Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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35

Am Tag nach dem Begräbnis war die Premiere von »Irydion«. Am Tag nach dem Begräbnis floh Manja. Das Blatt der Boubiček, das »Divadlo«, nannte sie nicht, doch es gab zu verstehen, eine Musikerin von starkem Talent sei unter tragischen Familienverhältnissen mit dem Komponisten Stefan Felinski ins Ausland gereist. Schandera kündigte zum Herbst die Wohnung. Die Krankheit Eriks und die Ljubas hatten erschreckende Summen gekostet; das war, bei aller Großartigkeit, mit der Dr. Geyer von jeder Liquidation absah, die ziffernmäßige Schicksalsbilanz. Nicht einen Tag bevor diese Schuld getilgt war, durfte Schandera desertieren. Der Hofrat Melichar schrieb ihm aus der Statthalterei, nach einer Versicherung des Beileids, er werde in der politischen Krise der nächsten Monate unentbehrlich sein. Im April wurde der Reichsrat aufgelöst. Die neue Partei war begründet. Unter ihren Kapazitäten, wenn auch nicht unter ihren Wahlbewerbern, sagte sie den Professor Schandera an.

Er fuhr mit dem Kandidaten für das Mandat des Abgeordneten Zapletal, dem Konrektor Emilian Hollec, dem in seinen Lehrbüchern schwarzgelben Historiker, nach Jitschin, der Stadt in der Ebene vor dem Riesengebirge. In der Dämmerung, als die Laternen angesteckt wurden, sah er den Ringplatz, die Jakobikirche, das Wallensteinschloß; und dann nur noch die Husgasse mit dem Valdicer Schanztor und das Eckgebäude des Hotels Praha. In dem Saal für Hochzeitsgesellschaften und Bälle war die Sitzung eines Wahlkomitees; Beamte der Bezirkshauptmannschaft und der Finanzdirektion, der 225 Kreisrichter, Fabrikanten, Reste der alttschechischen Partei, Lehrer des Gymnasiums und der Staatsrealschule. Schanderas Referat betraf die Erweiterung der nationalen Autonomie. Die Worte zerfielen ihm im Munde, es schien ihm nicht mehr möglich, im Zusammenhang zu reden. Er brach ab und entschuldigte sich mit körperlicher Übelkeit. Vierzig Kleinbürgergesichter glotzten ihm durch den Rauch nach, als er sein Glas umwarf und an der Toilette vorbei in das Zimmer Nummer sechs hinaufging.

Die Nacht war die erste außerhalb der Wohnung seit Ljubas Tod. Aber Ljuba war in seinem Wachen und seinen gehetzten Träumen, so tyrannisch, daß er nach Eriks Bild umsonst sich sehnte. Ihre Augen starrten ihn an wie die einer Lebenden; er wich ihnen aus und mußte dennoch mit seinem Blick in sie zurückkehren. Sie schloß sie, grau lag sie in den Kissen. Er schob ihr die Karaffe mit dem schalen Wasser hin, von dem er getrunken hatte; er hielt den Atem an, um ihren Atem nicht zu stören. Seine Uhr zeigte zehn, er hatte das Aufziehen vergessen, denn schon war der Morgen da.

Mit der Lokalbahn mußte Schandera weiter nach Turnau. Wieder ein Markt, ein Rathaus, eine Bezirkshauptmannschaft, ein Bezirksgericht, ein Steuerinspektorat, ein Eichamt, ein Gendarmerieposten, eine städtische Sparkassa, eine landwirtschaftliche Vorschußkassa, wieder ein Restaurant, Bier und Speisen, stumpfe, aufgeschwemmte Wählergesichter, die zersetzten Phrasen der Politik. Und wieder das nächtliche Alleinsein mit Ljuba. Dann ein Vormittag bei einem der Kapitalisten des Orts, in einer Fabrik von Transmissionseilen aus Hanf, Manila 226 und imprägnierter Baumwolle, von Paternostergurten, Sisalgarn und Jutegarn. In einer Schleiferei von unechter Bijouterie kaufte Schandera ein Geschenk für Ljuba, eine Kette. Im einsamen Stadtpark schleuderte er sie von sich. Er eilte zum Bahnhof, alles war nur noch eine sinnlose Flucht.

Er wurde gezwungen, in Prag selbst sich zu betätigen. Der Abgeordnete von Königinhof, Krninsky, der neue Danton, war durch den Verdacht von Geschäftsschiebungen kompromittiert. In der Brauerei an der Moldau, dem bisherigen Standquartier der Sozialisten, hielten seine Freunde eine Volksversammlung ab; in der »Slavia« die Sozialisten eine andere. Schandera hatte in der Bräuhauswirtschaft einen Platz nahe der knarrenden, durch das Drängen der Hunderte auffliegenden Seitentür. Droben, an einem der langen Tische, saß in nervöser Spannung der Polizeikommissär Okoun. Schon als Hruban redete, beobachtete Schandera die Ankunft Krninskys; die gewellte Locke flatterte ihm von der Stirn, die Zähne blitzten ihm unter dem seidigen Schnurrbart. Es war der Trick des neuen Danton, sich zu verspäten; ihn wandte er auch heute an. Plötzlich winkte er der Versammlung zu, plötzlich gellte seine Stimme. »Die Tendenz meiner Ankläger ist«, rief er, »die Wahrheit zu beugen. Der Ausschuß hat Suggestivfragen gestellt. Wohl gab es ein Konto auf meinen Namen, nie jedoch habe ich für mich auch nur einen Heller davon abdisponiert. Ich habe von der Industria einen Betrag für meine Druckanstalt empfangen.« Unhörbar war, was folgte, in dem Tumult der Gegner. »Eine Million«, schrieen sie, »wie habt ihr den Gewinn verteilt?« Bis Krninskys 227 Stimme darüber hinwegschallte: »Keine Partei hat genügende Summen aus den Zahlungen ihrer Mitglieder, zwei Drittel ihres Bedarfs müssen sich alle Parteien anderswie beschaffen, das weiß ein jeder. Die Satalitzer Kohle für Prag ist Gegenstand eines Gerichtsverfahrens. Die wichtigsten Zeugen haben gelogen und lügen. Man hat mich für einen Paralytiker erklärt, jetzt will man mich ins Kriminal bringen. Wer aber verbirgt sich hinter diesen Machenschaften? Wer hat ein Interesse daran, die große oppositionelle Bewegung des Volks in die Irre zu leiten? Sehen Sie um sich, sieh um dich, Volk, sieh die Gesichter der Verräter! Höre, was er dir zu sagen hat, der Professor Schandera!«

