Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XXXIII.
Hipparchia an Melanippe

Eine so junge und reiche Braut, wie meine Melanippe, hat in und außer ihrem Gynäceon so viel zu tun, daß es unbescheiden wäre, wenn ich, seit mein Bruder angekommen ist, und sich unmittelbar mit meinen Angelegenheiten beladen hat, sie zu oft mit meinen Briefen stören wollte: zumal da die Freundschaft, die sich zwischen Metrokles und deinem Euthyphron angesponnen hat, dir fast täglich Gelegenheit verschafft, zu erfahren, wie es deiner Hipparchia ergeht.

Aber heute kann ich mirs nicht versagen, die Freude, womit ich gestern überrascht wurde, unmittelbar mit dir zu teilen. Denke, wie groß sie sein mußte, indem ich zu einer Zeit, da ich von meinem Vater beinahe vergessen zu sein glaubte, ihn unvermutet auf dem Marathonischen Gute (wo ich mich noch aufhalte) anlangen und mit offnen Armen auf mich zugehen sah!

Der Tag, den wir mit einander zubrachten, war einer der glücklichsten meines Lebens. Ich begleitete ihn mit raschen Schritten bei dem Besuch, den er den Wohnungen der Menschen und Tiere, den Gärten, Feldern und Gehölzen machte, und er schien über meine Verwandlung in eine rüstige Landwirtin, über meine Sonnenfarbe, meine etwas bräunlichen Arme, und meinen schlichten Anzug noch mehr vergnügt als verwundert. Auch mit der Aufsicht über die Wirtschaft, die ich seit einigen Wochen auf seinen Befehl übernommen, bezeugte er sich zufrieden. Kurz, er schien muntrer, als ich ihn seit mehrern Jahren gesehen habe. Nur von Krates war mit keinem Worte die Rede – und da mein Bruder nicht von seiner Seite kam, so fand sich auch keine Gelegenheit, mich nach ihm zu erkundigen. Diesen Morgen sind sie wieder nach dem andern Gut abgegangen. Mein Vater sagte mir beim Abschied, er würde mich in kurzem dahin abholen lassen, und Metrokles erhaschte noch einen Augenblick, um mir ins Ohr zu flüstern, daß ich unsern Freund dort sehen würde. Aus allem diesem hoffe ich den Schluß ziehen zu können, daß eine fröhliche Entwicklung meines Schicksals nah' ist; wenn anders – doch ich will mir die Freude über die wiedergefundene Liebe meines guten Vaters nicht mit düstern Einbildungen verkümmern.

Lebe wohl, Melanippe, und gib unserm ehemaligen Briefträger, dem gutherzigsten und gefälligsten aller Sterblichen, in meinem Namen so viel Küsse als Grazien sind.

Den 18ten Metageition.


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