Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XVIII.
Krates an Hipparchia

Da die unvermutete Umwandlung meines jungen Freundes Hipparchides in die schöne Hipparchia ohne Nachteil für ihn und mich (wie ich hoffe) abgelaufen ist: so wollen wir dazu als zu einer geschehenen Sache das Beste reden, oder, was noch ratsamer sein mag, gar nicht davon reden.

Alles was ich mir mit Rücksicht auf diese kleine Anomalie zu sagen erlauben will, ist, daß sie mir die Pflicht auferlegt, bei dem Rate, welchen Hipparchia von mir verlangt, um so behutsamer zu Werke zu gehen, je leichter es geschehen könnte, daß eine unfreiwillige Erinnerung an den verschwundenen Hipparchides den Ratgeber parteiischer machen könnte, als ihm erlaubt ist zu sein, wenn er das Vertrauen rechtfertigen soll, womit sie ihn begünstigt.

Du meldest mir, daß deine nächsten Verwandten dir einen Jüngling, den ich mit ganz Athen unter dem Namen des schönen Leotychus kenne, wider deine Neigung zum Gemahl aufdringen wollen; und du begehrst nun von mir zu wissen, ob du schuldig seiest, das Glück deines Lebens den Wünschen eines getäuschten Vaters aus kindlicher Liebe aufzuopfern?

Und wer ist, frage ich vor allen Dingen mich selbst, die Person, welche dir eine Aufgabe vorlegt, die vielleicht im Munde von tausend andern Attischen Töchtern nichts auffallendes hätte? – Ist es nicht eben diese Hipparchia, die, schon im frühen Morgen ihres Lebens vom Licht der Philosophie angestrahlt, aus der betäubenden Dumpfheit, worin die verpuppten Seelchen ihrer meisten Geschlechtsschwestern ihr Dasein verträumen, zum Gefühl der Würde ihrer Natur erwacht ist? die, nicht zufrieden sich in die bloßen Pflichten ihres Geschlechts einengen zu lassen, nach einer höhern und reinern Art zu sein, nach männlicher Weisheit und Tugend, kurz, nach dem höchsten Punkt, der dem Menschen erreichbar ist, emporzustreben sich getraut? Hätte diese Hipparchia nicht in demselben Augenblick, da jene Frage in ihrem Busen sich erhob, aus dem innersten Heiligtum des Gottes in ihr die Antwort vernehmen sollen:

»Was ist deine Tugend, wenn sie vor einem Opfer erschrickt, das sie der Pflicht bringen soll?«

Aber habe ich denn keine Pflichten gegen mich selbst, fragt die verkappte Eigenliebe. Nein, Hipparchia! Pflichten beziehen sich nur auf Andere. Der Mensch hat Pflichten gegen Eltern, Familie, Vaterland, gegen die Menschen überhaupt, gegen die ganze Natur: denn diese alle haben ein Recht an ihn, zu dessen Besitz sie nur insofern gelangen können, als er die davon abstammenden Pflichten erkennt und ausübt. Ohne Zweifel ist Selbsterhaltung die Grundlage aller Forderungen, welche die Natur in allen ihren Beziehungen auf uns macht. Ich muß dasein, um die Pflichten erfüllen zu können, womit ich der Natur verhaftet bin. Aber dazu wurden stärkere Springfedern als das bloße Pflichtgefühl erfodert. Dazu hat uns die Natur mit Trieben versehen, deren Wirkung so mächtig ist, daß es selbst den Weisesten und Besten nicht immer leicht wird, sie zu beherrschen, und den Pflichten, mit welchen sie immer im Streit liegen, zu unterwerfen. Sie kann sich in jedem Menschen sicher auf die Stärke dieser Triebe und auf ihre Hinlänglichkeit zu dem, wozu sie uns gegeben sind, verlassen. Aber es ist Selbsttäuschung, wenn der Mensch Triebe zu Pflichten adeln will, und so oft dies geschieht, liegt unfehlbar irgend eine verschleierte Begierde, sich aus eigennützigen Bewegursachen einer wirklichen Pflicht zu entziehen, im Hinterhalt.

