Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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12

Albine und Sergius konnten sich an den folgenden Tagen eines Gefühls von Scheu voreinander nicht erwehren. Sie vermieden es, ihrer Wanderung unter den Bäumen irgendwie Erwähnung zu tun. Sie küßten sich nicht, sprachen nicht von ihren Gefühlen. Nicht Scham schloß ihren Mund, sondern die Angst, ihre Freuden zu trüben. Waren sie nicht zusammen, lebten sie nur in Erinnerungen, vertieften sich in sie, durchlebten wieder die gemeinsam verbrachten Stunden, die sie in zärtlichster Umschlingung verlebten, in liebkosender Atemnähe. Die Folge war, daß heißes Fieber sie erfaßte. Sie sahen einander aus hohlen, traurigen Augen an und redeten von Dingen, die ihnen gleichgültig waren. Dann, nach langem Schweigen, fragte Sergius Albine wohl mit zitternder Stimme:

»Bist du krank?«

Albine schüttelte den Kopf und gab zur Antwort:

»Nein, nein. Aber du fühlst dich sicher nicht wohl. Deine Hände brennen.«

Der Park verursachte ihnen eine dumpfe Erregung, die sie sich nicht zu deuten wußten. An irgendeiner Wegbiegung wartete ihrer eine Gefahr, die ihnen auflauerte, sie beim Nacken nehmen, sie zu Boden werfen und verderben wollte. Niemals liehen sie diesen Gefühlen Worte; durch zage Blicke verrieten sie sich ihre Angst, die sie wie Feinde trennte. Eines Morgens jedoch faßte sich Albine ein Herz und sagte nach langem Zaudern:

»Es ist unrecht von dir, dich immer einzuschließen, du wirst wieder krank werden.«

Sergius lachte verlegen auf.

»Bah!« murrte er, »wir waren ja überall, kennen den Garten in- und auswendig.«

Sie schüttelte den Kopf, dann sagte sie sehr leise:

»Nein, nein ... die Felsen kennen wir noch nicht, bis zu den Quellen sind wir noch nicht gegangen. Dort wärmte ich mich im Winter. Es gibt Stellen, wo selbst die Steine zu leben scheinen.«

Am nächsten Tag gingen sie fort, ohne auch nur ein Wort weiter darüber gesprochen zu haben. Zur Linken hinter der Grotte, wo die Marmorfrau schlief, stiegen sie empor. Als sie den Fuß auf die ersten Steine setzten, sagte Sergius:

»Sicher hat uns das keine Ruhe gelassen, alles müssen wir ansehen. Vielleicht werden wir nachher ruhiger sein.«

Der Tag war erstickend heiß, voller Gewitterschwüle. Sie hatten nicht gewagt, sich zu umfassen. Sonnenübersengt gingen sie hintereinander. Sie machte sich eine Wegverbreiterung zunutze, um ihn vorausgehen zu lassen; sein Atem beunruhigte sie, sie litt unter seiner Nähe, die sie in ihrem Rücken spürte. Die Felsen ringsum hoben sich in steinern weiten Schichten, in sanfter Steigung lagerten Felder riesenhafter Blöcke übereinander, rauhstachelicht bepflanzt. Zuerst trafen sie auf goldenen Ginster, Thymianstreifen, Salbei und Lavendelbreiten, auf alle Balsampflanzen, herben Wacholder, bitteren Rosmarin von sinnverwirrendem Geruch. Zu beiden Seiten des Weges bildeten sich von Zeit zu Zeit Hecken aus Stechpalmen, die zartester Schlosserarbeit nicht unähnlich waren; schwarzbronzenem, schmiedeeisernem, poliertem Kupfergegitter mit seltsamsten Ornamenten, reich beblüht von Stachelrosetten; der schmale Schatten lastete bleiern auf ihren Schultern.

Die dürren Tannennadeln knisterten unter ihren Füßen am Boden, und im harzigen Aufstäuben trockneten ihre Lippen noch mehr.

»Dein Garten versteht hier keinen Spaß,« bemerkte Sergius und wandte sich Albine zu.

