Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XVI.
Hipparchia an Lamprokles

Zu wem soll ein bedrängtes Kind seine Zuflucht nehmen als zu seinem Vater? Wem soll es sein Herz getroster aufschließen? Wem, selbst dann, wenn es ihm einen Fehltritt zu bekennen hat, eher Nachsicht und Verzeihung zutrauen, als einem gütigen Vater?

Diese Überzeugung gibt mir den Mut, schriftlich zu wagen, was ich mündlich, ohne allzugroße Verwirrung, nicht zu tun vermöchte, und dir, lieber Vater, einen unvorsichtigen Schritt, eine Torheit (wie du es vielleicht nennen wirst) zu offenbaren, die deine Hipparchia begangen hat, indem sie, durch den großen Ruf des weisen Krates, und das Beispiel einer ehmaligen edlen Schülerin der Akademie verleitet, sich mit einer Freundin, in der Kleidung eines Jünglings, heimlich und unerkannt unter die Zuhörer desselben stahl, und dadurch den unschätzbaren Vorteil gewann, den Mann zu hören, den seine Freunde, mit großem Recht, denke ich, den zweiten Sokrates nennen. Wenn ich dadurch nicht besser worden bin, so liegt die Schuld weder an seinen Lehren, noch an dem großen Beispiel, das er unsrer tugendarmen Zeit von dem, was Liebe zur Weisheit über eine schöne Seele vermag, gegeben hat. Ich bin gewiß, bester Vater, wenn du den Mann kenntest, von dem ich dieses sage, du würdest ihn deiner ganzen Achtung würdig finden. Daß die Urteile des großen Haufens ihm nicht günstig sind; daß er, edel und reich geboren, eine von den Meisten verachtete Armut freiwillig erwählt hat, um sich einzig demjenigen zu widmen, was er für den höchsten Adel und das reinste Glück des Menschen hält: wirst du – einst einer der treuesten Freunde des tugendhaften Phocions – ihm gewiß so wenig zum Vorwurf machen, als daß die Natur die Schönheit seines Geistes in ein unscheinbares Äußerliches gehüllt hat.

Ich muß mit Beschämung gestehen, dies alles rechtfertigt den großen Fehltritt nicht, daß ich ohne dein Vorwissen etwas gewagt habe, was mich, wenn ich zufälliger Weise entdeckt worden wäre, zu einem Ziel öffentlichen Tadels und Spottes gemacht, und einen Teil meiner Schmach auf dich selbst geworfen hätte: doch deine Verzeihung hoffe ich – um der Unschuld meiner Absicht, um des Beispiels der unbescholtnen Axiothea, und um der Vortrefflichkeit des Mannes willen, der dadurch (wiewohl unwissender Weise) mein Lehrer worden ist – bereits erhalten zu haben.

Aber – darf ichs dir bekennen, mein Vater? und doch, warum sollte deine Hipparchia nicht ganz wahr, ganz offen gegen den gütigsten der Väter sein? – ob ich mir gleich nicht verbergen kann, daß ich gefehlt habe, so ist mirs doch unmöglich, mich reuen zu lassen daß es geschehen ist; und so oft ich mir Vorwürfe deswegen machen will, erhebt sich eine Stimme in mir, die mir sagt, ich habe wohl getan, ihr zu folgen. – Zürne nicht, lieber Vater, über diese anscheinende Hartnäckigkeit! Ich bin noch lange nicht am Ende meiner Geständnisse, und ich beschwöre dich auf meinen Knien, mich noch ferner mit Geduld und Nachsicht anzuhören!

Leukonoe wird nicht ermangelt haben, dir zu bestätigen, was du schon aus meinen eigenen Äußerungen abgenommen hast: daß ich nicht nur keine Neigung zu dem schönen Leotychus, sondern im Gegenteil den unbezwingbarsten Widerwillen gegen die vorgeschlagene Verbindung mit ihm fühle. Wie manches hätte ich anzuführen, um diesen Widerwillen zu rechtfertigen! Aber warum sollt ichs, da ich einen Grund, seine Bewerbung auszuschlagen, habe, der dazu ganz allein mehr als hinreichend ist? – den nämlich, daß ich meine Hand nie anders als mit meinem Herzen verschenken werde; und mein Herz kann und wird Leotychus nie gewinnen. Ich kann mich entschließen lebenslänglich Jungfrau zu bleiben, aber sein Weib zu werden, niemals, niemals!

