Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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12

Von einer einzigen Lampe erleuchtet, die auf dem Altar der Jungfrau inmitten der grünenden Zweige brannte, füllte die Kirche sich zu beiden Seiten mit schwankenden Schatten. Die Kanzel zog einen Streifen Finsternis bis zu den Deckenbalken. Der Beichtstuhl stand dunkelmassig, unter dem Chor zeigte sich wie seltsamer Schattenriß zerborstenen Wachtturmes. Das ganze Licht, gedämpft, grün widerscheinend vom Blattwerk, ruhte über der hohen goldenen Jungfrau, die mit königlicher Gebärde auf der von geflügelten Engelsköpfen durchspielten Wolke niederzuschweben schien. Sah man das Lampenrund so aus Zweigesmitten leuchten, konnte man es als blassen Mond ansprechen, der am Waldesrand aufsteigt und die Herrlichkeit einer Erscheinung überleuchtet, einer Himmelsfürstin, goldgekrönt, goldumwallt, die die Blöße ihres Götterkindes in geheimnistiefe Alleen geleitet. Durch Blättergrün, entlang am hohen Buschkranz, entlang der spitzbogigen Laube, sogar über die Streuzweige, ergossen sich sternhafte Strahlen, gedämpft, jenem milchigen Geriesel ähnlich, das in klaren Nächten die Gesträuche tränkt. Unbestimmte Laute, Knirschen, Krachen, tönte aus den beiden Dunkelwinkeln der Kirche. Die große Uhr zur Linken des Chores schien langsam Atem zu holen im starken Ticken schläfrigen Uhrwerks.

Und das Strahlengebilde der Mutter in der Schmale kastanienbrauner Scheitelhaare neigte sich tiefer wie verklärt durch den Nachtfrieden im Kirchenschiff, kaum daß sich die Gräser der Lichtung unter dem leisen Flug ihres Gewölkes neigten.

Der Abbé Mouret betrachtete sie. Zu dieser Stunde liebte er die Kirche. Er vermochte den Leidens-Christus zu vergessen, den gequälten, ocker- und lachsrot beschmierten Gepeinigten, der hinter ihm zu Tode kam in der Totenkapelle. Er wurde nicht mehr abgelenkt von der nüchternen Fensterhelle, der Morgenfrühe, die mit der Sonne hereinschien, dem Außenleben, den Sperlingen und Ästen, die in die Kirche drangen durch zersprungene Scheiben. In dieser nächtlichen Stunde war die Natur erstorben, das Dunkel behängte mit Kreppschleiern die geweißten Mauern, die Kühle warf ihm über die Schultern ein heilsames Büßergewand; er konnte gänzlich aufgehen in Liebesunumschränktheit, ohne daß der Mutwillen eines Tagesstrahls, die Liebkosung eines Windhauches oder eines Duftes, das Auffunkeln eines Käferflügels ihn seiner Liebesfreude entreißen konnte. Seine Morgenmesse hatte ihm nie so übermenschliche Beglückungen bescheren können wie die abendlichen Gebete.

Mit zuckenden Lippen sah der Abbé Mouret auf die große Jungfrau. Sie drang auf ihn ein aus der Tiefe ihres Nischengrüns in immer strahlenderer Pracht. Es war nicht mehr wie Mondesgleiten über den Wipfeln der Bäume. Sonnenbehängt erschien sie ihm, gebietend kam sie daher, ruhmeswürdig, riesenhaft und so allmächtig, daß er für Augenblicke versucht war, sich auf den Boden zu werfen, um dem Gleißen dieses in den Himmel aufstehenden Tores zu entgehen.

