Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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IV.
Melanippe an Hipparchia

Ich eile dir zu melden, daß unsre ehrliche Blumenhändlerin Myrto mir diesen Morgen durch ein mit Behutsamkeit in einen großen Blumenstrauß verstecktes Briefchen zu wissen getan hat, daß sie uns ihr Gartenhäuschen zu dem bewußten Gebrauch nicht länger überlassen könne. Sie sei gewiß, sagt sie, daß wir beobachtet würden. Eine ihr wohlbekannte Sklavin aus deinem Hause sei gestern den ganzen Morgen mit unruhig hin und her flatternden Blicken um ihren Garten herumgeschlichen, als ob sie ausspähen wollte, wer hinein und heraus gehe. Mittags sei das Mädchen von einer andern, und diese abends von einer dritten, abgelöst worden; auch habe sich heute früh schon wieder eine auf der Lauer eingefunden, welche sie auf den ersten Blick für eine der gestrigen erkannt habe. Offenbar seien die Sklavinnen dazu befehligt, und wir könnten also, ohne Gefahr für sie und uns, nicht länger in ihrem Häuschen zusammen kommen. Du siehest, Liebe, wie glücklich es war, daß ich gestern verhindert wurde, dir unser gewöhnliches Zeichen zu geben. Das Sicherste wird vor der Hand sein, daß wir uns einige Tage gedulden, bis wir wieder einen schicklichen Ort zu unsrer Metamorphose ausgefunden haben. Es versteht sich, daß du dir nicht die geringste Unruhe anmerken lässest, aus- und eingehest wie gewöhnlich, und mit keiner Miene verrätst, daß etwas vorgefallen sei, das dich verdrießt. Verlaß dich indessen auf meinen bewährten Diensteifer, liebste Freundin; du kannst es mit desto vollkommnerer Zuversicht, da er nicht uneigennützig genug ist, um sehr verdienstlich zu sein.

Den 12ten Thargelion.


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