Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XVII.
Hipparchia an Melanippe

Ich habe dir wenig erfreuliches zu berichten, meine Freundin. Mein Vater ist diesen Abend ziemlich spät angekommen. Ich ging ihm mit offnen Armen und klopfendem Herzen entgegen; aber er streckte mich mit einem Blick zurück, dessen Ernst mir durch die Seele ging, und mir das Ansehen einer Verbrecherin in seinen Augen geben mußte. Während ich einige Augenblicke im Boden eingewurzelt stand, eilte er an mir vorbei, und als ich mich zusammenraffte, ihm zu folgen, war er schon aus meinem Gesicht. Bin ich nicht eine Törin? Was für Ursache hatt ich denn seinen Ernst zu fürchten? Hab ich ihn beleidigt? Bediene ich mich nicht bloß meines Rechts? Und kann ich mehr tun, als ihm, falls er meine Wahl mißbilligt, angeloben, daß ich bleiben will wie ich bin?

Aber ich schreibe dir ja, als ob du meinen Brief, den er diesen Morgen durch deinen Verwandten erhielt, schon gelesen hättest? Hier ist er. Ich habe einen Teil der Nacht dazu angewandt diese Abschrift für dich zu machen. Sie ist voller Verkürzungszeichen, aber du wirst sie ohne große Mühe entziffern können.

Sage mir, findest du etwas in diesem Briefe, das einem immer begünstigten Kinde den Zorn eines zärtlichen Vaters zuziehen müßte? Hättest du denken sollen, daß er so stark an dem Sohne seines alten Freundes hinge? Freilich sind sie Stammgenossen; sein schönstes Gut grenzt unmittelbar an eine große Meierei des Chabrias, und vielleicht haben die alten Herren schon ein Plänchen zusammen gerechnet, wie, durch meine Überlassung an Leotychus, aus beiden Gütern ein prächtiges und einträgliches Ganzes werden könnte. Ein so leidenschaftlicher Landwirt, wie mein Vater, verliebt sich leidet in einen solchen Plan: aber ist es billig, daß ich Arme das Opfer davon werde?

Den 17ten Skirrophorion.
 

Mein Vater und Leukonoe haben sich, wie mir Lesbia sagt, schon seit einer Stunde eingeschlossen. Das Mädchen, das so feine Ohren hat wie ein Maulwurf, hörte die alte Dame ziemlich laut krähen, konnte aber nur einzelne Worte aufhaschen, woraus nichts abzunehmen war, als daß von mir die Rede sei.

Aus der ungewöhnlichen Kälte und Trockenheit, womit Leukonoe mir diesen ganzen Tag begegnete, so oft sie nicht vermeiden konnte mit mir zusammenzutreffen, schließe ich, daß sie unser Geheimnis aus der alten Myrto herausgepreßt hat. Nun wird sie mächtig große Augen gemacht haben, wie sie hörte, daß mein Vater alles, und noch mehr als sie ihm sagen konnte, bereits von mir selbst erfahren hatte. Das trotzige unverschämte Mädchen! hör ich sie ausrufen; und, erbittert wie sie auf mich ist, wird sie gewiß nichts vergessen, was ihn noch mehr gegen mich aufbringen kann. – Doch wozu plage ich mich mit solchen Gedanken? Es ist spät; ich habe in der letztern Nacht keine Ruhe gehabt; ich will mich in die Arme des Schlafs legen, und so sanft schlummern, wie es einem guten arglosen Mädchen zukommt, dessen einziges Verbrechen ist, daß sie den ziemlich häßlichen Krates (mit meiner Freundin Melanippe zu reden) dem bildschönen Gecken Leotychus vorzieht.

Den 18ten Skirrophorion.
 

Diesen Morgen, Liebe, habe ich den ersten Sturm glücklich ausgehalten. Leukonoe überfiel mich in meiner Schlafkammer, bevor ich mich völlig angekleidet hatte, was ich seit einiger Zeit immer selbst und ohne Beihülfe verrichte. »So war ich also eine Prophetin, ohne es selbst zu wissen!« fing sie mit ziemlich kreischender Stimme und höhnischem Naserümpfen an; »der schöne Krates also ist es, dem der kahlköpfige bucklichte, plattnasige Leotychus aufgeopfert wird! Eine herrliche Wahl, das muß ich gestehen! Bist du denn verrückt, Mädchen? Und oben drein noch die echt cynische Unverschämtheit, die so etwas dem Vater geradezu gesteht, und mit einer Entschlossenheit, als ob ihm nun weiter nichts übrig sei, als zu einer so tollsinnigen Wahl ja zu sagen!«