Da kam ihm in der Hingabe seines ganzen Wesens, die ihm das Wort auf den Lippen vergehen ließ, Erinnerung an den letzten Ausspruch des Bruders Archangias wie an eine Gotteslästerung. Oftmals warf der Bruder ihm seine besondere Andacht zur Jungfrau vor, die er hinstellte als offenbaren Raub an der Andacht zu Gott. Nach ihm verweichlichte sie die Seelen, verweibte die Religion, ließ eine Gefühlsduselei entstehen, die unwürdig sei der Starkgeistigen. Er konnte der Jungfrau nicht verzeihen, daß sie Frau war, schön und mütterlich; er war auf der Hut vor ihr, von dumpfer Furcht erfaßt, ihre Gnade könnte ihm Anfechtung bringen, er könnte ihrer süßen Verführung erliegen. »Ihre Anbetung wird Sie weit führen,« hatte er den jungen Priester eines Tages angeschrien; er erblickte in ihr einen Beginn irdischer Leidenschaft, einen abschüssigen Weg zur Schönheit kastanienbrauner Haare, klarer großer Augen, zu dem Geheimnisvollen gerade abfallender Gewänder. Es war die Auflehnung eines Heiligen, der heftig trennte die Mutter vom Sohn, wie dieser fragend: »Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen?« Aber der Abbé Mouret sträubte sich, neigte sich anbetend nieder und versuchte die Grobheiten des Bruders zu vergessen. Er war ganz erfüllt von jener Entzückung in die unbefleckte Reinheit Marias, die ihn aus der Niedrigkeit hob, mit der er sich demütigte. Wenn in der Einsamkeit angesichts der großen Goldjungfrau sich seine Sinne verwirrten bis zu der Vorstellung, sie neige sich, um ihm ihren Scheitel zum Kuß zu bieten, wurde er wiederum ganz jung, ganz gut, ganz stark, ganz ergriffen von lebendiger Zärtlichkeit.

Die Andacht des Abbé Mouret zur Jungfrau stammte von Jugend her. Als ganz kleines Kind war er etwas scheu und versteckte sich in den Ecken; es gefiel ihm, sich zu denken, daß eine schöne Dame über ihm wache, daß zwei blaue, sehr sanfte Augen und ein Lächeln ihm überallhin folgten. Öfter fühlte er des Nachts einen leichten Hauch über sein Haar streifen; dann erzählte er, die Jungfrau sei gekommen und habe ihn geküßt. Er war erwachsen unter dieser fraulichen Liebkosung, in dieser Luft belebt vom Rauschen himmlischer Schleppen. Vom siebenten Jahre an befriedigte er seine Zärtlichkeitsbedürfnisse durch das Erstehen von Heiligenbildchen, für die er alle Groschen verausgabte, die ihm geschenkt wurden; eifersüchtig verbarg er sie, um sich ganz allein ihrer zu freuen. Niemals lockten ihn die Darstellungen des lammtragenden Jesus, des gekreuzigten Christus, Gottvaters, der sich langbebartet über einen Wolkenrand beugt; immer fand er zurück zu den sanften Marienbildern, zu ihrem schmal lächelnden Mund, den zart ausgestreckten Händen. Nach und nach wurde die Sammlung vollständig: Maria mit Lilien und Spinnrocken, Maria, die wie eine große Schwester das Jesuskind trägt, Maria rosengekrönt, Maria im Sternenkranz. Sie waren ihm eine Familie schöner junger Mädchen, sich ähnelnd in ihrer Anmut, mit dem gleichen sanftmütigen Antlitz, so jugendlich unter ihren Schleiern, daß er trotz der Benennung »Gottesmutter« keine Scheu vor ihnen empfand wie vor erwachsenen Personen. Sie erschienen ihm gleichalterig, waren ihm die kleinen Mädchen, mit denen er sich gerne zusammengefunden hätte, die kleinen Himmelsmädchen, die in der Ewigkeit spielen mit den kleinen siebenjährig verstorbenen Knaben in einer Paradiesecke. Und er war schon ernst; heranwachsend hütete er das Geheimnis seiner heiligen Liebe, von den holden Schamhaftigkeiten des Jünglingsalters befallen. Maria wuchs mit ihm heran, blieb immer ein oder zwei Jahre älter als er, wie es einer gebietenden Freundin zukommt. Sie war zwanzigjährig, als er achtzehn Jahre war. Sie küßte ihn nachts nicht mehr auf die Stirne; in einiger Entfernung stand sie, mit über der Brust gekreuzten Armen, in anbetungswürdiger Süße, gehüllt in die Keuschheit ihres Lächelns. Er sprach sie nur noch ganz leise an und fühlte sein Herz vergehen, wenn der geliebte Name ihm beim Gebet über die Lippen kam. Er erträumte sich nicht mehr Kinderspiele im himmlischen Gartengrund, sondern ein unablässiges Versenken in dies so reine blasse Antlitz, dem er sich nicht hätte nähern wollen, auch nur mit dem Hauch seines Mundes. Selbst seiner Mutter verheimlichte er die Innigkeit seiner Neigung.

