Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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X.
Hipparchia an Melanippe

Wer hätte je gedacht, daß die rüstigen und kernhaften AcharnerinnenNicht nur die Esel, sondern auch die Menschen in dem Kanton Acharnä waren als ein derber Schlag berühmt, wie aus des Aristophanes Acharnern zu ersehen ist. sich mit so spitzfindigen Untersuchungen in ihren Kränzchen unterhielten? Du bist ein schelmisches Mädchen, Melanippe, aber ich verzeihe dir um der Erfindung willen, und zum Beweis, daß es mir von Herzen geht, will ich dir alles gestehen – was du schon lange weißt, nämlich: daß du eine eben so schlechte Meisterin in der Kunst, ein Herzensgeheimnis auszufinden, als ich, es zu verbergen, sein müßtest, wenn du nicht durch den dünnen Schleier, unter welchem ich, wie ein verschämtes Kind, recht gut versteckt zu sein glaubte, bis auf den Grund meines Herzens geschaut, und so viel gesehen hättest, daß ich dir nichts Neues mehr zu entdecken habe.

Es ist also nur zu wahr, daß ich die von dir behauptete große Wahrheit, »ein leidlich hübsches, wohl erzogenes und ziemlich reiches Mädchen könne sich in einen ziemlich häßlichen Mann in ganzem Ernst verlieben«, stark genug mit meiner eigenen Person beweise, um dich jeder andern Demonstration zu überheben. – Aber ist denn der Mann wirklich so häßlich, als du ihn zu finden vorgibst? Ich gestehe gern, daß ihn kein Bildhauer zum Modell eines Hyacinthus oder Nireus,

– des schönsten der Männer, die gegen Ilion zogen,

nehmen wird; auch ist nicht zu leugnen, daß eine seiner Schultern etwas zu hoch, seine Haare etwas zu dünn, und seine Ohren vielleicht ein wenig zu spitzig sind; daß sein Mund kleiner und seine Nase höher sein könnte, kurz, daß er dem Sokrates (dessen Bildsäule du im Pompeion oft gesehen haben wirst) nicht nur sehr ähnlich sieht, sondern in der Tat (ohne den Hängebauch des Gemahls der edeln Xanthippe mit in Anschlag zu bringen) eher für den schönern Mann von beiden gelten kann. Wenn nun sogar Sokrates in einer großen Gesellschaft sich mit dem schönen Kritobulus in einen Wettstreit um den Preis der SchönheitDieser scherzhafte Streit ist hoffentlich aus Xenophons Gastmahl (im Attischen Museum von mir übersetzt) bekannt genug. einlassen durfte: was für ein eitles Ding müßte Hipparchia sein, wenn sie sich zu schön für einen Mann hielte, der es wenigstens mit dem schönen Sokrates aufnehmen kann? Ernsthaft zu reden, wirst du mir einräumen müssen, daß seine Augen Geist und Feuer haben, und daß etwas sehr feines und angenehmes in seinem Lächeln ist.

Aber was bedeutet das Äußerliche, wenn von einem der edelsten, weisesten und besten aller Sterblichen die Rede ist? Du, z. B. die du seinen Geist, seine Tugenden und die Anmut seines Umgangs kennst, mußt du nicht, ohne in ihn verliebt zu sein, gestehen, daß es keinen liebenswürdigern Mann von dieser Seite gibt? Ich hoffe, du nimmst mir nicht übel, daß ich keinen ausnehme. Denn unstreitig ist in der wahren, eigentlich so genannten Liebe, insofern sie von bloßem Wohlwollen, und selbst von der Freundschaft im höchsten Sinn, verschieden ist, etwas Magisches, Unerklärbares, Übersinnliches, das nicht unter die gewöhnlichen Verhältnisse von Ursach und Wirkung gebracht werden kann, und worüber der Liebende nicht einmal sich selbst Rechenschaft zu geben weiß, geschweige, daß er andern welche schuldig wäre. Diesen kann daran genügen, wenn der Gegenstand unsrer Liebe der allgemeinen Achtung würdig ist: daß er auch ihnen so liebenswürdig vorkomme als uns, können sie nicht fordern, noch uns wegen dessen, was wir mehr für ihn fühlen als sie, ohne Unbilligkeit tadeln.

