Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XXVI.
Hipparchia an Krates

Wir sind einander auf einem seltsamen Wege begegnet, bester Krates; aber da wir uns nun einmal begegnen sollten, warum wollten wir nicht, so lange als möglich, munter und traulich mit einander fort stapfen? Unsre Gesinnungen, unser Schicksal, unser Anliegen, alles hat so viel Ähnlichkeit, daß ich fest glaube, wir mußten einander zu unserm wechselseitigen Troste finden. Es scheint wunderlich, aber dein Beispiel macht mir Mut, und ich denke das meinige sollte bei dir dieselbe Wirkung tun. Warum wollten wir der Hoffnung entsagen? Mein Vater, wenn er meine Beharrlichkeit sieht, wird nicht unerbittlich bleiben; und auf der andern Seite, wie sollte ein Mann wie du unübersteigliche Schwierigkeiten finden?

Verzeihe indessen deiner Schülerin und Freundin, daß sie ungeduldig ist, die Glückliche, die du allen andern vorziehst, kennen zu lernen. Wenn sie sich mir entdecken wollte, wer weiß ob ich nicht Mittel fände, euch zu dienen? Wenn du liebst, so wirst du unfehlbar wieder geliebt, und wer wollte sich da nicht eine Pflicht daraus machen, die Zufriedenheit eines solchen Paars zu befördern? Ich hoffe, du wirst dir aus meiner Zurückhaltung keinen Beweggrund machen, auch gegen mich zurückhaltend zu sein. Geziemt in solchen Fällen einem Mädchen nicht Schüchternheit? Aber zu dir hat mein Vertrauen keine Grenzen, und sobald du mir den Namen deiner Geliebten entdeckst, sollst du auch unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfahren – Doch nein! zu viel will ich nicht versprechen. Mein Geheimnis gehört nicht mir allein: es ist in der Gewalt meines Freundes, und nur wenn ich seine Einwilligung erhalte, darf und soll Krates in Hipparchiens innerster Seele lesen.

Den 12ten Hekatombäon.


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