Einige Jahre später, als er sich im Seminar befand, trübte sich unruhvoll diese schöne, ehrliche und natürliche Zärtlichkeit zu Maria. Diente der Marienkult notwendig zum Heil? Hieß es Gott nicht berauben, wenn er Maria einen Teil seiner Liebe, den größten, zuwandte, sein Denken, sein Herz, sein Alles? Schwere Fragen, innerer Kampf, der ihn leidenschaftlich in Anspruch nahm, ihn noch mehr band. Er vertiefte sich in die Feinheiten seiner Zuneigung, verschaffte sich unerhörte Wonnen bei den Versuchen, die Berechtigung seiner Gefühle klarzulegen. Die Bücher der Andacht zur Jungfrau entschuldigten ihn, nahmen ihn in Schutz mit Beweisgründen, die er sich in Gebeten der Sammlung wiederholte.

Aus ihnen lernte er, Jesu leibeigen zu sein durch Maria. Er kam zu Jesus durch Maria und fand allerhand Beweisgründe, Unterschiede, zog Folgerungen: auf der Erde gehorchte Jesus Maria, so mußten alle Menschen ihr gehorsam sein; Maria behielt in den Himmeln ihre mütterliche Macht; sie war dort die gewaltige Verwalterin der göttlichen Güter, die einzige, die ihm fürbittend nahen durfte, die einzige, die Throne zu vergeben hatte; Maria, einfache Wesenheit vor Gott, aber zu ihm erhoben, wurde so die menschliche Bindung zwischen Himmel und Erde, die Mittlerin aller Gnaden, aller Barmherzigkeiten. Und die Schlußfolgerung blieb immer: sie müßte geliebt werden über alles, von allen, um Gottes willen. Dann kam es zu theologischen Spitzfindigkeiten steilerer Art: die Hochzeit des himmlischen Bräutigams, der Heilige Geist, der das erwählte Gefäß besiegelt und die jungfräuliche Mutter in unendliches Wunder verpflanzt und ihre untrübbare Reinheit der Anbetung der Menschheit aussetzt; sie war die über alle Irrlehre siegreiche Jungfrau, des Satans unversöhnliche Gegnerin, die neue Eva, von der geweissagt ist, daß sie den Kopf der Schlange zertreten müsse, die erhabene Gnadenpforte, durch die der Erlöser ein erstes Mal den Weg gefunden hat, durch die er ein anderes Mal eingehen würde am letzten Tag, dunkle Weissagung, Ankündigung einer erhöhteren Machtrolle Mariens, die Sergius erträumen ließ, irgendein übermenschliches Liebeserblühen. Dieser Einzug des Weiblichen in den eifersüchtigen, grausamen Himmel des Alten Testamentes, die Weiße dieses Antlitzes zu Füßen der furchtbaren Dreifaltigkeit war für ihn die versichtbarte Gnade, das von den Glaubensschrecknissen Erlösende, die Zuflucht seiner Menschlichkeit in Geheimnismitten des Dogmas. Und als er sich bewiesen hatte, Punkt für Punkt, in aller Ausführlichkeit, daß sie der Weg zu Jesus sei, der sanfte, kürzeste, vollkommenste und sicherste Weg, lieferte er sich ihr neuerdings aus, rückhaltlos und ohne Gewissensqualen. Und er war bestrebt, in Wahrheit ihr andächtiger Knecht zu sein, sich selbst abzutöten und in Unterwerfung sich zu ergeben.

Stunden heiliger Lust. Die Andachtsbücher zur Jungfrau brannten in seinen Händen. Sie redeten eine Liebessprache zu ihm, aufwallend wie Weihrauch. Maria war nicht mehr das verschleierte Mädchen, das mit gekreuzten Armen in einiger Entfernung am Kopfende seines Lagers stand; sie tauchte auf im Glanz, wie Johannes sie erschaute, in Gewändern aus Sonne, mit zwölf Sternen bekrönt, unterm Fuß den Mondbogen. Sie erfüllte ihn mit ihrem Wohlgeruch, entflammte ihn mit Himmelsverlangen, entzückte ihn in der Glut der ihre Stirne umflammenden Gestirne. Er warf sich hin vor ihr, rief sich ihren Sklaven, und größte Süßigkeit barg das Wort Sklave; er wiederholte es, empfand es immer köstlicher auf seinen stammelnden Lippen, je mehr er sich zu ihren Füßen zerknirschte, um ihre Sache zu werden, ein Nichts, Staub, berührt vom Schleier ihres blauen Gewandes. Mit David sagte er: »Maria ist mir erfunden.« Mit dem Evangelisten: »Ich habe sie mir erkoren als einzigstes Gut.« »Seine teure Herrin« nannte er sie; die Worte fehlten ihm; er stammelte wie ein Kind, wie ein Liebhaber, nichts blieb ihm als der erregte Atem seiner Liebesglut. Sie war die Selige, die Himmelskönigin, von den neunfachen Engelschören besungen, die Mutter der Liebesschöne, die Köstlichkeit des Herrn. Die lebendigen Bilder breiteten sich aus, verglichen sie einem Paradies jungfräulichen Geländes, mit blühenden Tugendbeeten, grünenden Hoffnungswiesen, uneinnehmbaren Türmen der Kraft, zauberischen Wohnungen des Vertrauens. Dann war sie ein Brunnen, verschlossen vom Heiligen Geist, ein Heiligtum, da die hochheilige Dreifaltigkeit sich niederließ, der Thron Gottes, die Stadt Gottes, der Altar Gottes, der Tempel Gottes. Und er wandelte in diesem Garten, im Schatten, in der Sonne, in grünender Bezauberung, er seufzte nach den Wässern dieses Brunnens; er hatte Wohnstatt in der inneren Schönheit Marias; dort konnte er sich stützen, verstecken, rückhaltlos verlieren und die niedersickernde Liebesmilch schlürfen, die Tropfen auf Tropfen diesem jungfräulichen Busen entströmte.