Sie mußten lächeln. Am Quellenrand standen sie. Dies klare Gewässer schaffte ihnen Erleichterung. Obzwar er sich nicht unter Grünem barg, wie die Wiesenquellwasser, die sich in dichtem Blattwerk verstecken, um im trägen Schatten zu ruhen. In voller Sonne entsprangen sie, aus einem Felsenspalt, ohne daß der kleinste Grasbüschel die Bläue ihres Wassers durchgrünt hätte. Silbern schienen sie, durchleuchtet vom hellen Tag. Auf ihrem Grund überstäubte die Sonne den Kies in beweglich atmender Klarheit. Und dem ersten Becken entrannen sie, reckten Arme von unschuldiger Weiße; in spielerisch nackter Kindlichkeit prallten sie auf, ergossen sich plötzlich und fielen nieder, wie weich sich biegender, hellhäutiger Frauenleib.

»Netze deine Hände,« rief Albine, »das Wasser ist eisig auf dem Grund.«

Und wirklich vermochten sie sich die Hände zu kühlen. Sie spritzten sich Wasser ins Gesicht und hielten sich in den feuchten Dämpfen, die von dem Geriesel aufstiegen. Die Sonne war wie umnebelt.

»Sieh doch,« rief Albine wiederum. »Da liegt der Blumengarten, der Wald, das Wiesenland.«

Sie betrachteten eine Weile das zu ihren Füßen sich breitende Paradeis.

»Und siehst du wohl,« fuhr sie fort, »nicht das mindeste ist zu entdecken von der Mauer. Das ganze Land ist unser, bis zum Himmelssaum.«

Unmerklich hatten sie sich umschlungen mit einer Bewegung vertraulicher Sicherheit. Die Quellen beruhigten ihre Hitze. Doch im Gehen schien sich eine Erinnerung Albines zu bemächtigen; sie führte Sergius zurück und sagte:

»Da drüben, wo die Felsen aufhören, habe ich die Mauer einmal gesehen, vor langer Zeit.«

»Aber man sieht doch gar nichts,« murmelte Sergius, der leicht erblaßt war.

»Doch, doch... sie steht wohl hinter dem Kastanienweg, der sich an jenes Buschwerk anschließt.«

Dann fügte sie hinzu, da sie fühlte, wie Sergius' Arm sie krampfhafter umpreßte:

»Ich irre mich vielleicht... und doch ist mir erinnerlich, daß ich sie plötzlich vor mir sah, beim Verlassen der Kastanienallee. Sie verstellte mir den Weg, stand so steil vor mir, daß ich Angst bekam. Und einige Schritte weiter sah ich zu meinem Erstaunen, daß sie eingestürzt war, eine riesige Lücke tat sich auf, durch die man weit übers Land hinsah.«

Sergius betrachtete sie mit ängstlich bittendem Blick, beschwichtigend zuckte sie die Achseln.

»Oh, das Loch habe ich ausgefüllt! Geh mir, hab' ich dir nicht gesagt, daß wir ganz ungestört sind... Ich hab' es sofort ausgefüllt. Mein Messer hatte ich bei mir. So schnitt ich Dornenranken, rollte große Steine herbei. Kein Spatz darf herein. Wenn du willst, sehen wir nach, einen dieser Tage. Zu deiner Beruhigung.«

Verneinend schüttelte er den Kopf. Dann gingen sie weiter, sich umschlungen haltend, neuerdings bedrückt. Sergius betrachtete Albine von der Seite, sie litt unter diesem Blick und ihre Lider zuckten. Wie gerne wären sie beide umgekehrt und hätten sich so der Pein längerer Wanderung entzogen. Doch eigenem Willen entgegen, wie von fremden Willen getrieben, umschritten sie einen Felsen, kamen zu einer Matte, die sonnentrunken ihrer wartete. Hier fanden sich die angenehm ermattenden aromatischen Gewächse nicht mehr, Moschusduft des Thymian und Lavendelweihrauch. Übeldünstende Pflanzen zertrat ihr Fuß, betäubende Herbe ausströmender Absinth, nach verwesendem Fleisch riechende Nieswurz, durchhitzten Baldrian, ganz gebadet in seine sinnlich erregenden Ausscheidungen. Von den Allraunwurzeln, Schierling, Rauten und Tollkirschen wehte es sinnverwirrend ihre Schläfen an, so lähmend, daß sie, aneinandergedrückt, versagenden Herzens wankten.

»Soll ich dich tragen?« fragte Sergius Albine, als sie sich schwer an seine Brust lehnte.

Schon umschlang er sie mit beiden Armen, doch keuchend riß sie sich los.

