Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

»Ach, ich habe es geahnt! schrie Albine verzweifelt auf. »Bat ich dich nicht, mich fortzuführen ... Sergius, hab' Mitleid, sieh nicht hin!«

Sergius stand auf der Breschenschwelle und sah gebannt hinaus. In der Ebene unten ließ sinkende Sonne das Dorf Artaud golden aufleuchten, wie ein aus Dämmerungen aufgetauchtes Scheinbild, benachbarte Felder lagen schon im Schatten. Deutlich waren die regellos am Wegrand errichteten Hütten zu erkennen, die kleinen vermisteten Höfe, schmalen, gemüsebestandenen Gärten. Etwas höher war der dunkle Umriß der großen Zypresse auf dem Kirchhof wahrzunehmen. Und die glühend roten Kirchenschindeln, über denen sich die schwarze Glocke wie ein dünn gezeichnetes Gesicht vorschob. Das alte Pfarrhaus nebenan hatte Tor und Tür den Abendlüften aufgetan.

»Aus Barmherzigkeit,« wiederholte Albine schluchzend, »sieh nicht hin, Sergius! Denk daran, daß du versprochen hast, mich immer zu lieben. Ach, wirst du mich noch lieben können wie zuvor! ... Da, mit meinen Händen will ich dir die Augen schließen. Du weißt doch, meine Hände haben dich geheilt ... Wie könntest du mich zurückstoßen.«

Er schob sie langsam von sich, dann strich er sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er von Augen und Stirn den letzten Rest von Schlaf verscheuchen. Albine umklammerte seine Knie. Also dies war die unbekannte Welt, das fremde Land, an das er hatte niemals denken können, ohne von dumpfer Furcht befallen zu werden. Woher kannte er dies Land? Aus welchem Traum schreckte er empor, daß solch fürchterliches Entsetzen in ihm aufwallte, immer wachsend in seiner Brust zum Ersticken? Es war die Zeit der Heimkehr von den Feldern, das Dorf belebte sich. Die Männer kamen nach Hause mit dem Gang müder Tiere, sie schulterten ihre Hacken. Die Frauen auf den Häuserschwellen schienen zu winken, Kinderrotten jagten die Hühner mit Steinwürfen. Zwei Rangen schlichen sich auf den Friedhof, ein Junge und ein Mädel, bäuchlings krochen sie jetzt an der kleinen Mauer entlang, um nicht gesehen zu werden. Flüge von Spatzen suchten ihre Nester auf unter den Dachsparren der Kirche. Auf dem Vorplatz des Pfarrhauses zeigte sich jetzt ein blaubedrucktes Kleid, so umfangreich, daß es die Türe ganz ausfüllte.

»O Unheil!«stammelte Albine, »er sieht hin, er sieht hin ... Hör mich an. Vorhin versprachst du mir Gehorsam. Ich flehe dich an, wende dich ab, wende den Blick zum Garten ... Warst du nicht glücklich im Garten? Er hat mich dir gegeben. Welch selige Zeiten erwarten uns dort, welch lange Glückseligkeit, jetzt, wo wir volles Glück erfuhren im Schattendunkel ... Durch diese Lücke wird der Tod eindringen, wenn du nicht fliehst, wenn du mich nicht fortträgst. Sieh, die anderen, die ganze Welt wird sich zwischen uns drängen. So allein waren wir, so versteckt und von den Bäumen behütet! Der Garten bedeutet unsere Liebe. Sieh den Garten an, ich bitte dich auf den Knien darum.«