Du gibst mir zu verstehen, kleine Spötterin, als ob ich dir nur darum ein Geheimnis aus meiner Liebe gemacht hätte, weil ich mir nicht einmal getraue, sie mir selbst zu gestehen. Wenn du das mit einem schalkhaften Seitenblick auf meinen Freund sagst, so irrest du dich gewaltig. Bist du denn nicht selbst ein Mädchen? Weißt du nicht aus Erfahrung, daß es mit der Liebe, wie mit dem Fieber ist, wovon man den Stoff ziemlich lange mit sich herumtragen, wovon man sogar die ersten Wirkungen schon verspüren kann, ohne die Ursache zu wissen, oder ihr ihren rechten Namen geben zu können? Das Wahre an der Sache ist, daß ich die eigentliche Natur meiner Neigung selbst nicht eher zu erraten anfing, als bis mir Leukonoe den schönen Leotychus antrug. Da erst wurde mir auf einmal klar, daß es einen Mann gebe, mit dem ich, trotz seiner anerkannten Häßlichkeit, lieber leben möchte, als mit dem schönsten Jüngling in Athen: und ich schwöre dir bei den Grazien, von diesem Augenblick an war alles bei mir entschieden. Aber warum hätte ich eilen sollen, von einer Neigung mit dir zu reden, die nicht nur den Absichten meiner Familie entgegen, sondern dem Gegenstande derselben selbst noch unbekannt ist, und vielleicht nie erwidert wird? Was sage ich vielleicht? Ist es nicht mehr als wahrscheinlich, daß ein so weiser, sich selbst so streng beherrschender, über die Gewalt der Leidenschaften so hoch erhabener Mann, wenn ihm auch meine Parteilichkeit für ihn bekannt wäre, nur zu viele Beweggründe finden würde, sich nicht mit mir einzulassen? Bei dieser Lage der Sachen wirst du dich mit mir freuen, daß mich die Natur, zu aller Beharrlichkeit, die ich in mir finde, noch mit einem reichlichen Anteil Sanftmut und Geduld ausgestattet hat, (eine Andere, die mich weniger kennte als du, würde es vielleicht Unempfindlichkeit und Kälte nennen) die mein Inneres so ziemlich im Gleichgewicht erhalten, und mir Besonnenheit genug lassen, keinen falschen Schritt zu tun, und mich immer auf beide Fälle gefaßt zu halten.

Nichts ist gewisser, als daß mich ganz Athen für verrückt halten wird, wenn ich je so glücklich sein sollte, das Ziel meiner Wünsche zu erreichen, und es dann bekannt wird, daß ich einen Mann, an dem der große Haufe nichts sieht als was in die Augen fällt, und der selbst in der Meinung der Meisten, die sich an seinem Umgang ergetzen, doch nur ein Schwärmer und Sonderling ist, einem Leotychus vorzuziehen fähig war. Auch über diesen Punkt kennst du mich genug, um mir zuzutrauen, daß ich auf das alles gefaßt bin, und Mut genug habe, in einer Sache, wo mein Herz mit meinem Kopf einverstanden ist, den Urteilen der Menge die Stirn zu bieten. Wäre ich hundert Jahre früher in die Welt gekommen, so hätte ich, vermöge eben derselben Gesinnungen, den Sokrates, trotz seiner Silenengestalt, dem schönen allbewunderten Alcibiades vorgezogen.

Wollte Gott! wir wären nur schon so weit, daß die gerümpften Näschen meiner Gespielinnen und die Epigrammen unserer witzelnden Gecken das Schlimmste wären, was ich zu befürchten hätte! Wie mutvoll ich bin, wenn es darauf ankommt, den Spott der Toren zu verachten, so zaghaft fühl ich mich bei dem bloßen Gedanken, die Erwartungen meines guten Vaters zu täuschen, und seiner Liebe zu mir eine schmerzliche Nachgiebigkeit auf Kosten seiner Zufriedenheit abzudrängen. Wenn aber auch mein Vater, ohne sich gar zu große Gewalt anzutun, meine Wünsche begünstigen könnte, darf ich hoffen, das größte Hindernis überstiegen zu haben?

Und nun sage mir, Melanippe, wenn du an allen den ungeheuren Bergen, die zwischen mir und dem Glück meines Lebens liegen, hinaufschaust, kannst du mirs verdenken, daß ich nicht offenherziger gegen dich war? Ich, die ich noch in diesem Augenblick vor meinen eignen Wünschen erschrecke, und mir kaum selbst gestehen darf, daß es für mich nur eine einzige Art glücklich zu sein gibt. Was für ein Mädchen müßte das sein, die der Gedanke ohne Gegenliebe zu lieben nicht in die Erde sinken machte? Wüßt ich gewiß, daß mir eine solche Schmach bevorstünde, ich würde auf der Stelle, wie die Kreusen und Helenen des Euripides, mit mir zu Rate gehen, welches das edelste Mittel aus der Welt zu kommen sei,

– Gift, Eisen, oder Strick?