Jeden Morgen im Seminar, gleich beim Aufstehen, begrüßte er Maria mit hundert Verneigungen, das Antlitz zugewandt dem Streifen Himmel, der durch sein Fenster schien; abends nahm er von ihr Abschied mit der gleichen Zahl von Verneigungen, den Blick nach den Sternen gerichtet. Oftmals, angesichts der ruhevollen Nächtlichkeit, wenn Venus die lauen Lüfte durchblondete, geschah es ihm unversehens, daß seinen Lippen das Ave maris stella entströmte wie leiser Gesang, jene rührende Hymne, die in Fernen vor ihm bläuliche Gestade aufdämmern ließ, ein sanftes Meer, kaum gekräuselt von Zärtlichkeitsschauern, überstrahlt vom Lächeln eines sonnengroßen Sternes. Er sprach auch das Salve Regina, das Regina coeli, o gloriosa Domina, alle Gebete, alle Lobgesänge. Er las den Dienst der Jungfrau, die Erbauungsbücher zu ihren Ehren, den kleinen Psalter des heiligen Bonaventura, durchdrungen von so frommer Zärtlichkeit, daß Tränen ihn am Weiterlesen hinderten. Er fastete, kasteite sich, um wunde Leiblichkeit ihr darzubringen. Seit seinem zehnten Jahre trug er ihre Abzeichen, das geweihte Skapulier mit dem Bildnis Marias, auf Tuch genäht, dessen Wärme er mit heißem Erzittern auf Brust und Rücken spürte, an der nackten Haut. Später hatte er die Kette angelegt, um seine Liebesleibeigenschaft zu erweisen. Das wichtigste Ereignis aber blieb immer der englische Gruß, das Ave-Maria, das vollkommenste Gebet seines Herzens:

»Gegrüßet seist du, Maria!«

und er sah sie auf sich zukommen, voller Gnaden, unter den Weibern gebenedeit; er warf ihr sein Herz zu Füßen, daß sie in Sanftmut darauf trete. Diesen Gruß vervielfachte er, wiederholte ihn in immer anderer Weise, mühte sich, ihn immer wirksamer zu gestalten. Zwölf Aves sprach er zum Gedächtnis der zwölfgesternten Krone um Marias Stirn; vierzehn weitere Aves sagte er zum Angedenken ihrer vierzehn Freudenerhebungen; sieben mal zehn sagte er zu Ehren der erdverbrachten Jahre. Stundenlang ließ er die Perlen des Rosenkranzes rollen. Und an manchen Tagen mystischer Vereinigung hob ein nicht endenwollendes Geflüster der Rosenkranzgebete an.

