Christoph Martin Wieland
Krates und Hipparchia
Christoph Martin Wieland

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XX.
Ebendieselbe an Melanippe

Diesen Morgen ließ mich mein Vater in sein Kabinett rufen, um mir meine Verweisung auf sein Landgut zwischen Marathon und Brauron selbst anzukünden. Ich fand ihn in seinem Armstuhl sitzend, und näherte mich ihm langsam und wider meinen Willen schüchtern; denn ich hatte mir vorgesetzt heiter und ruhig zu sein. Strenger Ernst und stiller Gram hingen wie ein Gewölk um seine ehrwürdige Stirn; nur der Ton, womit er mich anredete, war sanfter als ich bei seinem ersten Anblick hoffen durfte. Nach einer ziemlich langen Pause fing er an: »Hipparchia, du gehst nach Marathon; die Luft von Athen taugt nicht länger für dich.«

Hier hielt er ein, einen Blick auf mich heftend, der mich weichherziger machte als mir lieb war.

»Hipparchia«, fing er wieder an, »wann hätt ich je gedacht, daß du, das Kind meines Herzens, das mir immer nur Freude machte, das mir so teuer war, weil dein Anblick mir immer deine Mutter in der Blüte ihres Lebens vor die Augen stellte, wann hätt ichs je für möglich gehalten, daß du mich dahin bringen würdest, mich anders als durch meinen Tod von dir zu trennen?«

Innigst gerührt ließ ich mein Gesicht auf seine Hand sinken, und er mußte fühlen, daß sie von meinen Tränen naß wurde. »O mein Vater«, rief ich sobald ich zu reden vermochte, »laß mich immer bei dir bleiben! Warum willst du deine Hipparchia verstoßen?«

Auf einmal stieg die finstere Wolke wieder über seinen Augenbraunen auf; er entzog mir seine Hand, und ich wankte etliche Schritte zurück. »Verkehrtes, unbegreifliches Mädchen! wie kannst du einen jungen Mann wie Leotychus, den Sohn meines Freundes, die anständigste und unverwerflichste Partie, die ich in ganz Attika für dich finden konnte, verschmähen, um dich einem mißgeschaffnen, grillenfängerischen, vor lauter Weisheit übergeschnappten, lumpichten Böotier an den Hals zu werfen?«

»Verzeihe, mein Vater, er ist nichts von allem diesem.«

»Der Mensch muß einen Zauber auf dich geworfen haben, Mädchen? Du bist deiner Sinne nicht mehr mächtig! Und ich sollte dich, nach der wahnsinnigen Erklärung, die du mir getan hast, noch länger in seiner Gewalt lassen?«

»Er kennt mich nicht einmal, mein Vater, er weiß nicht –«

»Wie? (fiel er mir in die Rede) Du erfrechest dich mir zu sagen, er kenne dich nicht, und du bist, deinem eigenen Geständnis nach, seit vier Monaten beinahe alle Tage mit ihm zusammen gekommen!«

»Seit dem 6ten Thargelion nicht wieder, und vorher in einen Jüngling verkleidet, wie ich dir in meinem Briefe gestanden habe. Er kannte mich nie als Hipparchia.«

»Also itzt wenigstens kennt er dich, als das was du bist!«

Ich erblaßte über meine Unvorsichtigkeit.

»Unglückliche«, rief er mit einem Blick der mich zittern machte, »du gebrauchst Kunstgriffe gegen deinen Vater?«

»O lieber Vater, denke nicht so wegwerfend von deinem Kinde! Ich erblaßte nicht aus der schnöden Ursache die du argwohnst. Ich schwöre dir bei der heiligen Athene, Krates hat mich nie als Hipparchia gesehen noch gesprochen. Er weiß nichts von meiner Neigung, und ist weit entfernt sie zu erwidern.«

»Und das hoffst du mich glauben zu machen?«

»Glaub es deinen Augen«, rief ich, vom schmerzlichsten Gefühl des Unrechts, das ihm und mir zugefügt wurde, überwältigt, indem ich seinen Brief aus dem Busen hervorzog, und meinem Vater überreichte.

»Was soll mir das?« fragte er.