Das Furchtbare wiederholte sich; nur es geschah nicht im Weinberger Národni Dum, und Ljuba waren tot und Erik. Hrubans Faust schwang die Glocke. Schandera stützte sich auf seinen Stuhl. »Ich spreche heute«, begann er schnell, »zum ersten Mal nach vielen Jahren.« Die Menge überfiel ihn wie eben noch Krninsky. »Rakousak«, schrie sie, »Österreicher! Kreatur der Wiener Regierung!« Der Polizeikommissär Okoun hatte den langen Tisch verlassen. Mit letzter Kraft wehrte sich Schandera. »Ich verteidige mich nicht vor euch, ich will nichts von euch, ihr würdet es nie begreifen. Aber einmal werden diejenigen, die meine menschliche Niederlage so ausnutzten, sich in der Tiefe ihrer Seele schämen.« Es wurde still, als er zur Tür schritt, in den Vorraum mit den Redoutenplakaten vom Winter her, und schon kamen aus dem Saal Krninskys bellendes Falsett, tobendes Kreischen, tobendes Pfeifen. In den Moldauwiesen verkrochen sich die Somráci, die Zuhälter und Diebe, und die 228 Prostituierten vor einer Razzia, deren Vortrupp schon an der Belvederegasse war.

In derselben zweiten Maiwoche wurde gemeldet, daß der Konfident Sadovsky, auch Slaviček oder Lisy genannt, vermißt werde. Dann fand man ihn in einer einstöckigen Baracke hinter dem Franzenskai, in der Sackgasse gegenüber dem Bordell Napoleon. Die Beine waren nach dem Polizeibericht in eine schwarze, um die Knie verknotete Decke gewickelt; den Hals umschnürte eine Schlinge. Nur die Kleidung des Toten, ein schon schäbiger Sportanzug, war in seinem Zimmer, ohne seinen Hut und seine Schuhe. In einer Tasche hatte er einen Gepäckschein der Franz-Josefs-Bahn mit dem Datum des zehnten März und der Ziffer eines dort vergessenen Koffers. Der Koffer wurde beschlagnahmt. Der Polizeirat Remplik zitierte die Geliebte Sadovskys, die Trafikantin Zelnikova; sie wies nach, daß er seit Monaten ohne Verbindung mit ihr gewesen sei, da sie einen älteren Herrn habe heiraten wollen. Der Eigentümer des Hauses in der Sackgasse, ein Hökler am Ziegenplatz, ein Verschleißer von Limonade in Flaschen, hatte nie etwas von seinem Mieter gewußt; nur die Portierfrau, die Bedienerin Chochoulouška, kannte ihn. Um Mord handelte es sich nach den Gutachten des Gerichtschemikers und des Gerichtsarztes.

Man vermutete Rache der Zelnikova; sie wurde verhaftet und enthaftet. Man forschte Personen aus, die Sadovsky erpreßt hatte; keine der Spuren führte zu einem Ziel. Man ermittelte, daß er von Terroristen abgestraft worden sei. Aussagen von Gästen des Napoleon wurden protokolliert, drei Menschen, einer in dunklem Paletot, 229 zwei in Jacke und buntem Hemd, hätten ihn vor etwa acht Nächten über den Franzenskai begleitet; einer habe sich eine Stunde am Bethlehemsplatz herumgetrieben und sei dann zitternd fortgelaufen. Die Fahndung auf diese drei Menschen blieb ergebnislos. Über den Koffer Sadovskys und das, was er enthalten hatte, wurde nichts verlautbart. Nur ein Abendblatt veröffentlichte nebeneinander Faksimiles von Quittungen des Tersch oder Dr. Tersch über Honorare von achthundert und von vierzehnhundert Kronen und von Briefen Sadovskys an die Zelnikova. Es war eine zum mindesten ähnliche Schrift.

Schandera streifte, entstellt durch seine blaue Brille, um die Sackgasse am Franzenskai. Der Mieter des Zimmers, das die Polizei nach dem Mord gesperrt hatte, war jetzt ein Maurermeister, der Baugerät darin aufbewahrte. Es hatte einen schmutzigen Rokokoplafond mit Putten, die vor einer Venus knieten; oder vielmehr die Hälfte eines Plafonds, denn die andere war durch verfaulte Balken abgetrennt. Schandera fragte die Chochoulouska nach dem Maurer. Er griff nach Papier, das zwischen die Bohlen am Fenster gestopft war, hastig, als könnten es Briefschaften von Sadovsky her sein. Am Kai zerriß er es und streute es, murmelnd und schluchzend, auf das Pflaster in immer kleineren Stücken.

 


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