»Nein, du erdrückst mich,« sagte sie, »laß mich, ich weiß nicht, was mir ist, die Erde schwankt unter mir... Hier, ach hier tut es mir weh.«

Sie griff eine seiner Hände und legte sie sich auf die Brust.

Da erblaßte er noch tiefer als sie. Beiden traten Tränen in die Augen, vor Betrübnis, daß kein Mittel gegen ihr tiefes Leiden sich finden wollte. Würden sie wohl auf der Stelle sterben müssen an diesem geheimnisvollen Übel?

»Komm in den Schatten, ruhe dich aus,« sagte Sergius, »diese Pflanzen bringen einen um mit ihrem Geruch.«

Er führte sie, berührte sie kaum mit den Fingerspitzen, denn sie fuhr schon zusammen, wenn sie seine Handfläche spürte. Der grüne Flecken, auf dem sie sich niederließ, war überschattet von einer wundervollen Zeder, die mehr als zehn Meter weit flache Astdächer rundete. Etwas weiter im Hintergrunde hoben sich sonderbare Koniferenabarten; Cupressus mit plattweichen Blättern, wie dichte Nadelspitzen; ernste, gerade Fichten, heiligalten, vom Opferblut noch geschwärzten Steinen ähnelnd; Tarus in düsteren, silberbefransten Röcken. Alle immergrünen Pflanzen kräftig untersetzten Wachstums und tiefgrün, wie lackiertes Leder, gelb und rötlich durchsprenkelt und so spröde, daß die Sonne machtlos abglitt. Eine Araukaria zumal nahm sich seltsam aus mit ihren ebenmäßigen großen Ästen, die wie aus verschlungenen Schlangenleibern gebildet schienen, ihre dachziegelartig übereinandergeschobenen Blätter sträubten sich wie Schuppen erzürnter Reptilien. Hier lagerte im tiefen Schatten wollüstige Wärme, reglos ruhten die Lüfte in Alkovenschwüle. Morgenländischer Liebesduft, Duft bemalter Lippen der Sulamith entströmte den wohlriechenden Hölzern.

»Willst du dich nicht setzen,« sagte Albine.

Und sie rückte etwas beiseite, um ihm Platz zu machen. Er aber wich zurück und blieb stehen. Als sie ihn nochmals aufforderte, ließ er sich in einiger Entfernung auf die Knie gleiten und flüsterte:

»Nein, ich habe noch mehr Fieber als du, versengen würde ich dich... Hör' mich an, müßte ich nicht fürchten, dir weh zu tun, wollte ich dich umarmen, so fest... so fest, daß wir unsere Leiden nicht mehr fühlten.«

Auf den Knien rutschte er etwas näher.

»Oh, dich in den Armen zu halten, dich ganz in mich aufzunehmen ... An nichts anderes vermag ich zu denken. In der Nacht erwache ich, strecke die Arme ins Leere, strecke die Arme nach deinem Bild. Zuerst möchte ich dich nur mit den äußersten Fingerspitzen berühren, dann langsam, ganz von dir Besitz ergreifen, bis daß nichts von dir bliebe, bis daß du ganz mein geworden wärest von Kopf zu Füßen. Nie ließe ich von dir. Das muß köstlicher Reichtum sein, so zu eigen haben, was man liebt. Mein Herz ginge auf in dem deinen.«

Er kam noch näher, den Saum ihres Kleides hätte er berühren können mit der ausgestreckten Hand.

»Aber ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, ich fühle mich weit fort von dir... Eine Mauer ist zwischen uns, die ich nicht einzustoßen vermag mit Gewalt. Und doch fühl' ich mich so kräftig heute. Ich könnte dich fesseln mit meinen Armen, dich mir auf die Schulter werfen und forttragen, wie mir ganz gehöriger Raub. Aber das brächte mir keine Befriedigung. Wenn meine Hände dich fassen, halten sie nur ein Weniges deines Wesens ... Wo denn weilst du gänzlich, daß ich ganz dich finde!«

In anbetend demütiger Haltung war er niedergebrochen, küßte den Saum von Albines Kleid. Da riß sie sich steil empor, als habe die Liebkosung bloße Haut berührt. Stammelnd, entsetzt griff sie sich nach den Schläfen.