Sergius durchlief ein Zittern. Die Erinnerung kam wieder, die Vergangenheit stand auf. Aus der Ferne hörte er dörfliches Leben herübertönen. Diese Bauern, Frauen, Kinder, das war der von seinem Olivenland heimkehrende Dorfschulze Bambousse, der im Geist die nächste Ernte berechnete. Das waren die Brichets, der Mann mit schleppendem Gang, die Frau unter kummervollem Gestöhn; das war Rosalie, die sich hinter einer Mauer vom langen Fortunat abküssen ließ. Er erkannte auch die beiden Ausreißer auf dem Friedhof, den spitzbübischen Vinzenz und die freche Katharina, die fliegende Heuschrecken belauerten zwischen den Gräbern. Sie hatten sogar Packan, den schwarzen Hund, bei sich, der ihnen half, im dürren Kraut wühlte und jeden Spalt der alten Steinplatten durchschnüffelte. Unterm Dachgeziegel der Kirche zankten sich die Spatzen vor dem Schlafengehen; die frechsten flogen wieder hinunter und drangen flügelschlagend in die Kirche ein durch zerbrochene Fensterscheiben, so daß er sich, als er sie sah, ihres fröhlichen Lärmens erinnerte auf den Stufen vor der Kanzel, wo es immer Brotkrumen für sie gegeben hatte. Die Teufin, im blaukattunenen Kleid, auf der Schwelle des Pfarrhauses, schien noch dicker geworden zu sein; sie drehte den Kopf lächelnd Desiderata zu, die voller Heiterkeit vom Wirtschaftshof kam, gefolgt von einem ganzen Troß Getiers. Dann verschwanden beide.

Sergius streckte verzweifelnd die Arme aus.

»Es ist zu spät,« flüsterte Albine, und warf sich hin, zwischen verschnittenes Dornengerank. »Jetzt wirst du mich niemals mehr lieben wie vordem.« Sie schluchzte. Er horchte angespannt und wartete, daß eine Stimme ihn gänzlich erwecken sollte.

Die Glocke bewegte sich leise. Und langsam durch die schläfrigen Abendlüfte drang das dreimalige Läuten des Angelus herauf zum Paradeis. Silberhell klang es in sanft regelmäßigem Rufe. Wie ein lebendiges Wesen war die Glocke jetzt.

»Mein Gott!« rief Sergius und brach in die Knie, wie gefällt vom leisen Glockenwehen.

Er neigte sich tief, das dreimalige Angelusläuten glitt ihm über den Nacken, hallte ihm bis ins Herz. Die Glocke tönte jetzt lauter, unerbittlich klang sie neuerdings an während einiger Minuten, die ihm wie Jahre scheinen wollten. Sie beschwor sein ganzes vergangenes Leben herauf, seine fromme Kindheit, die Freuden seines Seminarlebens, die ersten Messen im verbrannten Tal des Artaud, wo er sich Einsamkeit der Heiligen erträumt hatte, immer hatte sie so zu ihm geredet. Der leisesten Schwingungen dieser Kirchenstimmen vermochte er sich zu erinnern. Hatte sie doch ohne Unterlaß in seinen Ohren getönt, wie ernste, sanfte Mutterstimme. Warum vernahm er sie nicht mehr? Vormals schien sie ihm das Kommen Marias zu versprechen. War es Maria, die ihn tief in grüne Seligkeit geleitet hatte, wohin die Glockenstimme nicht dringen konnte? Niemals hätte er sie vergessen können, wäre die Glocke nicht verstummt. Und wie er sich tiefer beugte, schreckte ihn das weiche Streichen seines Bartes auf seinen gefalteten Händen. Dies lange seidige Haar war ihm fremd, es lieh ihm tierhafte Schönheit. Er riß an seinem Bart, griff sich mit beiden Händen in die Haare, suchte nach der kahlen Stelle der Tonsur, aber sein Haar war mächtig gewachsen, die Tonsur unauffindbar im Strudel männlich starken Gelocks, das von der Stirne nackenwärts sich bäumte. Wild schien ihm seine ehemals glatte Haut, die ein Flaum überdeckte.

