Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XIII.
Hipparchia an Krates

Ich kann nicht länger zögern, weiser und ehrwürdiger Krates, dir einen unschuldigen Betrug zu entdecken, dessen zwei unbesonnene Mädchen sich gegen dich schuldig gemacht haben, indem ich dir gestehe, daß unter dem doppelten Mantel der vorgeblichen Jünglinge Hipparchides und Melampus von Sunium, die sich seit einigen Monaten unter deinen Zuhörern einfanden und deren plötzliches Verschwinden dir aufgefallen sein soll, Hipparchia, die Tochter des Lamprokles, die dir dieses schreibt, und eine ihrer Freundinnen verborgen waren.

Um dir über dieses seltsame Geheimnis das gehörige Licht zu geben, muß ich dich um Erlaubnis bitten, meine Geschichte, wie jener Dichter seine Ilias, vom Ei anzufangen. Die Natur scheint der Neugierigkeit, womit sie die Personen meines Geschlechts vorzüglich ausgestattet haben soll, bei mir eine bestimmte Richtung nach dem, was das wissenswürdigste ist, gegeben zu haben. Von der Kindheit an zeichnete sich die kleine Hipparchia durch ihre immer rege Lernbegierde aus, und wußte sogar mit ihren Puppen nichts anders anzufangen, als daß sie immer alles, was sie selbst gelernt hatte, mit ihnen wiederholte, um sie eben so gelehrt zu machen als ihre Gebieterin. Ich wußte den größten Teil der Odyssee auswendig, bevor ich acht Jahre alt war, wiewohl ich die Zeit sie zu lesen beinahe stehlen mußte. Der frühzeitige Tod meiner guten Mutter, die das wahre Ebenbild der Hausfrau des Xenophontischen Ischomachus war, und mich vorzüglich zu weiblichen Beschäftigungen angehalten hatte, und die gefällige Güte meines Vaters, dessen einzige Tochter ich bin, setzte mich in diesem Stück in eine größere Freiheit. Ich brachte einen ziemlichen Teil des Tags in dem Bücherzimmer meines Vaters zu, und durchlas, oder verschlang vielmehr anfangs, was mir zuerst in die Hände fiel, Dichter und Geschichtschreiber, Tragiker und Komiker, ohne Ordnung und Auswahl. Endlich geriet ich über ein Fach, das mit den Werken Xenophons und mit den Dialogen aller Sokratiker angefüllt war. Die erstern und alle von den andern, die mir verständlich waren, hatten einen ganz besondern Reiz für mich. Sie machten von nun an meine Lieblingsunterhaltung aus; ich hatte Mühe mich von ihnen zu trennen, kehrte immer wieder zu ihnen zurück, und verspürte bald die guten Folgen ihrer Einwirkung auf mein Gemüt. Denn unvermerkt lösete sich die Verwirrung, die aus jener unordentlichen Leserei in meinem Kopf entstanden war. Es begann darin zu tagen, und eine dunkle Stelle trat nach der andern ins Licht hervor. Ich wagte mich nun sogar an die Dialogen des göttlichen Plato, die ich anfangs mit heiliger Scheu vor ihrer erhabenen Dunkelheit auf die Seite gelegt hatte: vieles war mir nun ohne Mühe verständlich; was ich nicht verstand, glaubte ich zu erraten, und was ich nicht erriet, ersetzte meine Einbildungskraft.

