wohl in Schlaf gesunken. Der Länge nach lag er quer über der Schwelle in schamlos gelöster Stellung. Die hinter den Kopf geschobene rechte Hand hatte den Stock aus Kirschbaumholz nicht fahrenlassen; sogar jetzt schien er ihn noch zu schwingen wie ein flammendes Schwert. Und so schnarchte er inmitten der Dornen, das Gesicht in der prallen Sonne, ohne sich zu regen. Ein Schwarm von großen Fliegen kreiste über seinem offenen Munde.

Der Abbé Mouret betrachtete ihn einen Augenblick. Er neidete ihm diesen Schlaf eines Heiligen im Staub und wollte die Fliegen vertreiben. Aber eigensinnig kamen sie immer wieder zurück und klebten sich an die blauroten Lippen des Bruders, der von alledem nichts bemerkte. Da stieg der Abbé über den großen Körper fort und betrat das Paradeis.


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