»Du hattest recht,« sagte er und blickte verzweiflungsvoll nach Albine, »wir haben gesündigt und verdienen ein schreckliches Strafgericht ...«

»Ich beruhigte dich, weil ich die Warnung nicht vernahm, die durch die Zweige klang.«

Albine versuchte, ihn wieder zu umarmen und flüsterte:

»Steh auf, fliehen wir zusammen, vielleicht ist es noch Zeit, und wir können uns noch lieben.« »Nein, ich habe die Kraft nicht mehr dazu, der kleinste Kieselstein brächte mich zu Fall ... Hör zu, ich bin mir selbst zum Greuel. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich habe mich umgebracht und mein eigenes Blut näßt mir die Hände. Verleitest du mich zur Flucht, nichts würde dir aus meinen Augen kommen als Tränen.«

Sie senkte den verdunkelten Blick und begann zornig aufs neue: »Was liegt daran? Liebst du mich?« Sein Entsetzen fand keine Worte.

Schwere Schritte brachten die Steine hinter der Mauer ins Rollen.

Wie langsames Nähergrollen eines Zorngewitters war es. Albine hatte sich nicht getäuscht. Es kam jemand und störte den Frieden der Büsche mit seinem Keuchen. Da wollten sie sich beide, von furchtbarer Scham befallen, im Gesträuch verstecken. Aber schon waren sie entdeckt, Bruder Archangias zeigte sich in der Mauerbresche.

Eine Weile stand der Bruder so, ohne zu sprechen, mit geballten Fäusten. Er betrachtete das Paar, Albine, die an Sergius' Hals Schutz suchte, mit dem Ekel eines Mannes, der am Grabenrand irgendeinen Unrat findet.

»Ich wußte es ja,« knurrte er durch die Zähne. »Nur hier konnte man ihn versteckt haben.«

Er kam etwas näher und schrie: »Ich seh' euch ganz genau, und weiß, daß ihr nackt seid ... Ein Greuel ohnegleichen ist das. Sind Sie ein Vieh, daß Sie mit diesem Weibsstück in den Wäldern umherlaufen? Weit ist es mit Ihnen gekommen. Sie hat Sie zur Unzucht verführt, und da stehn Sie nun, behaart wie ein Bock... Reißen Sie einen Ast ab und zerschlagen Sie ihn ihr auf den Flanken!«

Albine flüsterte glühend:

»Liebst du mich, liebst du mich?«

Sergius senkte den Kopf und schwieg, doch stieß er sie noch nicht von sich.

»Ein Glück, daß ich Sie gefunden habe,« fuhr Bruder Archangias fort. »Dieses Loch hatte ich lange schon entdeckt. Sie sind Gott ungehorsam gewesen und haben Ihren Frieden zerstört. Unablässig wird die Versuchung mit Flammenzähnen Sie anfallen, und von jetzt an werden Sie Ihre Unschuld nicht mehr zum Bundesgenossen haben ... Verführt hat Sie diese Dirne. Ist es nicht so? Sehen Sie nicht, wie die Schlange sich in Ihren Haaren ringelt? Ihre Schultern verursachen mir Brechreiz... Weg von ihr, berühren Sie sie nicht mehr, denn die Hölle ist sie!... Im Namen Gottes, fort aus diesem Garten!«

»Liebst du mich, liebst du mich?« lallte Albine.

Aber Sergius war von ihr gewichen, als versengten ihn ihre Schultern, ihre nackten Arme wirklich.

»Im Namen Gottes, im Namen Gottes!« schrie der Bruder mit Donnerstimme.

Unaufhaltsam schritt Sergius der Bresche zu.

Als Bruder Archangias ihn mit rauhem Griff aus dem Paradeis riß, glitt Albine zu Boden, streckte wild die Arme nach ihrer entschwindenden Liebe, dann erhob sie sich mit gramzerrissener Brust und floh davon, verschwand zwischen Bäumen. Gelöst flatterte ihr Haar gegen die Stämme.


 << zurück weiter >>