Wenn ich dir aber auch, damit ich nicht um Worte zu streiten scheine, zugebe, daß du Pflichten gegen dich selbst habest: so bleiben sie doch immer höhern Pflichten untergeordnet, und das Selbst darf in keine Betrachtung kommen, sobald es mit dem, was wir andern schuldig sind, in Widerspruch gerät.

Aber hier bewundere mit mir die Weisheit der Natur, die uns eine solche Selbstverleugnung durch einen andern, edlern und nicht minder mächtgen Trieb erleichtert hat. Brauche ich dir diesen erst zu nennen, Hipparchia? Was sind wir nicht fähig für diejenigen zu tun, die wir lieben? Welche Mühe, welche Sorgen, welche Leiden sind uns zu schwer, wenn wir sie für eine geliebte Person auf uns nehmen?

Laß uns nun die vorgelegte Frage wiederholen, und ich glaube es dir selbst überlassen zu dürfen, daß du sie aus der sophistischen Sprache des Eigennutzes in die Sprache des reinen Pflichtgefühls übersetzest. Wie? Die edelmütige Hipparchia hätte nicht Stärke genug, aus Liebe zu einem Vater, der die zärtlichste Anhänglichkeit um sie verdient hat, ihre Wünsche den seinigen aufzuopfern? Wie konnte sie, ohne von irgend einer selbstsüchtigen Leidenschaft verblendet zu sein, im ersten Augenblick, da ein Zweifel hierüber in ihrer Brust aufstieg, sich selbst verbergen, die kindliche Liebe müsse sehr schwach sein, die der Pflicht ein solches Opfer nicht mit Freuden zu bringen vermochte?

Und worin besteht es denn am Ende, dieses schwere Opfer, welches ein gütiger Vater mehr von der Liebe seiner Tochter erwartet, als von ihrer Pflicht fodert ? Wenn die Rede davon wäre, daß sie, wie Andromeda und Psyche, um den Göttern für irgend ein schweres Verbrechen ihrer Erzeuger zu büßen, einem Ungeheuer ausgeliefert werden sollte, so möchte ihr eine Anwandlung von Mitleiden mit sich selbst billig zu verzeihen sein. Aber dem schönen, talentvollen, zu den ersten Würden der Republik geeigneten Leotychus, wäre er auch mit viel größern Fehlern behaftet als du an ihm rügest, zur Gemahlin gegeben zu werden, wird, außer dir selbst, schwerlich jemand für ein großes Unglück halten. Die Fehler, die dich so sehr an ihm beleidigen, würden dir unbedeutend scheinen, wenn du ihn liebtest. Es sind teils Fehler der Jugend, die sich unvermerkt von selbst verlieren, teils ziemlich allgemeine Eigenschaften der Leute seines Standes und der Männer überhaupt. Sie sind weder unheilbar, noch so beschaffen, daß ein Mann, der von andern Seiten schätzenswürdig ist (und das muß er doch sein, da er den Beifall deines Vaters hat), sich um ihrentwillen der Achtung eines tugendhaften Weibes unwert halten sollte: noch viel weniger könnten sie dich verhindern, die heiligen Pflichten der Gattin und Mutter zu erfüllen, und im Bewußtsein sie erfüllt zu haben dich glücklich zu fühlen.

Wenn du deine Lage in diesem Lichte betrachtest, edle Hipparchia, so sehe ich nicht, warum du nicht mit einiger Anwendung der Seelenstärke, die du zu besitzen scheinst, zu der verdienstlichen Entschließung gelangen könntest, den Wünschen deines Vaters nachzugeben, und, um den Preis einer großmütig aufgeopferten Neigung oder Phantasie, das schöne Bewußtsein zu erkaufen, daß die Zufriedenheit seiner alten Tage das Werk deiner Tugend sei.

Den 18ten Skirrophorion.


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