In diesem Tone fuhr sie mit einer unglaublichen Behendigkeit der Zunge, während ich mich vollends anzog, eine ganze Weile fort, ohne daß ich Miene machte, sie zu unterbrechen. Endlich währte mirs doch zu lange. Ich trat ganz gelassen, aber ohne die kleinste Spur von der Schüchternheit, die der ehrliche Krates an dem jungfräulichen Knaben Hipparchides bemerkt haben wollte, vor sie hin, und sagte ihr mit der äußersten Kaltblütigkeit: »Wozu dieser Strom von Schmähungen, liebe Tante? Sei so gut und sage mir mit Gelassenheit was du mir zu sagen hast, und ich will dir mit der Achtung antworten, die ich dir schuldig bin.«

Sie machte eine rasche Bewegung mit der Hand, als ob sie mir einen Schlag versetzen wollte, zog sie aber, mit einem, sehr unnötigen, Seitenblick auf meine zur Notwehr ziemlich kräftigen Arme, schnell wieder zurück. »Du solltest meine Tochter sein«, rief sie, »ich wollte dich fühlen lassen, was eine solche Rede verdient!«

»So ist es glücklich für mich, daß ich deine Tochter nicht bin«, erwiderte ich mit einem Ton, als ob ich ihr etwas sehr schmeichelhaftes gesagt hätte.

»Mädchen, Mädchen! Reize mich nicht durch deine herausfodernde Kaltblütigkeit!«

»Das ist ganz und gar nicht meine Absicht, Leukonoe; gerade weil ich dich gern besänftigen möchte, bleibe ich bei Beleidigungen, die ich nicht verdiene, so ruhig. Ich werde nie vergessen, daß du meiner guten Mutter Schwester bist.«

»Erinnere mich nicht an deine Mutter! Wie würde sie sich gegrämt haben, wenn sie eine solche Schmach an ihrer einzigen Tochter hätte erleben müssen? Wohl ihr, daß sie unter der Erde ist!«

»Wollte Gott! sie lebte noch«, rief ich bis zu Tränen gerührt: »Sie würde mir nicht begegnen wie du; sie würde mich anhören –«

»Was ist da anzuhören«, fiel sie mir in die Rede, »wenn die Tochter eines edeln Atheners, wie Lamprokles, sich einem im Lande herumziehenden Thebanischen Bettler an den Hals werfen will?«

»Wie?« fragte ich mit naiver kindisch-lächelnder Verwunderung, »hat dich Krates wirklich angebettelt

So aufgebracht sie war, konnte sie sich doch kaum des Lachens enthalten. Sie wandte sich plötzlich von mir weg, warf sich in einen Armstuhl, hustete ein paarmal, und schien unschlüssig, wie sie es anfangen sollte um mir beizukommen.

Ich fühlte Mitleiden mit der armen Frau: denn es war mir leichter, mich an ihren Platz, als ihr, sich an den meinigen, zu setzen. Ich näherte mich ihr langsam und ehrerbietig, und sagte: »Liebe Tante, denke nicht auf einmal so schlimm von einer Nichte, die du vierundzwanzig Jahre lang liebtest. Wenn du meinen Brief an meinen Vater gelesen hast, so wird dir, hoffe ich, nichts darin aufgestoßen sein, was eine so ungewohnte Strenge rechtfertigen könnte. Ich habe das mir zugestandene Recht ausgeübt, indem ich den Leotychus ausschlug, den ich unmöglich hoch genug achten kann, um sein Weib zu werden. Ich habe einen andern empfohlen, bei dem ich nichts zu wagen glaube, der in meinen Augen alles in sich vereinigt, was ich bei dem Manne finden will, mit welchem ich zu leben wünsche. Glaubt man, ich täusche mich, hält man mich nicht für verständig genug zu wissen, was mir das zuträglichste ist, so hat mein Vater ja das Recht, mir seine Einwilligung zu versagen. Aber wenigstens darf ich doch hoffen, daß man die Gründe für und wider meine Wahl in ruhige Erwägung ziehen werde. Der Mann, gegen den man eifert, ist weder dir, noch meinem Vater näher bekannt. Die öffentliche Meinung von ihm ist noch geteilt: aber das schlimmste, was man ihm nachsagt, ist doch nur, daß er ein Sonderling sei. Man wird sich unvermerkt an seine Sonderlichkeiten gewöhnen, und zuletzt wird über seinen Charakter und innern Wert nur Eine Meinung sein. Da indessen weder etwas unrechtes noch ungereimtes und beispielloses in meinen Wünschen ist, so sehe ich nicht, womit ich die ungütige Behandlung verdient hätte, die ich seit der Rückkunft meines Vaters erfahren: und so hoffe ich, du selbst werdest, nach ruhiger nicht bloß einseitiger Überlegung der Sache, finden, daß eine solche Behandlung kein Mittel ist, ein edles Gemüt zu Änderung seines Sinnes zu bewegen.«

Leukonoe schien, während ich sprach, mit ihren Gedanken anderswo zu sein, und mir nur mit halbem Ohre zuzuhören. Als ich wieder schwieg, stand sie hastig auf und sagte: »Du bist eine Sophistin, Hipparchia! ich verlöre nur meine Zeit, wenn ich mit dir über längst ausgemachte Dinge haberechten wollte. Ich werde mich nicht in deinen abenteuerlichen Liebeshandel mengen, sondern dich deinem Vater überlassen, der nun die schönen Früchte seiner überzärtlichen Nachsicht in reichem Maße erntet.« Mit diesem Worte begab sie sich weg, und ich habe sie den ganzen Tag nicht wieder gesehen.
 