Doch, zu einem so tragischen Ende bin ich hoffentlich nicht bestimmt. Ein Mann müßte (mit dem Dichter zu reden) den Drachen von Kolchis zum Vater, und einen Felsen des Kaukasus zur Mutter gehabt haben, wenn er ein ehrliches hübsches Mädchen, das ihm von Liebe überwältigt um den Hals fiele, und ihn mit gerungnen Armen und heißen Tränen beschwüre, sie zu heiraten, mit kaltblütiger Grausamkeit zurückstoßen könnte! Wundre dich nicht, Liebe, daß ich in meiner traurigen Lage noch scherzen kann. Man sagt, es gibt Leute, auf welche Schmerz und Lust gerade umgekehrt wirken: sie werden traurig, wo andre fröhlich sind, und scheinen nie fröhlicher, als wenn sie sich lieber hängen möchten. Wie das zugeht, laß dir von einem andern erklären; ich bin heute gar nicht zum Grübeln aufgelegt.

Den 4ten Skirrophorion.
 

Wir sind schon wieder von Leukonoe eingeladen worden, und es hat, wie du vermuten wirst, eine zweite Zusammenkunft Statt gehabt. Leotychus hatte sich ungewöhnlich herausgeputzt, und durchbalsamte den Garten mit einem ganzen Arabien von Wohlgerüchen – die mir unglücklicher Weise zuwider sind. Er fand mich, abermals von ungefähr, auf einer Bank des kleinen Lorbeerwäldchens, in Gesellschaft meiner Cyperkatze. Um die gehörige Gradation zu beobachten, sagte er zuerst der Katze und dann mir die artigsten Sachen von der Welt. Da ich ihm scherzend antwortete, rückte er mir unvermerkt näher, und sprach, in sehr lyrischen Ausdrücken und mit großer Zuversicht auf seine eignen Reize, von der mächtigen Wirkung der meinigen auf sein zartes Herz. Um seine Aufmerksamkeit auf einen gleichgültigern Gegenstand zu lenken, zeigte ich ihm die Katze, die, beinah in eine Kugel zusammen gezogen, hinter einem Busch auf ein Vögelchen lauerte, das unbesorgt umherhüpfte, und, hie und da ein Körnchen aufpickend, unvermerkt dem Busche näher kam. Auf einmal brach die Katze aus ihrem Hinterhalt hervor, und über das arme Vögelchen her. Ich schrie laut auf, weil ich es schon zwischen ihren Zähnen glaubte, als wir es noch glücklich mit Verlust einiger Federn davon flattern sahen. Leotychus lachte, vermutlich über den allegorischen Sinn dieser kleinen Begebenheit. »Grausamer Mensch«, rief ich; »was wäre nun aus dem armen Dinge geworden, wenn ihm die Natur nicht zu gutem Glück Flügel gegeben hätte?« – »Du, reizende Hipparchia«, sagte er, »du bemitleidest den Vogel, dem, ein paar verlorne Federn abgerechnet, kein Leid geschah; mich dauert vielmehr die arme Katze, die mit angestrengter Aufmerksamkeit und unverwandtem Blicke so geduldig auf ihren Raub lauerte, und im Nu, da sie ihn erschnappt zu haben glaubt, mit leeren Kinnbacken mißmutig davon schleichen muß.« »Jedes nimmt Anteil an seinesgleichen«, versetzte ich lächelnd; »hoffentlich hat die Natur, die so mütterlich für die Sicherheit ihrer geringsten Geschöpfe sorgte und sie alle mit Waffen gegen ihre Feinde versah, auch uns arme Mädchen nicht vergessen –« »Darauf«, fiel er ein, »gab der alte Vater Anakreon schon die Antwort:

Dem Weibe gab sie Schönheit

»Das mag eine ganz gute Waffe zum Angriff sein«, erwiderte ich; »aber zur Verteidigung?« – »Wozu«, rief er, »sollten die Schönen diese nötig haben, da die Natur sie doch einmal bestimmt hat, sich überwinden zu lassen?«

Mit diesen Worten warf er sich mir zu Füßen, und beschwor mich, die zärtliche Leidenschaft nicht länger zu verkennen, die ihn auf ewig zu meinem Leibeigenen machen werde. Seinen Bitten einen desto größern Nachdruck zu geben, wollte er eben meine Knie umarmen, als ich plötzlich aufstand, und ihn weggehend mit der kaltblütigsten Ruhe versicherte, wir hätten uns zum letztenmal allein gesehen.