Wenn er allein in seiner Zelle sich die Liebeszeit nehmen konnte, kniete er auf dem Boden nieder, und der ganze Mariengarten wuchs um ihn her in der hohen Blüte seiner Keuschheit. Der Rosenkranz ließ das Avegebinde durch seine Finger gleiten, von Vaterunsern unterbrochen, wie ein Gewinde weißer Rosen, vermischt mit den Lilien der Verkündigung, den Blutblumen des Kalvarienberges, den Sternblüten der Krönung. Langsam wandelte er durch die duftreichen Wege und hielt an bei jeder Zehnreihe der fünfzehn Ave, ruhte sich aus in dem Mysterium, das ihr entsprach; er fühlte sich durchschüttelt von Freude, Schmerz, empfand sich in der Verklärung mit den sich entfaltenden Mysterien, die dreifach sich teilen, in freudige, schmerzhafte, verklärte. Unvergleichliche Legende, Lebensgeschichte Marias, menschlich vollständiges Leben mit seinem Lächeln, seinen Tränen, seiner Überwindung, und das er durchlebte von Anfang bis Ende in wenigen Augenblicken. Vorerst ging er ein in die Freude, die fünf lächelnden Mysterien, gebadet in Klarheit der Morgenröte; es waren die Begrüßung des Erzengels, ein leuchtender Strahl, der aus Himmeln glitt und mit sich trug anbetungswürdige Ohnmacht der fleckenlosen Einigung; der Besuch bei Elisabeth an einem klaren Hoffnungsmorgen, zur Stunde, da die Frucht ihres Leibes Marien erstmalig die Erschütterung brachte, die Mütter erbleichen läßt; die Geburt im Stall zu Bethlehem, dicht umreiht von der Hirtenschar, die kam, um die göttliche Mutterschaft zu grüßen; das Neugeborene im Tempel, auf dem Arme der Entbundenen, die lächelt, müde noch, aber schon beglückt, ihr Kind der Gerechtsamkeit Gottes darzubringen, der Umarmung Simeons, der Sehnsucht der Welt; endlich der heranwachsende Jesus, der vor den Schriftgelehrten sich offenbart, unter denen die geängstigte Mutter ihn wiederfindet, voller Stolz und getröstet, dann, nach diesem Morgen, so lichtbeschienen, war es Sergius, als ob der Himmel sich plötzlich umwölke. Er ging nur noch über Dornen, verwundete sich die Finger an den Perlen des Rosenkranzes, bog sich unter dem Entsetzen der fünf Mysterien des Schmerzes: Maria, die mit ihrem Sohn leidet im Olivengarten, mit ihm die Peitschenhiebe der Geiselung erduldet, fühlt, wie die Dornenkrone ihre eigene Stirne zerreißt; die schreckensvolle Kreuzeslast trägt, zu seinen Füßen auf dem Kalvarienberge stirbt.

Diese Leidensnöte, diese schauerliche Marter einer angebeteten Königin, für die er sein Blut gegeben hätte, wie Jesus, brachten in ihm schreckhafte Empörung hervor, die zehn Jahre der gleichen Gebete, der gleichen Übungen nicht hatten ersticken können. Aber weiter rollten die Perlen, plötzlich lichtete sich die Finsternis der Kreuzigung, die leuchtende Verklärung der fünf letzten Mysterien tat sich auf mit der Freudigkeit eines befreiten Sternes. Maria, verklärt, sang das Halleluja der Auferstehung, den Sieg über den Tod, das ewige Leben; sie wohnte bei mit ausgebreiteten Armen, bewundernd zurückgebogen, dem Sieg ihres Sohnes, der zum Himmel aufstieg in purpurbehangenen Goldgewölken; sie versammelte um sich die Apostel, wie am Tag der Empfängnis berührt vom zündenden Liebesgeist, niedergefahren in flammender Glut; nun wurde sie entführt von einem Engelzug, enthoben auf weißen Fittichen gleich einer fleckenlosen Arche, sänftiglich niedergesetzt inmitten der Pracht göttlicher Throne; und hier als höchste Verklärung, in einer so blendenden Gloriole, daß neben ihr die Sonne erlosch, krönte Gott sie mit den Sternen des Firmamentes. Die Liebesleidenschaft kennt nur wenige Worte. Reihte Sergius die hundertfünfzig Ave aneinander, so wiederholte er sich nicht ein einziges Mal. Dies eintönige Geflüster, dies sich unablässig wiederholende Wort, dem »ich liebe dich« der Liebespaare vergleichbar, nahm jedesmal eine tiefere Bedeutung an; er sprach sich endlos aus, mit Hilfe des einzigen lateinischen Satzes, ganz erkannte er Maria, bis er sich vergehen fühlte, wenn die letzte Perle des Rosenkranzes seiner Hand sich entwand, im Gedanken an die Trennung.

