Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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3

»Jetzt ist meine Suppe zu heiß,« grollte die Teusin, die aus der Küche zurückkam mit einem Napf, in dem ein Holzlöffel aufrecht stak.

Sie blieb vor dem Abbé Mouret stehen und fing an, vorsichtig zu essen, von der äußersten Löffelspitze. Sie hoffte, ihn aufzuheitern, ihn aus dem trüben Schweigen zu reißen, in das er versunken war. Seit seiner Rückkehr vom Paradeis sagte er, er sei wiederhergestellt, klagte nie; öfter sogar lächelte er so sanft, daß nach dem Gerede der Leute im Artaud die Krankheit seine Heiligkeit noch erhöht hatte.

Aber zu Zeiten bekam er Schweigsamkeitsanfälle; gemartert schien er umhergetrieben zu werden, alle seine Kräfte angespannt, nichts verlauten zu lassen; eine stumme Qual war es, die ihn verstörte und für Stunden geistig lähmte, ihn schrecklichem inneren Kampf auslieferte, dessen Heftigkeit nur wahrzunehmen war am Angstschweiß, der sein Antlitz überfloß. Die Teusin wich ihm dann nicht von der Seite, redete betäubend auf ihn ein, bis er nach und nach zu seinem sanften Gehaben zurückfand, als Sieger über den Aufruhr seines Blutes. An diesem Morgen ahnte die alte Magd einen noch schlimmeren Überfall als sonst. Sie erging sich in lebhaftem Geschwätz, während sie vorsichtig am Löffel versuchte, der ihr die Zunge verbrannte.

»Man muß wirklich in einem Land wohnen, wo die Wölfe sich gute Nacht sagen, um so etwas zu sehen. Läßt man sich in einem ordentlichen Dorf jemals trauen, wenn es noch nicht hell ist? Das zeigt zur Genüge, daß die Leute hier alle nicht viel wert sind... In der Normandie hab ich Hochzeiten mitgemacht, über die man drei Meilen im Umkreis sprach. Drei Tage lang saß man bei Tisch. Der Pfarrer war dabei, der Bürgermeister ebenso. Zu der Hochzeit einer meiner Cousinen kamen sogar die Feuerwehrleute. Und lustig war es! ... Aber einen Priester vor Sonnenaufgang aufzustören und sich zusammentun zu lassen, wenn selbst die Hühner noch schlafen, das ist doch Unvernunft! An Ihrer Stelle hätte ich mich geweigert, Herr Pfarrer... Himmlische Güte! Sie haben sich nicht ausschlafen können und sich vermutlich erkältet in der Kirche. Das hat Sie so angegriffen. Dazu möchte man noch lieber unvernünftiges Vieh trauen, als die Rosalie und ihren Lüderjan, samt dem Knirps, der einen Stuhl bepißt hat... Es ist unrecht, mir nicht zu sagen, wo Sie sich schlecht fühlen ... Ich könnte Ihnen etwas Heißes zu trinken geben ... Nicht? Herr Pfarrer, geben Sie mir Antwort!«

Matt erwiderte er, es ginge ihm gut, er brauche nur etwas Luft. Schweratmend lehnte er, an einem der Maulbeerbäume.

»Gut, gut, machen Sie nur, was Sie wollen,« hob die Teusin wieder an. »Trauen Sie nur die Leute, wenn Sie nicht wohl genug dazu sind und krank davon werden. Ich wußte es wohl, gestern habe ich es schon gesagt ... Es sieht fast so aus, als hörten Sie mir zu; wenn Sie könnten, machten Sie sich aus dem Staub, weil Sie den Stallgeruch nicht vertragen können. Es stinkt gerade ordentlich. Ich weiß wirklich nicht, mit was Fräulein Desiderata wieder herumwirtschaftet. Sie hat gut singen; ihr ist's ganz gleich, sie bekommt Farbe davon ... Ach, was ich noch sagen wollte. Alles hab' ich getan, müssen Sie wissen, um sie fortzubringen, als der Stier die Kuh besprang. Aber sie ist Ihnen ähnlich, voller Eigensinn! Es ist ein Glück, daß das bei ihr nichts zu bedeuten hat. Ihre Freude sind die Tiere und die Jungen... Sie müssen vernünftig sein, Herr Pfarrer, sehen Sie doch. Erlauben Sie, daß ich Sie in Ihr Zimmer bringe? Legen Sie sich nieder und ruhen Sie sich ein wenig... Nein, Sie wollen nicht? Nun, dann kann Ihnen nicht geholfen werden, dann müssen Sie eben Schmerzen leiden. Man behält sein Leid doch nicht so auf dem Gewissen, bis man daran erstickt!«

Und aus Zorn verschluckte sie einen großen Löffel Suppe, auf die Gefahr hin, sich den Hals zu verbrühen. Brummend klopfte sie mit dem Holzstiel gegen die Schale und sprach mit sich selbst.