Was sagst du zu dieser kleinen Szene, Melanippe? Ich gestehe, sie macht mir großes Vergnügen; denn ich kann nicht zweifeln, er spielte sie wohlbedächtlich, und verspricht sich nichts geringeres davon, als den Ehestandsfesseln, die ihm seine Familie anlegen will, diesmal glücklich entgangen zu sein. An mir soll es wenigstens nicht liegen, wenn ihm seine Hoffnung fehl schlägt.

Ich ermangelte nicht, den ganzen Hergang meinem Vater, während unsrer Rückkehr nach Athen, umständlich, nur vielleicht mit zu vieler Hitze, mitzuteilen. Er billigte mein Betragen, wiewohl er den jungen Herrn damit zu entschuldigen suchte, daß er keinen Begriff davon habe, wie seine Hand von irgend einer Attischen Jungfrau ausgeschlagen werden könnte. »Und ich selbst«, setzte mein Vater hinzu, »begreife eben so wenig, was du gegen den jungen Mann haben kannst, den jede andere deinesgleichen zu besitzen sich glücklich schätzen würde; sie müßte denn nur gänzlich für einen andern eingenommen sein, was bei dir nicht der Fall sein kann.« – Was konnt ich antworten? Ich seufzte und schwieg. Mein Vater sah mir bedenklich in die Augen, wiegte seinen Kopf, und schwieg ebenfalls. Er bezeigte sich zwar noch eben so gütig gegen mich als zuvor; aber das Gespräch blieb einsilbig, und ich zog mich sobald als möglich in meine Schlafkammer zurück. Mir ist zumut, wie wenn ein schweres Gewitter am Himmel steht. Mein Herz wird mich hoffentlich nie verlassen: aber ich kann mich dennoch nicht erwehren, ein wenig zu zittern.

Ich warte mit Schmerzen auf einen Brief von dir; mein Herz sagt mir, daß du – mir etwas zu berichten habest. Was ich in mir selbst erfahre, bekräftigt mich täglich mehr in dem Glauben, daß etwas Magisches in der Liebe ist, das alle Springfedern unsers Wesens stärker spannt, und neue Sinne in uns entwickelt, die ohne sie vielleicht nie erwacht wären. Mir ist, als ob ich jedem Menschen, der sich mir nähert, bis auf den Grund der Seele sähe. Ich versichere dich, einige gewinnen nicht viel dabei.
 

So eben erfahre ich von meiner Lesbia, daß Leotychus große Klagen über mich bei meiner Tante geführt hat. Mein letztes Betragen gegen ihn sei ihm unbegreiflich; entweder müsse eine lächerliche Prüderie, oder eine entschiedene Verachtung seiner Person dabei zum Grunde liegen: das eine sei so unerklärbar als das andere; er fühle sich aber von beidem wenig aufgemuntert, seine Bewerbung fortzusetzen. Leukonoe habe alle ihre Beredsamkeit aufgeboten, mich in ein günstigeres Licht bei ihm zu stellen, und ihn ermahnt, mehr Beharrlichkeit und mehr Nachsicht gegen das jungfräuliche Zartgefühl ihrer Nichte zu zeigen, ohne welches sie ja der Ehre, seine Gattin zu werden, unwert wäre. Unter anderm habe Leotychus gesagt: er könne kaum zweifeln, daß er einen mehr begünstigten Nebenbuhler habe, und da es kein geringerer sein könne als ein Gott, so sehe er nicht, was ihm

eine längere Beharrlichkeit helfen sollte. Leukonoe habe ihn dieses tollen Einfalls wegen erst ausgelacht, und dann tüchtig ausgescholten; er habe zuletzt selbst darüber gelacht, und sie hätten sich, dem Anschein nach, als gute Freunde getrennt. – Alles dies hat meine kleine Lesbia mit der Gewandtheit, die ihren Landsmänninnen eigen ist, aus der alten Droso, der vertrautesten Sklavin meiner Tante, herausgefischt. Ich sehe daraus, daß ich die Wirkung, die mein Betragen auf Leotychus tun würde, richtig geahnet habe. Aber was sagst du zu dem bescheidenen Jüngling, der sich einbildet, das Mädchen, das ihm widerstehen könne, müsse nur einen Gott zum Liebhaber gewonnen haben? – Am Ende hat der Mensch so unrecht nicht. Gegen ihn ist Krates in der Tat in meinen Augen ein Gott.

Den 7ten Skirrophorion. (Juni.)


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