Viele Male hatte der junge Mann derart die Nächte hingebracht, zwanzigmal erneuerte er die zehnfachen Aves und schob den Augenblick hinaus, der ihn Abschied nehmen hieß von seiner teuren Herrin. Der Tag brach an, noch immer murmelte er vor sich hin. Der Mond ließ die Sterne erblassen, redete er sich vor, um sich selbst zu betrügen. Seine Vorgesetzten mußten ihn zur Rede stellen wegen dieser Nachtwachen, er ging aus ihnen hervor so ermattet, so weißen Gesichts, daß er Blut verloren zu haben schien. Lange Zeit bewahrte er an der Wand seiner Zelle eine buntfarbene Darstellung des heiligen Herzens Maria. Die Jungfrau schob ruhevoll lächelnd ihr Kleidergefalt über der Brust auseinander und wies eine rote Wunde auf ihrer Brust, in der ihr Herz brannte, schwertdurchbohrt, mit weißen Rosen gekränzt. Dieses Schwert brachte ihn zur Verzweiflung, es verursachte ihm das unerträglichste Entsetzen vor dem Leiden der Frau, nur der Gedanke daran riß ihn aus aller frommen Unterwerfung. Er löschte es aus und ließ nur stehen dies bekränzte und flammende Herz, halb entrissen dem erlesenen Körper, um ihm dargeboten zu werden. Da fühlte er sich geliebt. Maria schenkte ihm ihr Herz, ihr lebendiges Herz, wie es schlug in ihrer Brust, von rosigem Blut durchtropft. Hier war nicht mehr ein Sinnbild verehrenden Gefühls, sondern eine Greifbarkeit, ein Wunder von Zärtlichkeit, das ihm beim Beten vor dem Bildwerk die Hände breitete, um in Frömmigkeit das der nackten Brust entsteigende Herz entgegenzunehmen. Er konnte es sehen, er hörte es schlagen. Und geliebt war er, das Herz schlug für ihn. Wie ein Ergriffensein seines ganzen Wesens war es, ein Drang, das Herz zu küssen, in ihm zu vergehen, sich mit ihm in der Tiefe dieser geöffneten Brust zu betten. Tätig liebte sie ihn, daß sie ihn sogar in der Ewigkeit in ihre Nähe erwünschte, ihr immerdar zugehörig. Wirksam liebte sie ihn, ohne Unterlaß nahm sie sich seiner an, geleitete ihn überall, half ihm die kleinste Untreue vermeiden. Sie liebte ihn zärtlich, mehr als alle Frauen zusammen, mit einer blauen, tiefen, wie der Himmel endlosen Liebe. Wo hätte er jemals eine gleich begehrenswerte Geliebte zu finden vermocht? Welche Erdenliebkosung war vergleichlich diesem Marienhauch, in dem er dahinging? Welche elende Verschmelzung, welcher ekle Genuß konnte in die Wagschale gelegt werden mit dieser Blume ewigen Begehrens, die, immer höher strebend, nie sich entfaltet. Dann atmete er das Magnifikat aus, wie eine Weihrauchwolke. Er sang den Freudensang Mariä, ihr bebendes Entzücken beim Nahen des himmlischen Bräutigams. Er lobte den Herrn, der die Mächtigen von ihren Hochsitzen stieß, und der ihm Maria sandte, ihm, dem armen, bloßen Kinde, das in Liebe erstarb auf der eisigen Diele seiner Zelle.

