Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XXXVIII.
Hipparchia an Melanippe

Es ist Zeit, liebe Melanippe, daß du endlich wieder von mir selbst Bericht empfangest, wie die Sachen zwischen mir und Krates stehen. Wenn ich dem Ziele nahe bin, wem als dir, meine Freundin, werde ich das Glück meines Lebens schuldig sein? Ohne dich hätte ich weder den Einfall gehabt, der die Bahn dazu gebrochen, noch den Mut zur Ausführung. Deinem liebenswürdigen Leichtsinn, deiner Entschlossenheit, alles für deine Freundin zu tun, hab ichs allein zu danken, daß ich diesen Mann kennen lernte, den ersten und einzigen, der das Verlangen die seinige zu sein in mir erregt hat, und dies schon zu einer Zeit und unter Umständen, die mir kaum die Hälfte seines Werts bekannt werden ließen.

Ich lebe nun über zwei volle Dekaden mit meinem Vater und ihm auf unserm Pentelikeion, in gänzlicher Freiheit von dem gewöhnlichen Zwang, worin wir armen Attischen Jungfrauen in der Stadt gehalten werden: eine Freiheit, die zwar nur auf dem Lande Statt finden kann, aber doch ein untrügliches Zeichen ist, daß mein Vater unsre Wünsche zu krönen beschlossen hat; wiewohl er, aus Bewegursachen, die du leicht erraten wirst, mit der ausdrücklichen Erklärung seines Willens noch zurückhält.

Wenn ich dir sage, daß diese zwanzig Tage so schnell, wie die Zeit in Träumen mit mir davon geflogen sind, so könntest du, falls du eben in deiner mutwilligen Laune wärest, den Schluß daraus ziehen, daß deine wohlweise Hipparchia (wie du mich dann zu nennen pflegst) mächtig verliebt sein müsse. Ich schwöre dir, das ist es nicht. Mir ist – aber freilich, dir so recht eigentlich zu beschreiben, wie mir ist, darin eben liegt die Schwierigkeit – Ich denke, so muß einem im Hause ausgebrüteten und immer gefangen gehaltenen Vögelchen zumute sein, wenn es, unverhofft seinem Käficht entronnen, frank und frei in seinem angestammten Luftreich umherschweift; oder einem ans Ufer ausgeworfnen halbzerlechzten Fische, wenn er sich seinem Element zurückgegeben fühlt. Eine süße Stille, gleich der Stille des Meers in den halcyonischen Tagen, ruht auf meinem Innern. Alle meine Wünsche sind befriedigt. Ich weiß, daß Krates mich liebt, gerade so liebt, wie ich geliebt sein will, und täglich, ja stündlich entdeck ich etwas an ihm und an mir selbst, was mich in dem Glauben, daß wir zusammen gehören, befestigt.

Es war, denk ich, eine bloße Übereilung der Natur, daß ein Weib aus mir geworden ist. Da ichs nun aber einmal bin, so ist klar, daß ich entweder das seinige, oder Niemands sein muß. Dies ist eine so sonnenhelle Wahrheit, daß sie sogar meiner Tante einzuleuchten beginnt, die im Grund (ihre kleinen Vorurteile abgerechnet) eine verständige und nichts weniger als herzlose Frau ist. Sie muß (nach den Resten zu urteilen, die ihr geblieben sind) vor neun bis zehen Olympiaden eine Schönheit gewesen sein; und du kannst mirs glauben, wenn ihr Krates nur ein Drittel der Jahre, die sie mehr hat als ich, abnehmen könnte und wollte, ich würde eine furchtbare Rivalin an ihr finden. Eine andere als ich wäre vielleicht itzt schon eifersüchtig über sie, so wenig hält sie mit den Ausdrücken ihres Wohlgefallens an ihm zurück, und so erfinderisch ist die gute alte Dame an Gelegenheiten und Vorwänden, mich mit guter Art von ihm zu entfernen, oder sich uns zuzugesellen, wenn wir allein beisammen sind.

Im Vorbeigehn muß ich dir sagen, daß Krates, der kein Verdienst darein setzt, ein Sonderling zu sein, sein ehemaliges Kostüm mit dem gewöhnlichen unsrer ehrenfesten Landbürger, die gerade keinen Anspruch an städtische Zierlichkeit machen, verwechselt hat. Ich kann nicht bergen, er verliert nichts dabei, oder, rund heraus zu reden, mir deucht vielmehr, daß er in einen merklichen Vorteil dadurch gesetzt werde. Überhaupt ist er ein lebendiger Beweis, wie viel ein leidlich häßlicher Mann von Geist und Gefühl, eben dadurch, daß es ihm nicht einfallen kann den Narcissus spielen zu wollen, gewinnt, wenn man zugleich sieht, daß er durch seine Gestalt nicht in die mindeste Verlegenheit gesetzt wird.

