Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XII.
Hipparchia an Melanippe

Damit du wissest, wie ich gegenwärtig mit Leukonoe stehe, liebste Freundin, laß dir eine kleine Unterredung erzählen, die seit ihrer Zurückkunft aus Munychia zwischen uns vorgefallen. Daß sie nicht sonderlich mit mir zufrieden sei, verriet die ziemlich sichtbare Gewalt, die sie sich antun mußte, meine freundliche Bewillkommnung nicht ganz unfreundlich anzunehmen. Sie fand, oder machte sich vielmehr sogleich im ganzen Hause so vielerlei zu tun, daß ihr keine Zeit übrig blieb, sich mit mir abzugeben. Aber diesen Morgen ließ sie mich rufen, und, nach etlichen einsilbigen Fragen und Antworten, begannen folgendes Gespräch zwischen uns.

Leukonoe. Du hast nun den Sohn des Chabrias gesehen und gesprochen, Hipparchia, wie gefällt er dir?

Hipparchia. Er würde mir vielleicht besser gefallen haben, wenn er sich selbst weniger gefiele.

Leukonoe. Das ist eine deiner Grillen – bloßes Vorurteil! Leotychus ist ein junger Mann von sehr feiner Lebensart, und weiß sich gegen unser Geschlecht sehr gut zu benehmen.

Hipparchia. Vermutlich gegen den ehrwürdigern Teil desselben, Mütter, Großmütter und Tanten; dagegen scheint er sein Betragen gegen die Töchter, Enkelinnen und Nichten in der Schule der schönen Lycänion und ihrer Zunftgenossinnen gelernt zu haben.

Leukonoe. Das tönt ja beinahe wie Eifersucht, Hipparchia? Ich nehme es für ein gutes Anzeichen.

Hipparchia. Ich bitte dich, liebe Tante, gib meinen Worten keine so feine Deutung. Ich rede geradezu, wie ich denke.

Leukonoe. Es ist unmöglich, daß er sich gegen dich vergessen haben könnte.

Hipparchia. Er mag sich einbilden, sehr artig gewesen zu sein. Ich halte die Bescheidenheit für eine Tugend, die dem andern Geschlechte nicht weniger geziemt, als dem unsrigen.

Leukonoe. Unstreitig. Dagegen ist eine unzeitige Sprödigkeit weder eine Tugend, noch eine Grazie an einer Jungfrau, um deren Hand sich ein Jüngling bewirbt, der sich zutrauen darf, daß er ihrer in jeder Betrachtung würdig sei.

Hipparchia. Leotychus scheint in der Tat dieses Zutrauen in einem hohen Grad zu besitzen.

Leukonoe. Und du scheinst auf eine seltsame Weise gegen den jungen Mann eingenommen. Was in aller Welt kannst du gegen ihn einzuwenden haben?

Hipparchia. O sehr viel, liebe Tante! Zum Beispiel, daß er gar zu schön für mich ist.

Leukonoe. Ein Fehler von einer ganz neuen Art, das muß ich gestehen! Aber keinen unzeitigen Scherz, Mädchen, wenn ich bitten darf.

Hipparchia. Es ist mein ganzer Ernst. Er ist zu schön für mich, oder ich bin nicht schön genug für ihn, wie du willst. Ich werde nie einen Mann nehmen, der nicht in diesem Stück so weit unter mir ist, daß er sich nicht einbilden kann, ich habe mich durch sein Äußerliches verführen lassen.

Leukonoe. Wenn dies ist, so weiß ich dir keinen bessern Rat, als den bucklichten Krates zu heiraten, der sich gewiß nie einfallen lassen wird, dir den Vorzug der Schönheit streitig zu machen.

Es war ein Glück für mich, daß sie vermutlich eher alles andere für möglich hielt, als daß mich diese Spottrede so nahe angehe; sonst hätte sie mir gewiß dabei ins Gesicht gesehen, und möchte die plötzliche Glut, womit es sich überzog, leicht für etwas anders gehalten haben, als Ausdruck meines Unwillens über ihre verächtliche Art, von einer Person zu sprechen, die ich hochachte. Indessen konnt ich mich doch nicht enthalten, ihr zu sagen: daß ich eher diesen Krates, trotz seiner wenigen Ansprüche an Schönheit, heiraten würde, als den einbildischen Leotychus mit allen seinen Reizen.

»Soll ich diese Erklärung deinem Vater bringen?« sagte sie mit verbißnem Grimm. Ich beschwor sie, nicht auf mich zu zürnen, und meinen Widerstand bloß als einen Beweis anzusehen, daß die erwartete Nachgiebigkeit nicht in meiner Gewalt sei. »Ich kann«, fuhr ich fort, »meinem Willen nicht gegen meine Überzeugung gebieten, und wen geht die Sache näher an als mich? Ich will zugeben, es sei nicht unmöglich, daß ich mit Leotychus, wo nicht glücklich, wenigstens erträglich leben könnte. Da aber das Gegenteil eben so leicht möglich ist, sollte wohl ein liebender Vater die Glückseligkeit seines Kindes auf eine so schwankende Spitze stellen wollen?«

Leukonoe schwieg eine Weile, als ob sie mit ihren Gedanken zu Rate gehe. Auf einmal schien sie etwas sagen zu wollen. »Unmöglich« – rief sie aus und hielt plötzlich wieder ein, ohne sich auf meine Frage, was unmöglich sei, zu erklären. Ich bat sie, indem ich mich auf ihren Wink entfernte, sie möchte mir wenigstens Zeit lassen, meine Abneigung gegen Leotychus zu bekämpfen; aber sie kehrte mir den Rücken zu, und ich zog mich zurück, ohne einen neuen Versuch, sie zu besänftigen, über mich gewinnen zu können. Ich zweifle nicht, daß sie eine geheime Neigung bei mir argwohnt, und sich alle Mühe geben wird, ihr auf die Spur zu kommen. Dieser Umstand, und was du mir von den Äußerungen des Krates gegen deinen Verwandten schreibst, bestimmt mich, einen Schritt vorwärts zu tun, der über lang oder kurz doch getan werden müßte. Es ist gewiß, daß der Mensch seinem Schicksal nicht entgehen kann: aber es ist nicht weniger gewiß, daß er selbst das Hauptwerkzeug seines Schicksals ist, oder mit andern Worten, daß er durch seine mitwirkende Tätigkeit das Werk seines guten oder bösen Dämons fördern oder hindern kann.

Ich bin in einer wahren Klemme, liebste Melanippe, aber mir wird leichter ums Herz werden, wenn ich den Schritt erst getan habe, zu welchem mich einer der besagten Dämonen antreibt. Sobald ich den Erfolg weiß, sollst du mehr davon erfahren. Verdopple indessen deine Aufmerksamkeit auf meine Tante; belaure durch deinen Freund Euthyphron alle ihre Bewegungen, und sage ihm, daß er sich meiner Lesbia sicher anvertrauen könne, so oft er mir etwas mitzuteilen hat. Die sonderbare Lage, worin ich mich befinde, hat mich endlich genötigt, ihr unser Geheimnis zu entdecken; soviel nämlich, als sie zu wissen braucht, um zu glauben, daß ich von ihrer Anhänglichkeit überzeugt bin, und nichts geheimes vor ihr habe.

Den 10ten Skirrophorion.


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