Und als er alles Maria hingegeben hatte, seinen Leib, seine Seele, sein irdisches Gut, als er nackt vor ihr stand, am Ende aller Gebete, traten über seine verbrannten Lippen die Litaneien zur Jungfrau mit ihren sich wiederholenden, hartnäckigen, eifernden Anrufungen. Es war ihm, als erklömme er eine Stufenleiter des Verlangens; bei jedem Springen seines Herzens stieg er eine Stufe empor. Erstlich nannte er sie heilig. Dann rief er sie Mutter, reinste, sehr keusche, liebenswerte, bewunderungswürdige. Und mit neuerlichem Schwung begann er, rief sechsfach ihre Jungfräulichkeit über sie aus, bei jedem Sprechen des Wortes »jungfräulich« war ihm der Mund wie erfrischt, er fügte Vorstellungen hinzu von Macht, Güte, Treue. Je mehr sein Herz ihn nach oben entführte, auf überlichteten Stufen, ließ eine Stimme sich in ihm vernehmen, die in glühendem Blühen sich entfaltete. In Düfte hätte er sich auflösen mögen, in Klarheit dahinziehen, verhauchen in tönendem Seufzer. Indem er sie Spiegel der Gerechtigkeit, Tempel der Weisheit, Quelle seiner Freuden nannte, erblickte er sich, bleich vor Ekstase in diesem Spiegel, kniete nieder auf den wohligen Fliesen dieses Tempels, trank in langen Zügen den Rausch dieser Quelle. Und noch anders wandelte er sie und ließ seinem zärtlichen Wahnsinn die Zügel schießen, um sich ihr immer enger verbinden zu können. Ein gotterlesenes Gefäß war sie ihm, ein auserlesener Schoß, in den er sein Wesen zu ergießen wünschte zu ewiger Ruhe. Sie war die mystische Rose, eine große Blume, im Paradies erstanden, aus den Engeln gebildet, die ihre Königin umgeben, so rein und duftvoll, daß er sie eratmete aus der Tiefe seines Unwertes mit schwellender Beglücktheit, die seine Rippen erklirren ließ. Sie verwandelte sich in ein goldenes Haus, Davids Turm, Turm aus Elfenbein, von unschätzbarer Kostbarkeit, von einer Reinheit, die die Schwäne neiden, hochgerundet, stark, aus seinen Armen hätte er ihr einen Gürtel umlegen wollen aus Unterwerfung. Aufrecht hielt sie sich am Horizont, Himmelspforte war sie, die er hinter ihren Schultern wahrnahm, wenn ein Wehen ihren Schleier hob. Sie ging auf hinter dem Gebirge, zur Stunde der Nachtbleiche, als Morgenstern, Hilfe der verirrten Wanderer, Liebesdämmerung. In diesen Höhen sodann, versagenden Atems, noch ungesättigt, wurden Worte zu klein für die Gefühlskraft seines Herzens, es blieb ihm nichts mehr als die Verherrlichung der Königin, wie neunmaliges Schwingen des Weihwasserkessels streute er sie neunmal aus. Sein Lobgesang erstarb in Fröhlichkeit bei den Ausrufen höchster Erhebung: Königin der Jungfrauen, aller Heiligen Königin, ohne Schmach empfangene Königin. Sie erglänzte in immer höherer Höhe, er, auf der letzten Stufe, der Stufe, die einzig erklommen wird von Marias Vertrauten, zauderte dort einen Augenblick, seiner Sinne kaum mächtig in der Dünne dieser Luft, die ihn betäubte. Zu weit noch entfernt, um den Saum ihres blauen Kleides zu küssen, fühlte er sich schon zurücktaumeln mit dem immer neuen Begehren, wiederum diesen übermenschlichen Genüssen zuzustreben.

Wie oft nach den gemeinsam gesprochenen Rezitationen der Litanei war der junge Mann in diesem Zustand verblieben, mit zitternden Knien und brennendem Kopf, wie nach einem schweren Sturz. Nach seinem Austritt aus dem Seminar hatte der Abbé Mouret gelernt, die Jungfrau noch inniger zu lieben. Er weihte ihr jene leidenschaftliche Verehrung, in der Bruder Archangias den Atem der Irrlehre witterte. Nach seiner Anschauung mußte sie die Kirche retten, durch irgendein unermeßliches Wunder, dessen bevorstehende Erscheinung die Erde bezaubern werde. Das einzig Wunderbare war sie in unserer ungläubigen Zeit, die blaue Dame der kleinen Hirten, nächtliche Weiße zwischen Gewölk, deren Schleiersäume über Hüttendächer schleiften. Fragte Bruder Archangias ihn grob, ob er sie je gesehen habe, begnügte, er sich zu lächeln mit aufeinandergepreßten Lippen, wie um sein Geheimnis zu bewahren. In Wahrheit erblickte er sie allnächtlich. Nicht als schwesterliche Gespielin zeigte sie sich ihm mehr, nicht als hingebendes junges Mädchen; bräutliche Gewänder trug sie, weiße Blumen im Haar, aus ihren halbgeschlossenen Augen flossen hoffnungsfeuchte Blicke, die die Wangen überlichteten. Und er fühlte genau, sie kam zu ihm, sie versprach ihm, nicht länger zu verziehen, sie sagte zu ihm: »Hier bin ich, nimm mich auf.« Dreimal des Tages beim Läuten des Angelus, im Morgengrauen, in der Mittagreife, in der Zeit des sinkenden Abends, entblößte er sein Haupt, sprach ein Ave, ließ den Blick in die Runde wandern, um zu sehen, ob nicht endlich die Glocke Mariens Ankunft eingeläutet habe. Fünfundzwanzig Jahre zählte er nun, er erwartete sie.