»Es ist die Antwort, die ich von Krates auf den ersten und einzigen Brief erhielt, den ich an ihn geschrieben habe.«

»Du schriebst also zuerst an ihn?«

»Um mir über meinen Fall mit Leotychus seinen Rat auszubitten.«

»Und was riet er dir?«

»Meinem Vater ohne Weigerung zu gehorchen.«

Lamprokles schien verwundert und verlegen. Er überlas den Brief, erst flüchtig, dann an einigen Stellen langsamer, wiegte den Kopf (wie er zu tun pflegt, wenn ihm etwas bedenklich oder unglaublich vorkommt) und schwieg eine gute Weile. Ich stand in verwirrter Erwartung, nachsinnend und ungewiß, ob ich recht oder unrecht getan ihm den Brief zu geben.

»Hipparchia«, sagte endlich mein Vater, nachdem er bis zum Schluß des Briefs gekommen war, »du kannst nichts bessers tun als dem Rat dieses Krates zu folgen, der wenigstens ein ehrlicher Mann zu sein scheint.«

»Ich wünsche ihm folgen, ich wünsche dir gehorchen zu können, mein Vater; aber ich fürchte, es ist mehr als in meinem Vermögen steht.«

»Albernheit, Albernheit!« rief er, »unwürdig einer Tochter, die immer so verständig war!«

»Das Herz, lieber Vater, ist nicht immer in unsrer Gewalt.«

»Das ist nicht die Meinung deines Philosophen! – Gut! Ich will dir Zeit zum Besinnen lassen – drei, vier Dekaden, noch mehr, wenn es sein muß. Der stille einsame Aufenthalt auf meinem Gut bei Marathon schickt sich ganz dazu, dich wieder zu dir selbst zu bringen, und die Harmonie zwischen deinen Neigungen und Pflichten wieder herzustellen. Gehe, Hipparchia«, setzte er hinzu, indem er von seinem Sitz aufstand, – »in kurzem hoffe ich dich unter einem fröhlichem Gestirn wiederzusehen«; und damit schlüpfte er eilends in sein Schlafzimmer, und schloß die Tür hinter sich.
 

Ich stand noch einige Augenblicke wie verblüfft, und nun erst merkte ich, daß er meinen Brief mit sich genommen hatte. Warum, wozu tat er das?

Meine Gedanken liefen hin und her. Zuletzt schien es mir, meine Übereilung könnte doch eher gute als nachteilige Folgen haben, und ich wurde ruhiger, indem ich dieser Vorstellung nachhing.

Alles war zur Abreise fertig. Ich wollte noch von meiner Tante Abschied nehmen, aber sie war diesen Morgen in aller Frühe nach Munychia abgegangen. Sie will mich fühlen lassen, wie ungehalten sie auf mich ist: aber vor ihrer ungebetenen Tätigkeit werd ich mich darum nicht weniger zu fürchten haben.

Ich bin nun auf dem Gut bei Marathon angekommen. Das Haus ist ansehnlich und bequem, mit den schönsten Ahornen und großen Pflanzungen fruchtbarer Bäume aller Arten umgeben. Die Landschaft ist eine der anmutigsten in Attika. Aber ich bin allein, und, (wie Lesbia von der alten Krobyle gehört hat) es soll mir nicht erlaubt sein, weder Besuche zu geben noch anzunehmen. Da ich zu weit von dir entfernt bin, um einen Besuch von dir hoffen zu können, so ist mir diese Einschränkung sehr gleichgültig; desto mehr werde ich mich mit meinen eigenen Gedanken unterhalten. Es fehlt mir nicht an Büchern, und das große göttliche Buch, worin ich am liebsten lese, liegt überall, wo ich hinblicke, vor mir aufgeschlagen. Die Lehren, die ich daraus ziehe, sind der Absicht, weswegen man mich hieher verbannt hat, nicht sehr förderlich. Mir fehlt hier nichts als du und Krates, oder auch, im Notfall, Krates allein, um mich, bei dem geringsten Anteil von allem andern was zum menschlichen Leben gehört, für das glücklichste aller Wesen zu halten.

In Ermanglung deiner selbst, liebste Melanippe, sind itzt deine Briefe ein sehr dringendes Bedürfnis für mich: denn mir ist nur gar zu oft, als ob du noch der einzige Faden seiest, an dem ich mit der Welt zusammen hange.

Den 21sten Skirrophorion.


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