Du bist vielleicht neugierig zu wissen, wie unsre erste Zusammenkunft abgelaufen sei? Nach meinem Plan sollte niemand dabei zugegen sein als mein Bruder: aber mein Vater wollte sich vermutlich eine kleine Lust mit uns machen, und behielt sich deswegen vor, mich dem Krates selbst vorzustellen. Absichtlich tat er es gerade so, wie man völlig unbekannte Personen einander vorzustellen pflegt, und brachte mich dadurch ein wenig aus der Fassung. Wir grüßten uns mit der gewöhnlichen Formel, ich die Augen niederschlagend, Krates (wie mein Bruder mir sagte) mit dem forschenden Blick, womit man die Einheit einer sich darstellenden Person mit einer ehemals gesehenen sich wahr zu machen sucht. »Dächte man nicht, daß ihr einander wildfremd wäret«, sagte mein Vater: »sollte Krates seinen Schüler Hipparchides von Sunium nicht mehr erkennen?«

»In der Tat«, versetzte Krates lächelnd, »hätte ich mir nicht vorgestellt, daß seine Verkleidung in eine Jungfrau es mir so schwer machen würde.« – Dieser lose Scherz gab mir plötzlich die Besonnenheit wieder. »Es wird bloß von dir abhängen«, sagte ich, »ob ich Hipparchides oder Hipparchia für dich sein soll; das eine wird mir nicht schwerer fallen als das andere.« – »Ist es dir wirklich so gleichgültig?« sagte Lamprokles mit einem Blick, der mich beinah erschreckt hätte. – »Mir wenigstens keineswegs«, fiel Krates ein; »doch hoffe ich auf Nachsicht, wenn ich gestehe, daß mir das Andenken des jungen Hipparchides immer teuer bleiben wird, weil ich ohne ihn die liebenswürdigere Hipparchia nie gesehen hätte.« – »Da ich ihm eine ähnliche Verbindlichkeit habe«, erwiderte ich, »so gelobe ich hiemit, alle Jahre die ich noch leben werde, am zehnten Anthesterion ihm zu Ehren Hipparchides zu sein.« – »Das ist so billig«, sagte mein Bruder, »daß Krates selbst nichts dagegen einzuwenden haben kann.«

Mein Vater gab itzt dem Gespräch eine andere Wendung, indem er meinem Anzug, als einem Muster von Einfachheit und gutem Geschmack, seinen Beifall gab. Krates machte ihn mit einem Blick, dessen Sinn ich vermutlich allein erriet, auf die Feinheit der Wolle aufmerksam. »Mein Vater hat die Wolle seiner Schafe so sehr veredelt«, sagte ich, »daß diese hier die gröbste ist, die auf seinen Schäfereien erzeugt wird.« Wiewohl ich bloß die Wahrheit sagte, so hätte ich doch dem guten Manne schwerlich eine angenehmere Schmeichelei sagen können. Er geriet nun mit Krates und meinem Bruder in ein langes Gespräch über die Mittel, wodurch es ihm gelungen, auf seinen Gütern wirklich die feinste Wolle in ganz Attika zu erzielen; und ich entfernte mich indessen, um auf seinen Befehl die Regierung des weiblichen Teils der Wirtschaft zu übernehmen.

Die Beschäftigungen, die mir dieses Amt auferlegt, lassen mir von Sonnenaufgang bis zur Schlafzeit noch Muße genug, einen guten Teil des Tages mit Krates zuzubringen. Sein Umgang ist immer lehrreich, ohne jemals langweilig zu werden; und wiewohl er alle Augenblicke etwas sagt, das man nie vergessen möchte: so besteht doch sein vorzüglichstes Talent, weniger in der Geschicklichkeit, seine Gedanken in die Seele der Zuhörenden zu spielen, als in der Sokratischen Kunst, ihre eigenen hervorzulocken. Den Stoff zu unsern Unterhaltungen gibt uns gewöhnlich entweder die Natur unmittelbar, oder ein Dialog von Plato, Äschines oder Diogenes, oder auch etwas Neues von Theophrast und unserm Liebling Menander. Nie ist von Liebe zwischen uns die Rede; aber desto sichtbarer offenbart sie sich an uns durch ihre Wirkungen: bei ihm, in dem immer neuen Vergnügen, so er daran findet, mir alle Schätze seines Geistes mitzuteilen; bei mir, in der Leichtigkeit womit ich ihn verstehe, und in der schnellen Entwicklung meines eignen Geistes, der ihn zuweilen in Verwunderung setzt, wenn wir (was öfters geschieht) uns bis an die Grenzen des menschlichen Wissens erheben, und in der schwachen Dämmerung, worin das Licht der übersinnlichen Welt sich verliert, gemeinschaftlich das Wahre oder wenigstens das Wahrscheinlichste zu finden trachten.

