Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XXII.
Diogenes an Krates

Ich borge die Augen und die Hand meines Freundes Xeniades, um deinen Brief zu lesen und zu beantworten; denn meine eigenen wollen mir die gewohnten Dienste nicht mehr tun. Ich hätte großes Unrecht, wenn ich mich darüber beklagen wollte. Ich habe mein neunzigstes Jahr hinter mir; es ist, wie du siehst, endlich Zeit vom Gastmahl der Natur aufzustehen, und, mit Dank, zu sagen ich bin satt. Das wollen die Götter der Liebe und der Freude nicht, daß ich über das glückliche Unglück lachen sollte, das du gehabt hast, da du, in aller Unschuld und Unbefangenheit deines Herzens einherschlendernd, unversehens in Liebe gefallen bist. Ich selbst habe zwar, weil mein Schicksal es so wollte, mein ganzes langes Leben ehlos, wiewohl nicht kinderlos, zugebracht; denn die Söhne meines Xeniades sind durch Erziehung und Liebe die meinigen geworden: aber noch in dem hohen Alter, wozu ich gelangt bin, haben mir die Götter so viel gesunden Menschensinns übrig gelassen, daß ich mich, bei Gelegenheit deines Abenteuers, noch mit zartem Gefühl der schönen Lais erinnerte, deren großherziger Denkart ichs zu danken habe, daß ich nicht aus der Welt gehen muß, ohne erfahren zu haben, wie glücklich ein Weib, wie Lais, einen Mann, wie Diogenes, machen kann. Ich denke zwar nicht, daß ein Mann, der sich der Philosophie und den Musen ergeben hat, heiraten soll, wenn ers Umgang haben kann: aber dein Fall mit Hipparchia gehört unter die Ausnahmen. Wäre mir im Lauf meines Lebens eine Hipparchia aufgestoßen, die es so ernstlich mit mir gemeint hätte, wie diese mit dir, ich hätte sie nicht abgewiesen, das versichre ich dich! Was die Leute dazu sagen werden, soll dich so wenig kümmern, als es mich gekümmert hätte. Die Frage ist, wie du selbst dich bei ihr befinden wirst? Eine Gattin wie Hipparchia, kann weder der Freiheit deines Geistes noch der Ruhe deines Gemüts gefährlich werden; und wenn sie nicht so schön wäre als du mich versicherst (vielleicht weil du sie mit den Augen der Liebe siehst), so würde ich mit Platons Aristophanes sagen, du hättest glücklicher Weise deine Hälfte gefunden.

»Aber der Vater wird nicht einwilligen.« – Das ist freilich eine schlechte Aufmunterung! Und doch! warum solltest du, mit allem dem, was du persönlich wert bist, die Freundschaft eines verständigen und wackern Mannes nicht gewinnen können? Zumal eines Vaters, der seine Tochter so zärtlich liebt wie dieser. Ich sehe hier keine Unmöglichkeit: und so lange das, was wir wünschen, nicht schlechterdings unmöglich ist, wär es voreilig alle Hoffnung aufzugeben.

Inzwischen, lieber Krates, hast du dich gegen Hipparchia auf eine deiner würdige Art benommen. Du konntest ihr, da sie deinen Rat verlangte, keinen andern geben, als die Pflicht der Neigung vorzuziehen; und da dein Begriff von der Pflicht auch der meinige ist, so habe ich dir darüber nichts weiter zu sagen. Wenn wir nicht glücklich sind, so ist es doch schön, wenn wir es zu sein verdienen. Wie aber auch die Würfel fallen mögen, glücklicher kannst du mit Hipparchia werden, unglücklich, auch ohne sie, niemals!

Lebe wohl, Krates! Wenn du etwas an Sokrates, Antisthenes, Krito und ihre Freunde zu bestellen hast, so melde mirs in Zeiten: denn ich werde jenseits erwartet, und wahrscheinlich ist der Augenblick der Abreise nicht mehr fern.

Den 30sten Skirrophorion.


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