»Hat man je so einen Menschen gesehen. Nicht ums Verrecken kriegt man ein Wort aus ihm heraus ... Oh, er kann den Mund halten, ich weiß genug! Man braucht nicht schlau sein, um den Rest zu raten ... Ja, ja, er soll nur den Mund halten! Das ist auch besser!«

Die Teusin war eifersüchtig. Der Doktor Pascal hatte einen wahrhaften Kampf mit ihr auszufechten gehabt, um ihr seinen Patienten zu entreißen, als er annehmen mußte, der junge Priester sei verloren, verbliebe er im Pfarrhaus. Er versuchte ihr klar zu machen, die Glocke steigere sein Fieber, die Heiligenbilder in seinem Zimmer erfüllten sein Gehirn mit Wahnbildern, daß ihm vor allen Dingen vollkommenes Vergessen, eine andere Umgebung vonnöten sei, um auferstehen zu können im Frieden neuen Lebens. Sie schüttelte den Kopf und sagte, das liebe Kind könne nirgendwo bessere Pflege finden als bei ihr. Trotzdem hatte sie schließlich zugestimmt, sie hatte sich sogar damit abgefunden, ihn im Paradeis zu wissen, allerdings unter heftigem Protest gegen die Wahl des Doktors, die sie bestürzte. Aber ein tiefer Haß gegen das Paradeis blieb ihr. Vor allem verletzte sie das Schweigen des Abbés Mouret über die dort verlebte Zeit. Oftmals hatte sie vergeblich den Versuch gemacht, ihn zum Reden zu bringen. An diesem Morgen, außer sich darüber, ihn so blaß zu sehen und entschlossen, klaglos zu leiden, schwang sie schließlich ihren Löffel wie einen Stock und schrie:

»Gehen Sie doch wieder hin, Herr Pfarrer, wenn es Ihnen da so gut ging... es gibt ja dort jemand, der Sie zweifelsohne besser pflegen kann als ich.«

Zum ersten Male wagte sie eine offene Anspielung. Die Erschütterung war so schmerzhaft, daß dem Priester ein leiser Ruf entfuhr und er sein leidendes Antlitz hob. Die gute Seele empfand Reue.

»Ihr Onkel Pascal trägt die Schuld,« murmelte sie. »Hab' ich es ihm nicht genügend gesagt? Aber die Studierten, die verbeißen sich in ihre Einfälle. Es soll sogar welche geben, die einen zu Tode bringen, um nachher im Körper herumwühlen zu können... Mich hat das damals in solchen Zorn versetzt, daß ich zu niemand reden konnte. Ja, Herr, mir haben Sie es zu verdanken, daß niemand Wind bekommen hat von Ihrem Aufenthalt, so abscheulich fand ich das Ganze. Wenn der Abbé Guyot aus St.-Eutrope, der Sie in Ihrer Abwesenheit vertrat, Sonntags die Messe hier las, band ich ihm Märchen auf und schwor, Sie seien in der Schweiz. Ich weiß nicht einmal, wo die liegt... Keineswegs will ich Ihnen weh tun, aber eines ist sicher, da droben haben Sie sich Ihr Übel geholt. Das nenn' ich eine merkwürdige Genesung! Sie wären besser bei mir geblieben, ich wenigstens hätte es mir nicht einfallen lassen, Ihnen den Kopf zu verdrehen.«

Der Abbé Mouret beugte den Nacken wieder und unterbrach sie nicht. Sie hatte sich in einiger Entfernung auf den Boden gesetzt, um den Versuch zu machen, ihm in die Augen zu sehen. Froh darüber, daß er anscheinend Willens war, sie anzuhören, begann sie in mütterlichem Tone:

»Nie wollten Sie die Geschichte des Abbés Caffin hören. Gleich hießen Sie mich schweigen, wenn ich davon anfing... Nun, der Abbé Caffin hatte bei uns zu Hause, in Canteleu, Unannehmlichkeiten. Deswegen war er doch ein sehr frommer Mann mit goldenem Herzen. Aber, sehen Sie, er war eben ein bißchen weich und liebte Leckerbissen. So sehr, daß ein junges Fräulein, eine Müllerstochter, die ihre Eltern in Pension getan hatten, ihn umschlich. Kurz, es kam, was kommen mußte, nicht wahr, Sie verstehen? ... Als die Sache sich herumsprach, stand das ganze Land auf gegen den Abbé. Man verfolgte ihn, um ihn zu steinigen. Er rettete sich nach Rouen und vergoß Tränen beim Erzbischof. Dann schickte man ihn her. Es war hart genug für den armen Mann, in diesem Nest zu leben... Später hörte ich einmal von dem Mädchen. Sie hat einen Viehhändler geheiratet und ist sehr glücklich geworden.«