Denke indessen nicht, daß es ihm an Sinn für das, was auf gemeine Liebhaber am stärksten wirkt, so gänzlich fehle, wie man aus dieser ungewöhnlichen Art, die Zeit mit einer Geliebten unter vier Augen zuzubringen, schließen könnte. Es gibt Augenblicke, wo ich leicht merken kann, daß er sich nicht wenig Gewalt antun muß, den Ausdruck seiner Empfindungen in den engen Schranken zu halten, die er sich selbst gezogen hat; – und (dir darf ich es wohl gestehen) schon mehr als einmal fühlt ich mich aus Mitleiden versucht, ihm durch leise Andeutungen merken zu lassen, daß weniger strenge Zurückhaltung mich eben nicht beleidigen würde, ob ich gleich sonst keine Freundin von Liebkosungen bin. Ich sehe dann wohl, daß ihm weder dieses leise Entgegenkommen noch die Lauterkeit meines Beweggrunds verborgen bleibt: aber ich sehe auch, daß er, anstatt Aufmunterung darin zu ahnen, es vielmehr für eine warnende Erinnerung an die Achtung, die er sich selbst und mir schuldig sei, zu nehmen scheint. Könnt es wohl einen Genuß geben, der mit dem Bewußtsein dieses zarten schönen Einverständnisses unsrer Seelen zu vergleichen wäre?
 

Leotychus hat uns vor etlichen Tagen einen Besuch gemacht, woran sein Vorwitz vermutlich eben so viel Anteil hatte, als die Absicht, des Vorgefallenen ungeachtet, gute Nachbarschaft mit uns zu unterhalten. Ich muß ihm zur Ehre nachsagen, daß er sich anständig gegen Krates und mich benahm. Indessen höre ich aus dem Munde meines Bruders, daß er unter der Hand sehr geschäftig sei, gewisse platte EpigrammenWahrscheinlich hat die unartige Anekdote von der vorgeblichen Cynischen Hochzeit des Krates und der Hipparchia, welche Diogenes von Laerte und andre seinesgleichen, die 500 Jahre später als jene lebten, erzählen, keine reinere Quelle, und war der Mühe ganz unwürdig, welche so gelehrte Männer, als Heumann, Brucker u. a. sich mit ihrer Widerlegung gegeben haben. in Umlauf zu setzen, deren witzigstes eine Einladung an das Publikum sein soll, der Ehverbindung des weisen Krates mit der schönen Hipparchia beizuwohnen, welche nächstens in der großen Halle nach Cynischer Weise vollzogen werden solle. Mein Bruder zweifelt nicht, daß Leukonoe (die diesen albernen Spaß nicht so gleichgültig aufnimmt als wir) dem Vater anliegen werde, unsre Verbindung zu beschleunigen, und ihr sogar durch ein großes Gastmahl, wozu der ganze Kanton eingeladen werden soll, die möglichste Feierlichkeit zu geben. Wirklich sehe ich Anstalten machen, die keinen andern Zweck haben können. überdies hat Lamprokles vor kurzem ein artiges kleines Haus mit einem großen Garten zwischen dem Cynosarges und der Akademie gekauft und einrichten lassen, welches, wie mein Bruder mich versichert, zu unsrer künftigen Wohnung bestimmt ist.

Alles, liebe Melanippe, gewinnt demnach das Ansehen, daß du mich, noch vor der Mitte des nächsten Monats, zu Athen in meinem eignen Hause, als die unscheinbare aber glückliche Gattin des Krates, besuchen wirst: ein Titel, auf den ich so stolz bin, daß mir die Zeit wirklich lang wird, bis ich mich unsern KechenäernEin Spitzname, welchen Aristophanes seinen lieben Mitbürgern, den Athenäern, in seinen Rittern geschöpft hat, um ihres müßiggängerischen und leichtgläubigen Haschens nach Neuigkeiten (als eines Hauptzugs ihres Charakters) zu spotten. Es ist mit Maulaufreißer oder Gähnaffe ungefähr von gleicher Bedeutung, und erinnert den Griechischverstehenden an die Gänse, und die noch unbefiederten, immer hungernden kleinen Vögel, die ihre gelben Schnäbel weit aufsperren, um sich von ihren Müttern ätzen zu lassen. an der Seite des Mannes, den ich ihnen allen vorziehe, werde zeigen können.

Den 26sten Boedromion.


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