Aber was sollte nun ein Mädchen, zur Regierung eines Gynäceons bestimmt und auf die Geschäfte desselben eingeschränkt, mit allen den Ideen und Kenntnissen anfangen, die ich erlangt hatte? Und wie sollte sie, die von ihrem fünfzehnten Jahre an mit Xenophon, Cebes und Simmias, mit Plato, Aristipp und Diogenes, so zu sagen, gelebt, und ihre Seele mit dem Geiste dieser edelsten unter den Männern genährt hatte, wie sollte sie sich zu der gewöhnlichen Lebensweise der griechischen Frauen bequemen können? Ich sah, was mir als der Tochter eines reichen Mannes in Athen bevorstand, erschrak vor dem, was alsdann wahrscheinlich mein Los sein würde, und ließ nun nicht von meinem Vater ab, bis ich die heiligste Zusage von ihm erhielt, daß es in meiner Willkür stehen sollte, jeden Freier auszuschlagen, mit welchem ich nicht nach meiner eigenen Weise glücklich zu leben hoffen könnte. Die Wahrheit zu sagen, fühlte ich nichts in mir, was mich geneigt gemacht hätte, meine Freiheit irgend einem Manne aufzuopfern. Ich sah die ausgezeichnetsten unsrer Jünglinge mit kalter Gleichgültigkeit an, und wies nach und nach mehrere Anträge zurück, die meiner Familie gemacht wurden, und, nach dem gewöhnlichen Maßstab, sehr annehmenswürdig waren. Indessen konnt ich doch von den Beweggründen nicht ungerührt bleiben, um derentwillen mein Vater mich verheiratet zu sehen wünschte, und indem ich mich an die Vorstellung, nicht immer ledig zu bleiben, unvermerkt gewöhnte, bildete sich eine Idee in mir, wie der Mann an Geist und Gemüt, Sitten und Lebensweise beschaffen sein müßte, mit welchem ich in die engste und heiligste aller Verbindungen zu treten wünschen könnte. Geburt, Reichtum und Gestalt kamen dabei in keinen Anschlag: hingegen war sehr natürlich, daß er denjenigen nicht ähnlich genug sein konnte, deren Geist den meinigen erweckt und gebildet hatte, deren Tugend und Seelengröße ich bewunderte, und die, mit Einem Wort, in meinen Augen die Ersten unter den Menschen, und, in der ganzen Stärke des Homerischen Beiworts, den Göttern gleich waren. Schon damals stand der große König Alexander, Philipps Sohn, in meinem Sinn tief unter dem Manne, der, wiewohl vielleicht der ärmste in ganz Korinth, sich keine andere Gnade von jenem auszubitten wußte, als daß er ihm aus der Sonne gehen möchte. Mit dieser Art zu denken hatte ich beinahe mein dreiundzwanzigstes Jahr zurückgelegt, als ich zum erstenmal von einem gewissen Krates hörte, der sich seit kurzem zu Athen aufhalte, und als der größte Sonderling, auf den die Sonne je geschienen, beschrieben wurde. Abkömmling aus einer edeln Thebanischen Familie habe er sich (sagte man) eines ansehnlichen Erbgutes und alles Glückes, so er in seiner Vaterstadt hätte machen können, freiwillig entschlagen, um, nach dem Beispiel des Diogenes, mitten in der bürgerlichen Gesellschaft, unter ausgearteten, durch Kunst verfeinerten, und durch Reichtum und Üppigkeit, oder Begierde nach beiden, verderbten Menschen, unabhängig von ihren Gewohnheiten und frei von ihren Leidenschaften, ein reines Naturleben zu führen, und sich in allem, was den Leib betrifft, auf das strengste Unentbehrliche einzuschränken, um sich gänzlich dem, was das höchste Gut der Seele ist, der Weisheit und Tugend, ungestört ergeben zu können. Ich hörte sehr verschiedene Urteile über diesen Krates fällen; einige spotteten über seine Lebensweise, andere machten sich über sein Äußeres lustig; die meisten stimmten darin überein, daß man nicht wenig verrückt sein müsse, um ein so armseliges Leben, als er führe, mit baren achtzig Talenten zu erkaufen: aber alle gestanden, daß er ein Mann von Geist, Witz und guter Laune, und bei der unbeschränktesten Freimütigkeit äußerst angenehm im Umgang sei.

Diese Erzählungen machten einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich ihn, vermöge eines eigenen meinem Geschlecht angebornen Instinkts, aufs sorgfältigste zu verbergen beflissen war. Ich bewunderte die Seelenstärke des Mannes, der dem großen Gedanken, das Ideal unverkünstelter, aber veredelter Menschheit in sich darzustellen, Alles, was in den Augen der Menge den größten Wert hat, aufzuopfern fähig war.

