Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XXV.
Melanippe an Hipparchia

Daß man die Liebe mit einer Binde um die Augen malt, ist eine bekannte Sache: aber, daß sie auch ein Mädchen mit so hellen Junonsaugen und einem so klaren Verstand, wie meine Freundin, blind, stock- und starrblind machen könne, hatte ich erst noch zu lernen. Wie? Du merkst wirklich nichts? Greifst nicht mit Händen, daß der ungenannte Gegenstand seiner zarten Liebe keine andere ist als Hipparchia, Lamprokles Tochter, eine Dame, an welche freilich ein Mann wie der bescheidenstolze Krates vernünftiger Weise keinen Anspruch machen kann; zumal da sie von ihrem vornehmen und reichen Vater bereits an den vornehmen, reichen, und obendrein schönen Leotychus versagt ist. Gute, weise, scharfsinnige Hipparchia, siehst du denn nicht, daß der feinste aller Attischen Köpfe keine feinere Art, dir eine verdeckte Liebeserklärung zu tun, hätte ersinnen können als eben diese?

Stille also deinen Schmerz, liebe Seele, und gib den Gedanken, die dich um nichts und wieder nichts quälen, nicht länger Gehör! – Du wirst sagen, meine Erklärung sei aufs höchste eine bloße Hypothese. Laß es sein was du willst, und antworte ihm nur, als ob meine Hypothese die einzig wahre wäre, d. i. als ob du ihn zwar nicht verstehen wolltest, aber sehr gut verstanden hättest; und du wirst sehen, es tut Wirkung.

Du hast vermutlich schon erfahren, daß dein Bruder Metrokles von seiner langen Reise endlich zurückgekommen ist. Mich verlangt zu sehen, was für schöne Sachen er uns von Karthago und Syrakus mitgebracht hat. Aber noch ungeduldiger bin ich, was er zu dem Heiratsantrag des alten Chabrias sagen wird. Leotychus und er haben sich, wie ich höre, von der Schule her nicht recht leiden können. Das ist Wasser auf unsere Mühle, Hipparchia!

Meine Mutter kam dieser Tagen auf den Einfall, Leotychus, weil du ihn doch nicht haben wolltest, wäre so ein Mann für mich. Euthyphron, meinte sie, sei wohl ein guter Mensch; aber nun, da ich eine der besten Partien in der Stadt geworden, sei er nicht mehr reich genug für ihre einzige Tochter. »Liebe Mutter«, sagte ich, »du bist sonst eine treffliche Rechnerin, aber diesmal rechnest du nicht gut. Legen wir ihm das, was er itzt zu wenig für mich hat, von dem, was ich zu viel für ihn habe, zu, so ist das Gleichgewicht wieder gestellt.« Sie nannte mich einen Kindskopf; aber ich fiel ihr um den Hals und liebkosete ihr so lange, bis sie mir ihr Wort gab, der erste Gamelion sollte unser Hochzeittag sein. Wär es nicht abscheulich, wenn der arme dienstfertige Vetter für all sein Laufen und Rennen und Spionieren und Briefchenbestellen, am Ende mit einem kahlen Schöndank! abgefunden worden wäre? Aber bis wir uns zu Athen wiedersehen, soll er seinen Botenlohn noch redlich verdienen!

Den 7ten Hekatombäon.


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