Die Teusin war höchst befriedigt, ihre Geschichte angebracht zu haben und deutete die Regungslosigkeit des Priesters als Aufmunterung. Sie kam etwas näher und fuhr fort:

»Der gute Herr Caffin! Er war gar nicht stolz mir gegenüber und sprach oft mit mir über seine Sünde. Deshalb ist er doch in den Himmel gekommen, da können Sie Gift darauf nehmen: er kann ruhig schlafen unter'm Rasen da nebenan, nie hat er einem Menschen Böses getan... Ich verstehe gar nicht, warum man einem Priester so übel nimmt, wenn er Seitensprünge macht. Das ist doch menschlich! Schön ist es sicher nicht und bleibt eine Schmutzerei, über die Gott sicherlich sich erzürnt. Aber immerhin ist es noch besser als stehlen. Man beichtet eben und ist seiner Sünden dann ledig!... Nicht wahr, Herr Pfarrer, wenn man wirklich reuig ist, wird man trotzdem des Heils teilhaftig?«

Der Abbé Mouret richtete sich langsam auf. Mit letzter Kraft überwand er sein Wehgefühl; immer noch blaß, sagte er mit fester Stimme:

»Nie soll man sündigen, nie, nie!«

»Halten Sie ein, Herr!« rief die alte Dienerin. »Sie sind zu hochmütig! Stolz ist auch nicht schön! An ihrer Stelle benähme ich mich nicht so steif. Man spricht über sein Leid und erwürgt nicht plötzlich sein Herz, gewöhnt sich langsam an die Trennung! Das kommt dann nach und nach ... Anstatt, wie Sie, sogar zu vermeiden, den Namen gewisser Leute auszusprechen. Sie verbieten, daß man von ihnen spricht, es ist, als ob sie gestorben wären für sie. Seit Ihrer Heimkehr habe ich nicht gewagt, Ihnen die kleinste Neuigkeit zu erzählen. Nun gut! Jetzt werde ich sprechen; ich will erzählen, was ich weiß, weil ich wohl sehe, das Stillesein beschwert Ihnen das Herz.«

Er sah sie streng an und hob einen Finger, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Wohl, wohl,« fuhr sie fort, »ich bekomme Nachrichten von da drüben, oft sogar, und ich werde sie Ihnen übermitteln ... Erstens, eine gewisse Person ist nicht besser daran wie Sie.«

»Schweigen Sie!« sagte der Abbé Mouret, der stark genug war, sich aufzurichten und fortzugehen.

Die Teusin erhob sich ebenfalls und versperrte ihm mit ihrer umfangreichen Person den Weg. Sie wurde böse und rief:

»Da, schon läuft er davon!... Sie sollen mich aber anhören. Sie wissen doch, daß ich gar keine Zuneigung für die Leute da drüben habe, nicht wahr? Wenn ich über sie rede, geschieht das zu Ihrem Besten ... Eifersüchtig soll ich sein. Gut, ich habe mir ausgedacht, Sie eines schönen Tages hinüberzubegleiten. Gehen Sie mit mir zusammen, brauchen Sie nicht Angst davor zu haben, schwach zu werden ... Ist es Ihnen recht?«

Er schob sie beiseite mit einer Bewegung. Sein Gesicht wurde ruhig, er sagte:

»Ich will nichts und weiß nichts... Morgen haben wir ein Hochamt, der Altar muß instand gesetzt werden.«

Dann, schon im Gehen, fügte er lächelnd hinzu:

»Beunruhigen Sie sich nicht, gute Teuse. Ich bin stärker als Sie denken. Ich werde ganz von selbst wieder gesund werden.«

Und er entfernte sich gefestigt und erhobenen Hauptes, er hatte gesiegt.

Sanft strich seine Sutane an der Thymianeinfassung entlang. Die Teusin stand noch auf demselben Fleck, dann raffte sie ihre Schale und den Holzlöffel schmollend zusammen, stieß Worte durch die Zähne, die sie mit lebhaftem Achselzucken begleitete:

»Man spielt den Tapferen, man bildet sich ein, anders zu sein wie andere Männer, weil man Pfarrer ist... Eins muß wahr sein, der da ist eine harte Nuß. Ich hab' andere gekannt, die brauchte man nicht so lange zu kitzeln. Und er ist imstande, sich das Herz abzudrücken wie einen Floh. Sein lieber Gott gibt ihm die Kraft dazu!«

Sie ging zurück in die Küche, als sie den Abbé Mouret vor der vergitterten Hoftür stehen sah. Desiderata hatte ihn angehalten, um ihn einen Kapaun heben zu lassen, den sie seit einigen Wochen mästete. »Er sei sehr schwer,« sagte er artig, worüber das große Kind zufrieden lachte.

»Auch der Kapaun drückt sich das Herz ab wie einen Floh,« kollerte die Teusin, gänzlich außer sich. »Er weiß wohl, warum ... dann ist es keine Kunst, sittsam zu leben.«


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