Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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4

Links, rechts, geradeaus, überall ein grünendes Meer. Ein Meer, dessen Blätterwellen bis zu den Horizonten wogten, ungehemmt durch Häuser, Mauern, staubige Straßen. Ein jungfräulich-verlassen heiliges Meer, das seine milde Wildheit in einsamer Unschuld breitete. Nur die Sonne drang hinein und wand Goldtücher wiesenüber, streifte entlang den Alleen mit übermütigen Strahlenzügen, schlang von Baum zu Baum ihre köstlichen Flammenhaare, trank aus den Quellen mit hellen Lippen, unter denen das Wasser erzitterte. In diesem Flammenstäuben lebte der Garten im Überschwang eines seligen Tieres in aller Ferne, aller Freiheit, am Ende der Welt. Solche Blätterunmengen wogten, ein so dichtes Pflanzenmeer überschäumte ihn, daß er von einem Ende zum anderen in Fluten begraben schien. Wohin das Auge sah, nichts als grüne Hänge, wie Quellstrahlen aufgeschleuderte Stengel, flockenkrause Blättermassen, dicht zugezogene Walddraperien, bodenüberschleifende Schlingpflanzenschleppen und riesenhoch aufflackernde Zweige, die nach allen Seiten sich breiteten.

Kaum vermochte man, je länger man hinsah, in diesem saftreich ungeheueren Wuchern den ursprünglichen Plan des Paradeis zu entdecken. Gegenüber, in einer Art riesigen Arena mußte wohl der Blumengarten sich finden mit seinen geborstenen Wasserbecken, zerbrochenen Rampen, Treppen, den umgestürzten Statuen, deren Weiß noch aufschimmerte aus dunklen Rasengründen. In der Weite hinter dem blauen Streifen einer Wasserfläche gab es eine Wirrnis von Fruchtbäumen; noch weiter hob sich ein violett durchdämmerter, lichtdurchstreifter Hochwald, ein Urwald, dessen Wipfel endlos sich kuppelten, blaßgrün, kräftiggrün, gelbgrün durchspielt. Zur Rechten zog der Wald sich eine Höhe hinauf, löste sich auf in kleinen Fichtenwaldungen und kärglichem Gestrüpp, während nackte Felsen sich gewaltig aufeinander schichteten zu horizontversperrendem Berg türmen; hitziges Wachstum zerriß den Boden, ungeheuerliche Pflanzen sonnten sich reglos wie kriechendes Gewürm; ein Silberstrahl, ein Sprühen, das von ferne sich ausnahm wie stäubende Perlen, deutete sich als Wasserfall, Quelle jener ruhigen Gewässer, die so gemächlich den Blumengarten durchflossen. Zur Linken endlich strömte durch eine weite Wiese der Fluß; hier teilte er sich in vier Bäche, deren launiger Lauf an Schilf, Weiden und hohen Bäumen zu verfolgen war; unübersehbar breitete sich Grasland in kühlen Niederungen, bläulich überdampfte Landschaft, deren Tagesklarheit allmählich in der Grüne des Sonnenunterganges schwand. Das Paradeis, Blumengarten, Wald, Felsen, Wässer und Wiesen nahm die ganze Himmelsbreite ein.

»Das Paradeis!« murmelte Sergius und breitete die Arme aus, wie um den Garten ganz an seine Brust zu ziehen.

Er wankte. Albine mußte ihn in einem Sessel ausruhen lassen. Zwei Stunden verblieb er so, ohne ein Wort. Er vergrub das Kinn in den Händen und sah hinaus. Seine Lider zitterten ab und zu, und Röte stieg in die Wangen.

Langsam betrachtete er alles in tiefem Verwundern. Zu weit war es, zu verworren und mächtig.

»Ich sehe nicht genug und kann nichts verstehen,« rief er und streckte Albine mit einer Bewegung äußerster Müdigkeit die Hände hin.

Das junge Mädchen lehnte sich über die Rücklehne des Sessels, nahm seinen Kopf in die Hände und zwang ihn nochmals hinzusehen. Halblaut sprach sie auf ihn ein:

»Das Paradeis gehört uns. Niemand wird uns stören. Wenn du gesund bist, werden wir uns auf die Wanderschaft machen. Es gibt genügend Wege für alle Tage unseres Lebens. Wir werden gehen, wohin du willst ... Wohin möchtest du gehen?«

Lächelnd murmelte er:

»Oh, nicht weit. Am ersten Tage nur ein paar Schritte weit von der Tür. Siehst du, umfallen würde ich sonst ... bis zu dem Baum am Fenster werde ich gehen.«

Leise begann sie wieder:

»Willst du in den Blumengarten gehen? Die Rosenhecken wirst du sehen, die alles überwuchernden Rosen, deren Rankensträuße sogar die alten Alleen überpflanzen. Oder willst du lieber in den Fruchtgarten gehen; ich kann nur kriechend hineinkommen, so fruchtbeladen hängen die Äste nieder ... Wenn du kräftig bist, werden wir noch weiter wandern. Bis zum Wald hin, in Schattenhöhlen, sehr weit, so weit, daß wir im Freien übernachten müssen, wenn die Nacht uns überrascht... Oder wir steigen eines Morgens hinauf auf die Felsen. Pflanzen wirst du da sehen, vor denen mir ängstigt. Die Quellen wirst du sehen, einen Sprühregen von Wasser, und lustig wird es sein, sich Wasser über das Gesicht sprühen zu lassen. Wenn du es aber vorziehst, an den Hecken entlang zu gehen, am Rande eines Baches, dann müßten wir den Wiesenweg einschlagen. Schön ist es unter den Weiden am Abend bei Sonnenuntergang. Man streckt sich ins Gras und paßt auf, wie die kleinen grünen Frösche über Binsenhalme hüpfen.«

»Nein, nein,« sagte Sergius, »du ermüdest mich, ich will nicht soweit vorausdenken... Ein, zwei Schritte werde ich gehen, und das wird Anstrengung genug sein.«

»Ich selbst«, fuhr sie fort, »habe noch nicht überall hingefunden. Es gibt viele Winkel, die ich noch nicht kenne. Trotzdem ich mich seit Jahren hier herumtreibe, fühle ich, wie es um mich Unentdecktes gibt, Verstecke, wo der Schatten kühler, das Gras weicher ist ... Höre, immer habe ich mir eingebildet, ein Versteck zumal gäbe es, wo ich für immer leben möchte. Es liegt sicherlich irgendwo verborgen; ich bin wahrscheinlich dicht daran vorübergegangen, oder es liegt so weit fort, daß ich auf meinen täglichen Wegen nicht bis dorthin gelangt bin... Nicht wahr, Sergius, wir werden zusammen suchen und dort leben.«

»Nein, nein, sei still,« stammelte der junge Mann. »Ich verstehe nicht, was du mir sagst; du bringst mich um.« Eine Weile ließ sie ihn sich in ihren Armen ausweinen und war verzweifelt, kein Wort zu seiner Beruhigung zu finden.

»So ist das Paradeis nicht so schön wie du gedacht hattest?« fragte sie.

Er hob das Gesicht und erwiderte: »Ich weiß nicht mehr; anfangs war es ganz klein, und auf einmal wird es immer größer und größer ... Führe mich fort. Verstecke mich.« Sie brachte ihn zu Bett und versuchte ihn wie ein Kind mit einer Lüge zu beruhigen.

»Also wirklich, nein, es ist ja gar nicht wahr, daß es einen Garten gibt; ich habe dir Märchen erzählt. Schlafe ruhig ein ...«


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