Ich bediene mich, indem ich dies erkläre, des von deiner Billigkeit und väterlichen Huld mir zugestandnen Rechts, bei der Wahl eines Gatten immer eine verneinende Stimme zu haben. Aber ist es darum weniger dein Wille und Wunsch, mich verheiratet zu sehen? Das Weib, sagst du, ist bestimmt, Gattin und Mutter zu sein: und ich bin so sehr davon überzeugt als du selbst. Aber wie kann ich es jemals werden, wenn ich zwar den Mann, mit welchem ichs nicht werden will, verwerfen, aber den Einzigen nicht wählen darf, den ich mir zum Gatten wünsche? Irre ich, wenn ich glaube, das Recht zu wählen liege im Recht zu verwerfen eingeschlossen, und mein Herz müsse eben so frei sein als meine Hand? Mit Einem Wort, lieber Vater, mein Herz hat gewählt, und o! möchte ich so gewiß sein deine Beistimmung zu erhalten, als ichs bin, daß der Mann meiner Wahl – deiner und meiner Liebe würdig ist!

Ich schmeichle mir, du hast bereits erraten, daß es kein anderer als Krates selbst sein kann. Ja, er ists! Er allein hat mir eine so innige Verehrung, ein so unbegrenztes Zutrauen eingeflößt, daß ich ihm alles zu werden wünsche, was ein edles und gutes Weib einem Manne wie Er sein kann, Freundin, Geliebte, Gattin, Mutter seiner Kinder, Teilnehmerin seiner Lebensweise und aller seiner Freuden und Leiden, Genossin aller seiner Vorzüge, und Vertraute aller seiner Gedanken, kurz seine treue und unzertrennliche Gefährtin durch alle Schicksale des Lebens bis in den Tod.

So, lieber Vater, denke ich mir das Verhältnis einer Gattin zu ihrem Manne, so denke ich mir die Pflichten, wozu sie sich verbindlich macht: aber wehe mir, wenn mich auch nur Eine derselben an einen Mann binden sollte, dem ich mich nicht aus freier Neigung ergeben hätte!

Noch weiß Krates nichts von meiner Gesinnung gegen ihn: aber ich kann kaum zweifeln, daß mir, wenn er deinen Beifall hätte, der seinige nicht fehlen würde. Und warum, mein Vater, solltest du ihm deinen Beifall versagen? Was könnte gegen ihn einzuwenden sein? Er stammt aus einem alten Thebanischen Geschlecht, – ein Vorzug, der dir vielleicht weniger gleichgültig ist als mir. Seine Armut kann ihm nicht zum Vorwurf gereichen, denn sie ist freiwillig; er war Erbe und Herr eines großen Vermögens; und was seine Gestalt betrifft, so denke ich, wenn er mir schön genug ist, werde das, was er in diesem Stück zu viel oder zu wenig haben mag, bei dir in keine Betrachtung kommen. Alles übrige spricht laut für ihn. Es dürfte schwer sein, in der ganzen Hellas einen Mann zu finden, der dem Bilde, das uns Xenophon und Simmias von dem weisen Sokrates hinterließen, ähnlicher wäre als er. Auch wird die Urbanität seiner Sitten, und die Anmut seines Umgangs allgemein gerühmt. Möchtest du ihn doch durch dich selbst zu kennen Lust bekommen! Ich bin gewiß, sein persönlicher Wert würde dich bewegen, über alles, was nur Personen die ihn nicht kennen, oder Toren, gegen meine Wahl einwenden werden, hinaus zu gehen, und deine Hipparchia durch eine Einwilligung glücklich zu machen, ohne welche sie zwar ewig deine gehorsame Tochter, aber auch nichts anders als deine Tochter, bleiben wird.

Den 16ten Skirrophorion.


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