»Laß doch, ich bitte dich, gehen wir weiter.«

Sie floh nicht. Langsam ging sie vor Sergius her, unentwegt, ihre Füße stießen an Wurzelfasern und immer noch preßte sie ihren Kopf zwischen den Händen, um das sie erfüllende Gelärm zu ersticken. Als sie heraustraten aus dem kleinen Gehölz, schritten sie eine Weile über Felsenstufungen, auf denen ein ganzes Volk hitzig fetter Pflanzen sich duckte. Wie ein Kriechen, Aufhüpfen namenloser Tiere in bösen Träumen war es, von Ungetümen, die fabelgroßen Spinnen, Raupen, Kellerasseln ähnelten, mit schlüpfrig-nackter Haut oder ekelhaft-flaumiger Stachelhaut, die Ungewisse Glieder schleiften, mißgebildete Beine, zerstückte Arme; die einen bliesen sich auf wie unzüchtige Bäuche, anderen war das Rückgrat wuchernd überbuckelt, noch andere erschienen zerfetzt und verrenkt, wie gelenkzerbrochene Gerippe. Mammillarien häuften wunde Pusteln, wimmelten wie grünliche Schildkröten, erschreckend bebartet mit langem Gefaser, härter als Eisendraht. Die Echinokakteen wiesen mehr von ihrer Haut und glichen Nestern ineinander verstrickter junger Vipern. Kugeldisteln zeigten sich nur wie eine Beule, eine behaarte Erhebung, die wie riesiges, kugelförmig zusammengerolltes Insekt anzusehen war. Opuntien bäumten ihre fleischigen Blätter empor, überpudert mit rotangelaufenen Nadeln, gleich Schwärmen winziger Bienen, gleich ungeziefergefüllten Beuteln, deren Maschen reißen. Gasterien streckten Beine von sich, wie auf dem Rücken liegende Weberknechtsspinnen, mit schwärzlichen, überpunkteten, streifig damaszierten Gliedern. Zereus erging sich in schamlosem Wachstum, in mächtigen Polypenbildungen, krankhaftem Ausbruch über heißer Erde, Lastertreiben vergifteter Säfte. Aloen aber entfalteten in Massen ihre ohnmächtiglässigen Pflanzenherzen; jede Tönung von Grün gab es zu sehen: Zartgrün, Scharfgrün, Gelblichgrün, Graugrün, bräunlichrot bespritztes und dunkles, hellgolden berandetes Grün; in allen Formen und Größen standen sie, mit breiten, herzförmig geschnittenen Blättern, schmalem, messerklingenartigem Blattwerk, manche dornengezackt, andere zart umgebogen; riesenhafte unter ihnen hoben weit hinaus hohen Blütenstab, dem Ketten von Rosenkorallen zu entfallen schienen; kleine entwuchsen gehäuft einem einzigen Stiel zu fleischiger Blüte, die nach allen Seiten bewegliche Natterzungen schoß.

»Wir wollen zurück in den Schatten gehen,« flehte Sergius. »Du lagerst dich wie vorhin und ich kniee mich neben dich und rede zu dir.«

Sonne umregnete sie in großen Tropfen. Hier herrschte das Gestirn, ergriff Besitz von der nackten Erde, umarmte sie glühend. In Hitzebetäubung taumelte Albine und wandte sich zu Sergius.

»Stütze mich,« sagte sie mit ersterbender Stimme. Kaum berührten sie sich, so sanken sie hin, Mund auf Mund gepreßt, lautlos. Es war ihnen zumut, als fielen sie immer tiefer, als hätte der Felsen sich abgründig unter ihnen aufgetan. Ihre irren Hände suchten entlang an Gesicht und Nacken, tasteten hin über ihre Hüllen. Aber so tiefes Angstgefühl ergriff sie fast augenblicklich, daß sie sich entsetzt aufrafften und ihr Begehren nicht tiefer zu stillen vermochten. Und so enteilten sie jeder auf anderem Weg.

Sergius lief zum Gartenhaus zurück und warf sich verzweifelten Herzens mit brennenden Schläfen aufs Bett. Albine fand erst am Abend zurück ins Haus, sie hatte sich in einem Gartenwinkel ausgeweint. Zum erstenmal waren sie nicht gemeinsam heimgekehrt, wohlig ermüdet von langer Wanderung. Drei Tage schmollten sie miteinander und fühlten sich tief unglücklich.


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