Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XIV.
Krates an Diogenes zu Korinth

Hast du jemals, Freund Diogenes, du, der unter Betrachtung und Züchtigung der unermeßlichen Torheiten des Menschengeschlechts eisgrau geworden bist, hast du jemals etwas belachenswürdigers gesehen, gehört oder geträumt, als die Möglichkeit, daß dein Freund Krates, mit seiner ellenbreiten Stirn, seiner Faunennase, und dem kleinen Hügel, den er, unwissend wie oder wann, seinem Rücken aufgepackt hat, und, was die Sache nicht sonderlich bessert, mit seinem Sokratischen Mantel und Diogenischen Knotenstock, und mit einem Einkommen von drei baren Obolen des Tags, töricht genug sein könnte, sich in das schönste Mädchen von Athen zu verlieben? – Wohlan, alter Freund, wie undenkbar dir auch ein solcher Fall vorkommen mag, daß er möglich ist, beweist dein Freund und Jünger Krates mit seiner selbst eigenen Person: denn es ist leider! nichts gewisser, als daß der arme Mann, es sei nun wegen irgend einer schlechtverwahrten Seite seiner Natur, oder durch Antrieb eines über ihn erzürnten Gottes, sich in einer so widersinnigen und natürlicher Weise hoffnungslosen Liebe wirklich verfangen hat.

Du lachst so herzlich, daß mich dünkt, ich höre es von Korinth bis in meiner Hütte. Gut, lache soviel du willst und kannst! ich würde dir selber lachen helfen, wenn die Sache nicht mit einem so tragischen Umstand verbunden wäre, daß der Erztragiker Euripides selbst nie etwas kläglicheres ersonnen hat. Quäle dich nicht mit vergeblichen Versuchen, zu erraten, was für ein unglücklicher Umstand das sein könne: du könntest zehnmal schwerere Rätsel, als das, was die einfältige Sphinx – im Vertrauen auf die weltberühmte Dumpfheit der Böotier – meinem Landsmann Ödipus aufgab, glücklich erraten haben, an diesem würdest du dennoch mit allem deinem Scharfsinn zu Schanden werden.

Wisse also, guter Alter, daß jenes nämliche Mädchen, wie gesagt eines der schönsten, und zugleich der sittsamsten und unbescholtensten in ganz Attika, aus zarter Liebe zu besagtem Krates, und ohne ein Wort davon zu wissen daß sie von ihm geliebt wird, die Hand des schönsten und reichsten aller edelbürtigen Jünglinge von Athen ausgeschlagen hat. Sage mir nun einer, daß nach einem solchen Ereignis noch etwas unmöglich sei! Ich sehe, du starrst mir mit weitoffnen Augen ins Angesicht, und glaubst noch immer nicht, daß ich im Ernst rede. Der Götter- und Menschen-Herrscher Amor hat freilich schon manches unglaubliche Wunder getan: aber von einer so furchtbaren Wirkung seiner Allgewalt über den Verstand und die Sinne der Erdenkinder ist bis itzt noch kein Beispiel gesehen worden. Vernimm dann wie es damit zugegangen, und höre auf dich zu wundern!

Es sind seit den letzten Anthesterien drei bis vier Monate, daß ich unter den Jünglingen, die sich täglich in der Halle oder unter den Platanen des Cynosarges um mich versammeln, ein Paar feine Knaben von siebzehn oder achtzehn Jahren gewahr wurde, die, in ihre Mäntel bis an die Augen eingehüllt, sehr aufmerksam auf meine Reden horchten, und von dieser Zeit an, drei- oder viermal in jeder Dekade sich immer richtig wieder einstellten. Einer von ihnen fiel mir durch seine Schönheit und das Feuer, das aus seinen großen schwarzen Augen blitzte, so stark auf, daß ich mich nach seinem Namen erkundigte. Sein Gefährte, ein hübscher ziemlich dreister Bursche, nahm sogleich das Wort und sagte mir: der Name seines Bruders sei Hipparchides und der seinige Melampus; sie seien Söhne eines Handelsmanns in Sunium, und, von dem Ruf meiner Weisheit angezogen, nach Athen gekommen, um bis zur Wiederkunft ihres Vaters von Rhodus sich hier bei einem Anverwandten aufzuhalten. – Ich habe (gegen das Beispiel unsers Vorgängers und Meisters Sokrates) anstatt, wie er, schöne Knaben aufzusuchen und an mich zu ziehen, mir zum Gesetz gemacht, ihnen so viel möglich aus dem Wege zu gehen. Ich vermied also, auch mit diesen mich näher einzulassen, und das um so mehr, da sie selbst es nicht zu wünschen schienen, und weil ich mich von dem Schönern unter beiden so stark angezogen fühlte, daß ich mir wirklich Gewalt antun mußte, ihn nicht zu oft anzusehen.