Unvermerkt, ehrwürdiger Krates, entstand ein unruhiges Verlangen dich selbst zu sehen und zu hören in mir, das durch die anscheinende Unmöglichkeit es zu befriedigen täglich heftiger wurde. Im väterlichen Hause würde ich schwerlich jemals dazu gelangt sein, wenn auch mein Vater auf den Gedanken gekommen wäre deine Bekanntschaft zu suchen: was nicht zu hoffen war, da er seit manchen Olympiaden nur einen kleinen Teil des Jahres in der Stadt lebt, und sich bloß mit Verwaltung seiner Güter beschäftigt. Endlich half mir die vertrauteste meiner Freundinnen, ein lebhaftes genialisches Mädchen, auf einmal aus der Not. »Warum«, sagte sie, »sollten wir nicht den Mut haben zu tun, was ehmals Axiothea von Phlius tat, um sich unerkannt unter die Zuhörer des göttlichen Plato mischen zu können? Es braucht dazu nichts als ein paar schlichte Doppelmäntel, und die Kunst unsere Haare so zusammenzurollen, daß sie einem krausen dichtlockichten Knabenkopf ähnlich sehen. Man wird uns für ein paar Jungen von siebzehn bis achtzehn Jahren halten, und unter der Menge, die sich täglich beim Cynosarges, oder in der Halle am Tempel des Herkules versammelt, um den Krates reden zu hören, werden wir leicht übersehen werden. Auf alle Fälle nennen wir uns Hipparchides und Melampus, wir sind zwei Brüder, aus Sunium gebürtig, Söhne des Kaufmanns Ktesiphon, oder was du willst, niemand wird sich darum bekümmern.« Ich bin ein dreisteres Mädchen, bester Krates, als du der Schüchternheit des verkappten, sich selbst bewußten, Hipparchides zugetraut hättest. Ich ergriff diesen Einfall mit der lebhaftesten Ungeduld ihn je bälder je lieber ins Werk zu setzen. Meine Freundin gewann eine gewisse ihr gänzlich ergebene Blumenhändlerin, die am Wege nach dem Cynosarges ein kleines Haus mit einem Gärtchen besitzt. Hier vertauschten wir unsere weibliche Kleidung mit der Sokratischen, und dahin schlichen wir uns wieder zurück, um diese wieder abzulegen, und wohlverschleiert, jede ihr Blumenkörbchen am Arm, wieder nach Haus zu wandern. Und so habe ich seit den letzten Anthesterien das Glück genossen, dich alle zwei bis drei Tage zu hören, und mich dadurch in einer Denkart zu befestigen, wozu ich mit einer großen Anlage geboren sein muß, weil sie sich meiner in so kurzer Zeit gänzlich bemeistert hat.

Alles dies, bester Krates, mußtest du voraus wissen, bevor ich zu der Hauptsache kommen konnte, die mir den kühnen Schritt an dich zu schreiben abgenötigt hat. Ich befinde mich in einer Verlegenheit, aus welcher du allein, wie ich glaube, mich ziehen könntest.

Seit einiger Zeit bewirbt sich ein junger Mann um mich, der in ganz Athen unter dem Namen Leotychus bekannt ist. Er ist reich und von edler Herkunft, schön wie Adonis, in sich selbst verliebt wie Narcissus, eben so ehrgeizig als wollüstig, und dermalen eine Art Günstling des Volks. Unsre beiden Familien, besonders seine Mutter und meine Mutterschwester, betreiben eine Verbindung zwischen uns, die ihm selbst ziemlich gleichgültig zu sein scheint; nach und nach haben sie auch meinen Vater dahin gebracht, sie eifriger zu wünschen als für meine Ruhe gut ist.

Sage mir, weiser Mann, ich beschwöre dich bei den Grazien, bin ich aus Liebe zu meinem Vater schuldig, einem von ihm selbst mir zugestandenen Rechte zu entsagen, und das Glück meines Lebens seinen Wünschen aufzuopfern? Habe ich keine Pflichten gegen mich selbst? Kommt mein eignes Herz, meine eigne Überzeugung in einer mich so nahe angehenden Sache in gar keine Betrachtung? Der Mann, den man mir aufzudrängen sucht, kann demjenigen, den ich selbst mir zum Gatten wünsche, nicht unähnlicher sein als ers ist. Mein Herz sagt mirs, und meine Vernunft bestätigt es, daß ich mit Leotychus nicht glücklich sein würde. Ist es billig, daß ich unglücklich werde, um einem getäuschten Vater zu Willen zu sein, der gewiß keine frohe Stunde mehr haben würde, wenn er mich unwiederbringlich elend sähe?

Rate mir, weiser und guter Krates, sei mein Genius, mein Orakel! Was soll ich tun? Was darf ich tun? Leite mich in einer Sache, wovon das Wohl oder Weh meines Lebens abhängt; und wenn du anders das Wohlwollen, welches Hipparchia das Glück hatte, dir einzuflößen, als sie dir Hipparchides zu sein schien, ihr nicht um eines unschuldigen Betrugs willen entzogen hast, so beklage sie!

Den 11ten Skirrophorion.


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