Im Maimonat war die Erwartung des jungen Priesters voll hoffenden Glücks. Selbst das Gezänk der Teusin belastete ihn nicht mehr. Wenn er so spät noch in der Kirche betete, war es in der irren Hoffnung, die große übergoldete Jungfrau stiege doch einmal nieder. Und trotzdem empfand er Scheu vor ihr, dieser prinzessinnenhaften Gestalt. Nicht gleichermaßen liebte er alle Bildnisse der Jungfrau. Diese ließ ihn erstarren in höchster Ehrfurcht. Sie war die Gottesmutter; sie hatte die Fruchtweite, das erhabene Antlitz, die kraftvollen Arme der Gottgemahlin, die Jesus trägt. So stellte er sie sich vor inmitten des himmlischen Hofhaltes, wie sie zwischen Sternen hinschweifen läßt den schleppend königlichen Mantel, für ihn zu hoch, zu machtvoll, in Staub zerfiele er, geruhte sie den Blick in den seinen abgleiten zu lassen. Sie war die Jungfrau seiner schwachen Tage, die strenge Jungfrau, die ihm inneren Frieden verlieh zum schreckhaften Betrachten des Paradieses.

An diesem Abend verbrachte der Abbé Mouret mehr als eine Stunde kniend in der leeren Kirche. Mit gefalteten Händen, den Blick auf die Goldjungfrau gerichtet, die sternhaft im Grünen stand, suchte er ekstatische Dämpfung, Beruhigung der merkwürdigen Beschwerde, die er tagsüber empfunden hatte. Aber er glitt nicht in den Gebethalbschlaf mit jener glücklichen Leichtigkeit, die er gewöhnt war. Die Mutterschaft Marias, so rein und verklärt sie sich auch darbot, die Gestaltfülle der reifen Frau, das nackte Kind auf ihrem Arm beunruhigten ihn, schienen ihm im Himmel weiterzutragen das überquellende Zeugungsdrängen, das er seit morgens auf Schritt und Tritt an seinem Wege fand. Gleich den Weinstöcken der steinigen Halden, gleich den Bäumen im Paradies, gleich der Herde Menschen im Artaud wies sie Entfaltung, zeugte Leben. Und träge wurde das Gebet auf seinen Lippen; er ließ sich ablenken und sah Dinge, die er noch nicht beachtet hatte, den Bogen des kastanienbraunen Haares, das zart geschwellte Kinn. Da mußte sie größere Strenge zeigen, mußte ihn vernichten mit dem Glanz ihrer Allmacht, um ihn zur unterbrochenen Gebetzeile zurückzuführen. Ihr goldener Mantel, ihre goldene Krone, all das Gold, das ihr das Ansehen gab einer furchtgebietenden Fürstin, vermochte schließlich ihn in knechtischer Unterwerfung niederzubiegen, das Gebet entfloß eintönig seinen Lippen. Der Geist verlor sich in ungeteilten Anbetungen. Bis elf Uhr schlief er wachend in Entzückenslähmung, fühlte seine Knie nicht mehr; ihm war, als schwebte er, als würde er gewiegt wie ein Kind, das man einschläfert; er ließ sich gleiten in die Ruhe, doch blieb er sich bewußt einer Last, die ihm das Herz bedrückte. Die Kirche um ihn füllte sich mit Dunkel, die Lampe schwelte, die hohen Gewächse überdüsterten das glänzend übermalte Antlitz der großen Jungfrau.

Als die Uhr gepreßt knirschte vor dem Stundenschlag, durchschauerte es den Abbé Mouret.

Er hatte nicht gefühlt, wie die Kirchenkühle ihn überfiel. Jetzt aber zitterte er vor Kälte. Als er sich bekreuzte, durchfuhr ein jähes Erinnern die Betäubung seines Erwachens. Sein Zähneklappern rief ihm die auf den Steinen seiner Zelle verbrachten Nächte ins Gedächtnis zurück, fieberdurchschüttelt angesichts des heiligen Herzens Mariä. Schwerfällig stand er auf, zerfallen mit sich. Gewöhnlich wandte er sich vom Altar, beruhigten Blutes, die Stirne von der Süßigkeit Mariä umweht. Als er die Lampe nahm, um in sein Zimmer hinaufzusteigen, war ihm in dieser Nacht zumut, als müßten die Schläfen ihm springen; das Gebet war ohne Wirkung geblieben; nach kurzer Erleichterung fand er sich wieder in der Hitze, die seit morgens ihm vom Herzen zum Gehirn drängte. Als er an der Sakristeitüre angelangt war, wendete er sich beim Herausgehen und hob die Lampe hoch mit einer mechanischen Bewegung, ein letztes Mal versuchte er die große Jungfrau zu sehen. Sie war in Finsternissen versunken, die aus den Gewölben niederdrangen, umdichtet von Blättern, über die nur das Goldkreuz ihrer Krone sich erhob.


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