Warum der Umstand, daß beide an den gewöhnlichen Leibesübungen der Jünglinge ihres Alters im Gymnasium niemals Anteil nahmen, mir keine Gedanken machte, weiß ich dir nicht zu sagen. Genug, ich gewöhnte mich unvermerkt so sehr daran, die vermeinten Brüder von Sunium unter meinen Zuhörern zu sehen, daß es mir auffiel, als sie sich vom siebenten Thargelion an weder blicken ließen, noch zu erfragen waren. Denke nun, wie mir zumute wurde, da ich gestern einen Brief erhielt, worin der vermeinte Hipparchides sich mir als Hipparchia, die Tochter des Lamprokles, entdeckt, und, nachdem sie den gespielten Betrug durch eine interessante Selbstschilderung zu entschuldigen gesucht hat, mir (warum gerade mir?) die Eröffnung tut, daß sie sich durch einen ihr selbst verhaßten, aber von ihren Verwandten begünstigten Freier in ein Gedräng von streitenden Pflichten gesetzt befinde, woraus sie sich nicht anders zu ziehen wisse, als indem sie mich beschwöre, ihr meinen Rat zu geben. Der fatalste und für mich gefährlichste Umstand bei dieser Entdeckung ist, daß sie mir, zwar mit aller ihrem Geschlecht eigenen Zartheit und Zurückhaltung, aber doch deutlich genug zu verstehen gibt, der Mann, den ihr Herz dem schönen Leotychus vorziehe, sei kein andrer als derselbe, dessen Leitung sie sich anvertrauen will. Damit du mit eignen Augen sehen könnest, ob ich mir hierin zu viel schmeichle, schicke ich dir ihren eigenhändigen Brief, worin du, aus Vorsicht gegen einen möglichen Zufall, bloß die Namen ausgelöscht finden wirst.

Du begreifst nun, alter Freund, daß dieser Handel, der auf den ersten Blick so lächerlich aussieht, ernsthaft genug ist, um zwei weisen Männern wie du und ich zu schaffen zu machen. Indessen kann das, was ich dabei zu tun habe, für mich wenigstens keinen Augenblick zweifelhaft sein. Hätte ich nicht das unglückliche Glück, selbst der Mann zu sein den sie vorzieht; wäre ich bloß ein unparteiischer Dritter, so würde ich die Fragen, die sie mir vorlegt, ohne Bedenken zum Vorteil ihres Herzens entschieden haben. Aber kann ich dies itzt, ohne zugleich ein Tor und ein schlechter Mensch in meinen eignen Augen zu sein? Was wäre die Tugend, wenn sie der ersten Versuchung, in welche sie geführt würde, unterläge? Alles was ich bisher aus Liebe zu ihr aufgeopfert habe, war im Grunde kein Opfer: denn es kostete mich keine Überwindung, es war nichts in meinen Augen. Itzt kommt es darauf an, stark genug zu sein, um den zauberischen Täuschungen einer Neigung zu widerstehen, die mein Herz nicht für Täuschungen erkennen will: gegen eine Neigung zu kämpfen, die meine Vernunft nicht schelten kann; die nichts gegen sich hat, als die hergebrachten Begriffe und Vorurteile der Welt; die unter andern Umständen das Glück meines Lebens machen würde, ja, (wenn anders Hipparchia wirklich so groß und edel ist als sie mir erscheint) uns beide, sogar der Welt und den Umständen zu Trotz, glücklich machen könnte.

Wäre das, was ich für Hipparchia fühle, ein bloßes Werk der Sinne und der Phantasie, so möcht es mir nicht schwer fallen es zu unterdrücken. Aber ich bin mir der Reinheit der Gesinnungen, die diese unfreiwillige Neigung in mir nähren, so innig bewußt; ich bin so gewiß, daß Hipparchia, was sie von mir erwartet, finden, und daß kein anderer sie lieben würde wie ich, kein andrer sie in dem, was sie für ihr höchstes Gut erkennt, in Vervollkommnung ihrer selbst, weniger hindern, mehr befördern würde als ich. Und mit diesem Bewußtsein bin ich genötigt ihr einen Rat zu geben, dem mein Herz widerspricht, den mein Verstand Lügen straft! Rate mir, Freund, wenn du kannst, oder vielmehr bedaure mich: denn was könntest du mir anders raten, als zu tun, was die unerbittliche, unbedingten Gehorsam fodernde Stimme des Gottes in uns mir zu tun gebietet?

Ich schließe diesen in einem ganz andern Ton angefangenen Brief sehr ernsthaft, wie du siehst. Die Gleichmütigkeit, die du einst an mir schätztest, ist – auf einige Zeit wenigstens – dahin. Ich suche mich zu zerstreuen, und, in den Stunden der Einsamkeit und der Nacht, die zauberischen Träume, in welche Phantasie und Herz mich wiegen wollen, dadurch zu verjagen, daß ich sie, und die Leidenschaft, deren Kinder sie sind, in ein lächerliches Licht stelle: aber ich fühle nur zu bald das Unwahre eines solchen Selbstbetrugs. In allen Fällen, wo der eigennützige Trieb mit der Ehre und der Pflicht in Widerspruch steht, bleibt doch immer das Beste, daß man aufrichtig gegen sich selbst sei, sich über seinen wahren Zustand nicht zu verblenden suche, und, sobald der Sitz der Krankheit entdeckt ist, ohne Schonung sich jedem noch so unangenehmen Genesungsmittel unterwerfe. Dies ists, wozu ich fest entschlossen bin. Ich werde mir so lange sagen, Hipparchia kann nie die Deinige sein, bis ich es mir selbst glaube. Ich will sie nie wieder sehen, mein Geheimnis in meiner Brust verschließen, und durch den strengen Rat, den ich ihr geben werde, alle Hoffnung niederschlagen, daß ich das ihrige erraten haben könnte.

Den 12ten Skirrophorion.


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