Ich ließ meinen Vater durch mein Mädchen um Erlaubnis bitten, mit ihm zu sprechen. Es wurde mir, unter dem Vorwand daß er keine Zeit habe, abgeschlagen. Ich suchte ihm mehr als einmal im Garten zu begegnen: aber er ging mir immer schon von fern aus dem Wege. Man brachte mir das Essen auf mein Zimmer, und eine Stunde darauf erhielt ich Befehl, mich auf den folgenden Tag zu einer Reise auf unser Gut bei Marathon anzuschicken. Man hält es also für nötig, mich von Athen zu entfernen, und hofft vermutlich durch die Zeit von mir zu erhalten, was man sich auf keinem andern Wege zu bewirken getraut. Was mich bei dieser Versetzung am meisten kränkt, ist nicht, daß ich von Athen, sondern, daß ich weiter von dir entfernt werde. Diesem Ungemach kann indessen abgeholfen werden, wenn du einen zuverlässigen und schnellfüßigen Sklaven hast, dem wir unsere Briefe anvertrauen können. Den gegenwärtigen wirst du noch durch Besorgung deines treueifrigen Verehrers Euthyphron erhalten.

Siehe da den Wolf in der Fabel! So eben steckt mir Lesbia (die nicht weniger als ich selbst auf allen Tritten und Schritten beobachtet wird) die lang erwartete Antwort unsers Philosophen zu, die sie von dem unermüdeten Euthyphron, in einem unbewachten Augenblick, im Flug erhascht hat. Kannst du glauben, daß ich, mit der größten Ungeduld seinen Inhalt zu erfahren, dennoch eine gute halbe Stunde den Mut nicht hatte, das Siegel zu lösen? Mein pochendes Herz erinnerte mich an ein Wort, das ich dir in einem meiner letzten Briefe geschrieben hatte: »am Ende werde die größte Schwierigkeit in der Weisheit des Mannes liegen, mit dem wir es zu tun haben.« Meine Ahnung ist nur zu sehr eingetroffen! Welche Antwort! Welche Strenge! Welche Kälte! Wenn ihm auch nur ein Wort, ein einziges armes Wörtchen, entwischt wäre, woraus sich vermuten ließe, daß er sich Gewalt habe antun müssen, mir mit solcher Härte zu begegnen! Wie eifrig er sichs angelegen sein läßt, mich einem andern in die Arme zu jagen! – Sage, hätte mich eine solche Antwort nicht erbittern sollen? Und mir selbst noch gestehen zu müssen: er hat recht! er konnte mir, ohne seine Grundsätze zu verleugnen, keinen andern Rat geben! – Ich Törin! Warum stellte ich auch meine Frage so? Ich bin an allem selbst schuld! Konnte ich keine bessere Wendung nehmen, um an sein Herz zu kommen? Albernes Ding das ich war! Ich meinte wie gut ich meine Sache gemacht hätte, und nun seh ich klar, daß ich ihn in die Notwendigkeit setzte, mir diese Antwort zu geben, wenn er auch nicht gewollt hätte! Findest du es nicht auch so, Melanippe?

Ich setzte mich sogleich in der ersten Bewegung hin, und antwortete ihm, was mir meine Empfindlichkeit über ihn, und mein Unmut über mich selbst, eingab. Hier schick ich dir eine Abschrift beider Briefe. Den seinigen behalt ich zurück, um ihn so oft zu lesen bis ich mich mit ihm versöhne, oder – stark genug werde seinem Rate zu folgen; den meinigen soll er morgen erhalten, sobald ich abgereist bin.

Ich habe nur mit vieler Mühe erlangen können, daß Lesbia mich begleiten darf. Dafür aber wird mir eine alte hohläugige Sklavin meiner Tante, die, glaub ich, vor funfzig Jahren ihre Amme war, und ihrer Wachsamkeit wegen im Hause berühmt ist, als Aufseherin vermutlich, zugegeben, und zum Überfluß noch ein großer handfester Lümmel von einem Kappadozier, der uns zum Beschützer dienen soll. Lächerlich! Sie bilden sich doch nicht ein, daß ich ihnen davon laufen werde?

Schreibe mir, sobald du kannst, nach Marathon, und sage mir deine Meinung von meinem Briefwechsel mit dem weisen fischblütigen Böotier. Mich dünkt, ich bin nun um vieles ruhiger. Ich mache mir sehr angenehme Vorstellungen davon, wie unsre Göttin ewig Jungfrau zu bleiben. Leotychus wenigstens und meine Tante sollen nicht viel dabei gewinnen, daß Krates mich nicht haben will.

Den 19ten Skirrophorion.


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